Vor 40 Jahren veröffentlichte Arno Schmidt sein wichtigstes Werk, Zettel's Traum: 1334 DIN-A-3-Seiten stark, über zehn Kilogramm schwer und als Faksimile vervielfältigt. Schmidts eigene Befürchtung - »Es wird sich nicht mehr setzen lassen« - hatte sich bewahrheitet. Vor dem komplexen Layout des dreispaltigen Romans mit seinen zahlreichen Randglossen kapitulierten Setzerei und Verlag.Nun endlich erscheint Zettel's Traum, das Werk, das Arno Schmidt auf einen Schlag berühmt machte, als gesetztes Buch. Jahrelange Arbeit von Setzern, Editoren und Korrektoren war nötig, um einen lesefreundlichen Schriftsatz herzustellen, ohne den Charakter des »Überbuchs« (Arno Schmidt) zu verändern und seine Eigenheiten zu glätten.Mit dieser Ausgabe gilt es, einen Riesenroman neu zu entdecken: Er erzählt die Liebesgeschichte zwischen dem alternden Schriftsteller Daniel Pagenstecher und der sechzehnjährigen Franziska Jacobi und von Leben und Werk Edgar Allan Poes. Er entwirft eine eigene Literaturtheorie in der Nachfolge Sigmund Freuds und entwickelt wie nebenbei eine neue Rechtschreibung, die zum Beispiel die wahren Eigenschaften eines »Pleas'-see=Rocks« enthüllt. In Zettels' Traum finden Arno Schmidts Bemühungen um eine moderne Prosaform und eine angemessene sprachliche Abbildung des menschlichen Bewusstseins ihren vorläufigen Höhepunkt.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.2010Die Welt ist groß genug, dass wir alle darin Unrecht haben können
Editorische Meisterleistung: Seit vierzig Jahren wird "Zettel's Traum" als Faksimile verlegt, mit allen Korrekturen und Ergänzungen. Jetzt erscheint Arno Schmidts Hauptwerk als richtiges Buch.
Von Tilman Spreckelsen
Gründe dafür, Arno Schmidts Riesenroman "Zettel's Traum" nicht zu lesen, gibt es genug: Die komplette Lektüre ist eine Arbeit von Wochen, wenn nicht von Monaten. Für den Preis noch der günstigsten Ausgabe wären sämtliche Finalisten des Deutschen Buchpreises zu haben. Ferner: Ist über den 1970 erschienenen Roman nicht längst die Zeit hinweggegangen? Und muss einer eigentlich so schreiben, dass jedes Rechtschreibprüfprogramm den Text in ein einziges Rot tauchen würde: "nur 2 abstracte Genossn hat er noch, ,Place & Time' - (: ? - : nu ,play & cloac'!)"?
Wer so fragt, befindet sich im empirisch ermittelten Modell der individuellen Arno-Schmidt-Leserschaft in Phase 1, vielleicht auch schon in Phase 3: Die erste gehört der vorsichtigen Annäherung an den Autor, vorzugsweise vom Leichten zum Schweren. Man fängt also etwa mit Schmidts Zeitungsarbeiten oder den kleinen Erzählungen an, vielleicht auch mit den frühen Romanen "Leviathan" oder "Brand's Heide" und begeistert sich an einer Sprache, die auf exakte Weltabbildung zielt, aber erfreulicherweise nie die nächste Pointe aus den Augen lässt. Es folgt Phase 2, die von Anhängerschaft gezeichnet ist und zu einer wachsenden Vertrautheit mit jedem Satz führt, den Arno Schmidt je veröffentlicht hat. Das allerdings ebnet den Weg in Phase 3, den Überdruss: Die "wiederholungsfreie Fülle" der sprachlichen Äußerung, die einer seiner Helden für sich in Anspruch nimmt, gilt für den Autor ganz sicher nicht, manche seiner Witze riechen mittlerweile ranzig, das ewige Backenaufblasen seiner Erzähler ermüdet - und dann erst die unangenehmen Besserwisser unter den Schmidt-Lesern aus Phase 2!
Für viele war es das dann mit Arno Schmidt. Glücklich, wer trotzdem die vierte Phase erreicht, die des entspannten, amüsierten Wiederlesens. "Die Welt ist groß genug, dass wir alle darin Unrecht haben können", schreibt Schmidt einmal irgendwo. Und wer wollte ihm da widersprechen?
Wer so denkt, ist reif für "Zettel's Traum", Arno Schmidts erklärtes Opus Magnum in acht Büchern, das im Frühjahr 1970 erschien und insgesamt etwa ein Viertel des Gesamtwerks Schmidts bildet. Die äußere Handlung umfasst vierundzwanzig Sommerstunden und ist so schlicht wie die innere kompliziert. Der eremitenhaft im südlichen Niedersachsen lebende Ex-Schriftsteller und Privatgelehrte Daniel ("Dän") Pagenstecher bekommt Besuch von dem befreundeten Übersetzerpaar Paul und Wilma Jacobi sowie deren sechzehnjähriger Tochter Franziska. Man spricht über Edgar Allan Poe, dessen Werke Paul und Wilma gerade ins Deutsche übertragen. Daniel versucht, ihnen seine "Etym"-Theorie näherzubringen, der zufolge sich im Klang und in der Schreibweise von Worten ein verborgener Sinn manifestiere. Während zwischen ihm und Franziska eine besondere Vertrautheit besteht und Paul vor seiner dominanten Gattin Trost im Alkohol sucht, lässt Wilma keine Gelegenheit aus, Franziska herunterzuputzen. Daniel erfährt schließlich, dass Franziska die Schule verlassen soll, um eine Lehre als Schuhverkäuferin zu beginnen. Einige Spaziergänge und Gespräche später erklärt Daniel sich bereit, Franziskas Ausbildung zu finanzieren, unter der Bedingung, dass sie ihn niemals mehr besuchen wird. Schließlich drückt er sich vor dem Abschied im Morgengrauen des nächsten Tages, beobachtet aber den Aufbruch der Jaobis genau, unter heftigen Selbstanklagen: ",Hau ab Kerl ! : in Deine WahnWeltn !' Oder: ,Hock doch ein in Dein verwünschtes FrazznHaus, Spinner ! : MondscheinMensch !' Auch: ,Geh lieber ma zu'm Arzt, armis Schwein ! Am bestn gleich zu Mehreren.'"
Solche Stellen machen "Zettel's Traum" zum Solitär - Passagen, die Kodderschnauze und weiches Herz des Erzählers gleichermaßen abbilden und auch in ihrer Orthographie ein Element von Sprunghaftigkeit offenbaren, das als Dauerreibefläche den Leser vor jeder flüchtigen Rezeption bewahrt. Einlesen aber wird man sich müssen, und das nicht zu knapp, auch wenn sich der Diskurs unter den Romanfiguren mitunter als überraschend schlicht offenbart.
Bislang ist das Buch, dessen Text über drei jeweils eigenen Erzählebenen gewidmeten Spalten mäandert, so publiziert worden, wie es die Schreibmaschine des Autors verlassen hat: Schmidt hielt sein Typoskript für nicht adäquat zu setzen, und so entspricht die seither in verschiedenen Ausgaben und insgesamt etwa 20 000 Exemplaren verbreitete Fassung einem Faksimile, das sämtliche Ausstreichungen und oft mit winzigem Bleistift notierte Verbesserungen des Autors getreu bewahrt. Ein work in progress also, was zum einen die Lesbarkeit minderte, zum anderen aber natürlich zur Aura des geheimnisvollen, alle Kategorien sprengenden Buches beitrug.
Muss das so sein? Offensichtlich nicht, denn die drei Romane, die "Zettel's Traum" noch folgten, bis Schmidt 1979 gestorben ist, wurden in den vergangenen Jahrzehnten durch den Typographen Friedrich Forssman erstmals gesetzt und damit einer Behandlung unterzogen, wie sie jetzt auch dem Großroman zuteil geworden ist. Schon am Beispiel von "Die Schule der Atheisten", "Abend mit Goldrand" und "Julia" also zeigte sich, dass die Typoskriptgestalt der späten Romane eben nicht schicksalhaft vorgegeben, sondern aus der damaligen Not geboren war.
Allerdings ist "Zettel's Traum" schon aufgrund des schieren Umfangs ein anderes Kaliber - erst jetzt, vierzig Jahre nach dem Erstdruck des Faksimiles, liegt es als gesetztes Buch vor. In einem "Editorischen Nachbericht" listet die Herausgeberin Susanne Fischer getreulich auf, wo sie in das Typoskript eingegriffen hat, um etwaige Tippfehler Schmidts zu korrigieren. Bleistiftanmerkungen wurden in den Text überführt, Streichungen als Streichungen behandelt und nunmehr unsichtbar gemacht, eingeklebte Bilder und Zeichnungen neuerlich an die vorgesehene Stelle gebracht. All dies ist tadellos und dient dem Leser mit diskreter Effizienz. Und an der einen Stelle, wo man einen riesigen schwarzen Block im Text nicht missen möchte, dort nämlich, wo Daniel Pagenstecher einen Herzinfarkt erleidet und dem Tod unmittelbar ins Auge blickt (Seite 752 der alten Fassung und Seite 793 der neuen), dort also findet sich auch in der gesetzten Ausgabe ein schwarzer Kasten als memento mori. Das ist weder eigenmächtig noch inkonsequent: Anders als bei allen übrigen Schwärzungen ist hier hinter der Farbe kein eliminierter Text verborgen - das dunkle Rechteck steht also offenbar im Text, weil es genau dort stehen soll. Und markiert so eine der unheimlichsten Stellen des gesamten Romans.
Stolpersteine gibt es also genug in "Zettel's Traum", im Typoskript wie in der gesetzten Ausgabe. Das betrifft nicht zuletzt die Liebesgeschichte zwischen Daniel Pagenstecher und der ihn anhimmelnden Franziska, die man rührend oder albern finden mag, manchmal beides zugleich. Und man wird dort, durch frühere Schmidt-Lektüre zur Wachsamkeit erzogen, nach einem Verweissystem auf andere Texte suchen. ",WirsDu verschwiegn sein?' / ,Wie ein Fisch'chin!' (rief Sie begeistert) : ,Such Du schon immer aus - : Was De Mir dann, abmds, im Winter, vorliest : ach, Unser liebes=kleines=vertrauliches Haus!'" Meint der Autor, meint Franziska das so? Ist das ein albernes Zitat aus einem Rührstück um 1800 (Schmidt kannte sich da bestens aus)? Legt Schmidt das Franziska in den Mund, oder zitiert das Mädchen da etwas, das sich auch Daniel sofort als Zitat erschließt, womöglich aufgrund gemeinsamer Lektüre? Oder geht man mit derlei dem Autor nur umso gehöriger auf den Leim? "Satan dociert aus Dir", sagt Wilma einmal zu Daniel, und selten war man so auf ihrer Seite wie hier.
"Mit diesem Band ist die Bargfelder Ausgabe der Werke Arno Schmidts abgeschlossen", heißt es im Prospekt, der jetzt "Zettel's Traum" ankündigt - was für ein bescheidener, was für ein stolzer Satz. Grund genug, eine fünfundzwanzigjährige philologische Arbeit zu würdigen, die mit dieser editorischen und typographischen Meisterleistung einen fulminanten Schlusspunkt setzt.
Arno Schmidt: "Zettel's Traum". Herausgegeben von Susanne Fischer und Bernd Rauschenbach. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 1513 S., br., 198 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Editorische Meisterleistung: Seit vierzig Jahren wird "Zettel's Traum" als Faksimile verlegt, mit allen Korrekturen und Ergänzungen. Jetzt erscheint Arno Schmidts Hauptwerk als richtiges Buch.
Von Tilman Spreckelsen
Gründe dafür, Arno Schmidts Riesenroman "Zettel's Traum" nicht zu lesen, gibt es genug: Die komplette Lektüre ist eine Arbeit von Wochen, wenn nicht von Monaten. Für den Preis noch der günstigsten Ausgabe wären sämtliche Finalisten des Deutschen Buchpreises zu haben. Ferner: Ist über den 1970 erschienenen Roman nicht längst die Zeit hinweggegangen? Und muss einer eigentlich so schreiben, dass jedes Rechtschreibprüfprogramm den Text in ein einziges Rot tauchen würde: "nur 2 abstracte Genossn hat er noch, ,Place & Time' - (: ? - : nu ,play & cloac'!)"?
Wer so fragt, befindet sich im empirisch ermittelten Modell der individuellen Arno-Schmidt-Leserschaft in Phase 1, vielleicht auch schon in Phase 3: Die erste gehört der vorsichtigen Annäherung an den Autor, vorzugsweise vom Leichten zum Schweren. Man fängt also etwa mit Schmidts Zeitungsarbeiten oder den kleinen Erzählungen an, vielleicht auch mit den frühen Romanen "Leviathan" oder "Brand's Heide" und begeistert sich an einer Sprache, die auf exakte Weltabbildung zielt, aber erfreulicherweise nie die nächste Pointe aus den Augen lässt. Es folgt Phase 2, die von Anhängerschaft gezeichnet ist und zu einer wachsenden Vertrautheit mit jedem Satz führt, den Arno Schmidt je veröffentlicht hat. Das allerdings ebnet den Weg in Phase 3, den Überdruss: Die "wiederholungsfreie Fülle" der sprachlichen Äußerung, die einer seiner Helden für sich in Anspruch nimmt, gilt für den Autor ganz sicher nicht, manche seiner Witze riechen mittlerweile ranzig, das ewige Backenaufblasen seiner Erzähler ermüdet - und dann erst die unangenehmen Besserwisser unter den Schmidt-Lesern aus Phase 2!
Für viele war es das dann mit Arno Schmidt. Glücklich, wer trotzdem die vierte Phase erreicht, die des entspannten, amüsierten Wiederlesens. "Die Welt ist groß genug, dass wir alle darin Unrecht haben können", schreibt Schmidt einmal irgendwo. Und wer wollte ihm da widersprechen?
Wer so denkt, ist reif für "Zettel's Traum", Arno Schmidts erklärtes Opus Magnum in acht Büchern, das im Frühjahr 1970 erschien und insgesamt etwa ein Viertel des Gesamtwerks Schmidts bildet. Die äußere Handlung umfasst vierundzwanzig Sommerstunden und ist so schlicht wie die innere kompliziert. Der eremitenhaft im südlichen Niedersachsen lebende Ex-Schriftsteller und Privatgelehrte Daniel ("Dän") Pagenstecher bekommt Besuch von dem befreundeten Übersetzerpaar Paul und Wilma Jacobi sowie deren sechzehnjähriger Tochter Franziska. Man spricht über Edgar Allan Poe, dessen Werke Paul und Wilma gerade ins Deutsche übertragen. Daniel versucht, ihnen seine "Etym"-Theorie näherzubringen, der zufolge sich im Klang und in der Schreibweise von Worten ein verborgener Sinn manifestiere. Während zwischen ihm und Franziska eine besondere Vertrautheit besteht und Paul vor seiner dominanten Gattin Trost im Alkohol sucht, lässt Wilma keine Gelegenheit aus, Franziska herunterzuputzen. Daniel erfährt schließlich, dass Franziska die Schule verlassen soll, um eine Lehre als Schuhverkäuferin zu beginnen. Einige Spaziergänge und Gespräche später erklärt Daniel sich bereit, Franziskas Ausbildung zu finanzieren, unter der Bedingung, dass sie ihn niemals mehr besuchen wird. Schließlich drückt er sich vor dem Abschied im Morgengrauen des nächsten Tages, beobachtet aber den Aufbruch der Jaobis genau, unter heftigen Selbstanklagen: ",Hau ab Kerl ! : in Deine WahnWeltn !' Oder: ,Hock doch ein in Dein verwünschtes FrazznHaus, Spinner ! : MondscheinMensch !' Auch: ,Geh lieber ma zu'm Arzt, armis Schwein ! Am bestn gleich zu Mehreren.'"
Solche Stellen machen "Zettel's Traum" zum Solitär - Passagen, die Kodderschnauze und weiches Herz des Erzählers gleichermaßen abbilden und auch in ihrer Orthographie ein Element von Sprunghaftigkeit offenbaren, das als Dauerreibefläche den Leser vor jeder flüchtigen Rezeption bewahrt. Einlesen aber wird man sich müssen, und das nicht zu knapp, auch wenn sich der Diskurs unter den Romanfiguren mitunter als überraschend schlicht offenbart.
Bislang ist das Buch, dessen Text über drei jeweils eigenen Erzählebenen gewidmeten Spalten mäandert, so publiziert worden, wie es die Schreibmaschine des Autors verlassen hat: Schmidt hielt sein Typoskript für nicht adäquat zu setzen, und so entspricht die seither in verschiedenen Ausgaben und insgesamt etwa 20 000 Exemplaren verbreitete Fassung einem Faksimile, das sämtliche Ausstreichungen und oft mit winzigem Bleistift notierte Verbesserungen des Autors getreu bewahrt. Ein work in progress also, was zum einen die Lesbarkeit minderte, zum anderen aber natürlich zur Aura des geheimnisvollen, alle Kategorien sprengenden Buches beitrug.
Muss das so sein? Offensichtlich nicht, denn die drei Romane, die "Zettel's Traum" noch folgten, bis Schmidt 1979 gestorben ist, wurden in den vergangenen Jahrzehnten durch den Typographen Friedrich Forssman erstmals gesetzt und damit einer Behandlung unterzogen, wie sie jetzt auch dem Großroman zuteil geworden ist. Schon am Beispiel von "Die Schule der Atheisten", "Abend mit Goldrand" und "Julia" also zeigte sich, dass die Typoskriptgestalt der späten Romane eben nicht schicksalhaft vorgegeben, sondern aus der damaligen Not geboren war.
Allerdings ist "Zettel's Traum" schon aufgrund des schieren Umfangs ein anderes Kaliber - erst jetzt, vierzig Jahre nach dem Erstdruck des Faksimiles, liegt es als gesetztes Buch vor. In einem "Editorischen Nachbericht" listet die Herausgeberin Susanne Fischer getreulich auf, wo sie in das Typoskript eingegriffen hat, um etwaige Tippfehler Schmidts zu korrigieren. Bleistiftanmerkungen wurden in den Text überführt, Streichungen als Streichungen behandelt und nunmehr unsichtbar gemacht, eingeklebte Bilder und Zeichnungen neuerlich an die vorgesehene Stelle gebracht. All dies ist tadellos und dient dem Leser mit diskreter Effizienz. Und an der einen Stelle, wo man einen riesigen schwarzen Block im Text nicht missen möchte, dort nämlich, wo Daniel Pagenstecher einen Herzinfarkt erleidet und dem Tod unmittelbar ins Auge blickt (Seite 752 der alten Fassung und Seite 793 der neuen), dort also findet sich auch in der gesetzten Ausgabe ein schwarzer Kasten als memento mori. Das ist weder eigenmächtig noch inkonsequent: Anders als bei allen übrigen Schwärzungen ist hier hinter der Farbe kein eliminierter Text verborgen - das dunkle Rechteck steht also offenbar im Text, weil es genau dort stehen soll. Und markiert so eine der unheimlichsten Stellen des gesamten Romans.
Stolpersteine gibt es also genug in "Zettel's Traum", im Typoskript wie in der gesetzten Ausgabe. Das betrifft nicht zuletzt die Liebesgeschichte zwischen Daniel Pagenstecher und der ihn anhimmelnden Franziska, die man rührend oder albern finden mag, manchmal beides zugleich. Und man wird dort, durch frühere Schmidt-Lektüre zur Wachsamkeit erzogen, nach einem Verweissystem auf andere Texte suchen. ",WirsDu verschwiegn sein?' / ,Wie ein Fisch'chin!' (rief Sie begeistert) : ,Such Du schon immer aus - : Was De Mir dann, abmds, im Winter, vorliest : ach, Unser liebes=kleines=vertrauliches Haus!'" Meint der Autor, meint Franziska das so? Ist das ein albernes Zitat aus einem Rührstück um 1800 (Schmidt kannte sich da bestens aus)? Legt Schmidt das Franziska in den Mund, oder zitiert das Mädchen da etwas, das sich auch Daniel sofort als Zitat erschließt, womöglich aufgrund gemeinsamer Lektüre? Oder geht man mit derlei dem Autor nur umso gehöriger auf den Leim? "Satan dociert aus Dir", sagt Wilma einmal zu Daniel, und selten war man so auf ihrer Seite wie hier.
"Mit diesem Band ist die Bargfelder Ausgabe der Werke Arno Schmidts abgeschlossen", heißt es im Prospekt, der jetzt "Zettel's Traum" ankündigt - was für ein bescheidener, was für ein stolzer Satz. Grund genug, eine fünfundzwanzigjährige philologische Arbeit zu würdigen, die mit dieser editorischen und typographischen Meisterleistung einen fulminanten Schlusspunkt setzt.
Arno Schmidt: "Zettel's Traum". Herausgegeben von Susanne Fischer und Bernd Rauschenbach. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 1513 S., br., 198 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.01.2011Die Amfibolien im Gehirn des Wirtstiers
„Hau ab Kerl ! in Deine WahnWeltn !“: Arno Schmidts Monumentalwerk „Zettel’s Traum“, erstmals nach allen Regeln der Typographie gesetzt
In den siebziger Jahren war die letzte Seite der Süddeutschen Zeitung am Samstag eine ausgesprochene Witzseite. Da fanden sich unter anderem Wortspiele und aphoristische Kalauer, und ein schönes Beispiel dafür lautete: „Zettel’s Traum: gelesen zu werden!“ Das war der Beweis dafür, dass es der Titel des soeben erschienenen Hauptwerks von Arno Schmidt gleich zu einem sprichwörtlichen, quasi volkstümlichen Charakter gebracht hatte. Die erste Auflage von 2000 Exemplaren war trotz des horrenden Preises von 298 DM, trotz des ungewöhnlichen Formats der 1334 Seiten und trotz der gewöhnungsbedürftigen faksimilierten Wiedergabe des Ursprungsmanuskripts sofort vergriffen. Bis heute sind 20 000 Exemplare des Artefakts offiziell verkauft worden, ohne die unzähligen Raubdrucke, die es damals als frühe Vorstufe des Internet-Downloadens gab.
Arno Schmidt war 1970, bei Erscheinen von „Zettel’s Traum“, ein berühmter, sagenumwobener Autor, von allerlei Unkenrufen, Missverständnissen und Guruhaftigkeiten begleitet. Schmidt, ein manischer Solitär, schottete sich mit seiner Frau Alice in Bargfeld in der Lüneburger Heide ab und trat nie öffentlich auf. Aber man wusste: Er hatte sich an sein Opus Magnum gemacht und vom 25. August 1965 bis zum 31. Dezember 1968 jeden Tag von 3 Uhr morgens an eine DIN-A-3-Seite in seine Schreibmaschine eingespannt, die er im Laufe des Tages vollschrieb. Der Produktionsprozess wurde im Lauf der Zeit immer verwickelter und komplizierter. Die handschriftlichen Randbemerkungen häuften sich. Zeitungsausschnitte, Fotos und anderweitige Fundstücke wie die Hülle eines Beutels mit Hagebuttentee wurden auf die Seite geklebt, etliches wieder ausgestrichen und mit einem schwer lesbaren, verblassenden Bleistift nachkorrigiert. Schmidt legte sein Manuskript in einer charakteristischen Spaltentechnik an: in der Mitte lief die Haupthandlung ab, in der linken Spalte wucherten die vielfältigen Zitate, vor allem originalsprachliche von Edgar Allan Poe, und rechts fanden sich Gedankenspiele der Hauptfigur Daniel Pagenstecher, die sich fast unmerklich mit autobiographischen Reflexionen Arno Schmidts mischten.
Nach vierzig Jahren legt die Arno-Schmidt-Stiftung nun zum ersten Mal eine gesetzte Ausgabe von „Zettel’s Traum“ vor. Sie ist das Ergebnis einer langjährigen, mühevollen Kleinarbeit, die der Typograph Friedrich Forssman und die Herausgeberin Susanne Fischer auf sich nahmen. Die drei Schmidtschen Spalten liegen jetzt klar strukturiert vor unseren Augen. Damit wird „Zettel’s Traum“ nun als Klassiker gehandelt, aus der Distanz einer völlig anderen Gegenwart, lesbar ohne mythische Zuschreibungen.
Daniel Pagenstecher, 54 Jahre alt, ist in vielerlei Hinsicht eine Projektionsfigur Schmidts. Er lebt ähnlich wie sein Urheber in der Heide, im charakteristischen „Ödingen“. Besucht wird er vom Ehepaar Paul und Wilma Jacobi, die ihre 16-jährige Tochter Franziska („Fränzel“) im Schlepptau haben. Zwischen Fränzel und Pagenstecher entwickelt sich sofort eine sexuelle Dynamik, die Pagenstecher zu ausschweifenden Wortgirlanden nutzt. Das passt sehr gut zum eigentlichen Zweck des Besuchs: Die Jacobis planen, das Gesamtwerk von Edgar Allan Poe neu zu übersetzen und wollen sich vom ausgewiesenen Experten Pagenstecher Rat holen. Poe aber ist nicht zuletzt dadurch hervorgetreten, dass er die 13-jährige Virginia Clemm geheiratet hat.
Die Gespräche über Poe machen den Hauptteil des Buches aus. Es sind nahezu uferlose Erörterungen über den frühen Krimiautor, den Schauerromantiker und Gothic-Novellisten, und zentral dabei wird Pagenstechers „Etym“-Theorie. Sie verdankt sich Schmidts ausführlicher Beschäftigung mit den Werken Sigmund Freuds. Pagenstecher jongliert lustvoll mit Bewusstem und Unbewusstem: „Also das bw spricht Hoch=Worte. Nun wißt ihr aber, aus FREUD's ‚Traumdeutung‘, wie das ubw ein eigenes Schalks-Esperanto lallt; indem es einerseits Bildersymbolik, andrerseits Wort=Verwandtheiten ausnützt, um mehrere – (immer aber im Gehirn des Wirtstieres engbeieinanderliegende!) – Bedeutungen gleichzeitig wiederzugeben. Ich möchte nun diese neuen, wortähnlichen Gebilde – die sowohlerzogen der scheinbaren Präzision der Normalsprache dienen; als auch den fehllustig=doppelzüngelnden Amfibolien der ‚Hinter-Gedanken‘ – ‚ETYMS‘ heißen: der obere Teil des Unbewußten.“
Dass sich hinter Poes Texten unbändige sexuelle Vorstellungen verbergen, wird Wort für Wort enthüllt. Arno Schmidt hatte das Modell schon in seiner 1963 erschienenen Karl-May-Studie erprobt. Da wurde aus dem sächsischen Indianerfreund nach eingehender Analyse seiner Schriften ein latenter Homosexueller. Zu den klangähnlichen „Etyms“, mit denen Schmidt nun Poe zu Leibe rückt, gehören Pen (Feder, Füller) und Penis sowie Pallas und Phallus. Im englischen Wörtchen „true“ steckt das französische Loch („trou“) wie im harmlosen „whole“ das „hole“. Pagenstecher versucht anhand solcher Beispiele zu beweisen, dass Poe ein impotenter Voyeur gewesen sei. Es geht um ein „ImPOEtenz=Gefühl“.
Das führt zu einer Theorie über Männer ab fünfzig: Die Sexualität lässt nach, dafür beginnen die Wortspiele. Diese selbstironische Geste wird mit großem Schwung vollzogen. Über den gesamten Text sind doppeldeutige Anspielungen verstreut, überall lugt der sexuelle Hintersinn hervor. Das vierte der acht Bücher von „Zettel’s Traum“ heißt etwa „Die Geste des Großen Pun“. Da kann man Pan, den griechischen Hirtengott mit Bocksfüßen erkennen, aber auch je nach Intonation die Pen- und Penis-Nummer. Und es natürlich als „jests of the great pun“ rückübersetzen, als „großes Wortspiel“. Schmidts phonetische Schreibweise bietet sich für derlei Schabernack bestens an: „ooch bloß prä=,Sex‘tanten!“ Und die Vorliebe für Kalauer tut ein übriges: „Gelt? ‚Scheide thut weh?‘“
Im Namen „Pagenstecher“ ist der Sublimationsvorgang programmatisch erfasst: die sexuelle Konnation in „Stecher“ ist genauso präsent wie die literarische in „Page“ („Seite“). Der Titel „Zettel’s Traum“ verweist auf die Figur Zettel in Shakespeares Sommernachtstraum: Dort schläft Zettel und durchlebt im Traum ungeheure sexuelle Obsessionen. Zudem verweist der Name „Zettel“ auf das Aufschreibesystem Schmidts, seine berühmten „Zettelkästen“, die das Prinzip der Computerdatei vorwegnahmen.
Selten wurde einem Zusammenhang von literarischer Produktion und in ihr geheimnisvoll waltenden Geschlechtsorganen so akribisch nachgegangen wie in diesem Mammutwerk. Es ist kein Zufall, dass „Zettel’s Traum“ ungefähr zur selben Zeit entstand wie Oswald Kolles berüchtigte Aufklärungsfilme .
Die sechziger Jahre waren geprägt von einem enormen sexuellen Druck, von kleinbürgerlichen Schlüpfrigkeiten, verklemmten Lockerungsübungen. Mit seinen „Unterleibswitzn“ reproduziert Arno Schmidt getreulich die Pennälerzeit der Bundesrepublik. „Zettel’s Traum“ ist daher viel zeitverhafteter, als es sein weltliterarischer Impetus nahelegt. Eine eingeblockte Werbeanzeige zeugt von einer entsprechenden Lust: „unser Fabrikationsprogramm vom trockenen über den fest-feuchten, flüssig-feuchten zum farbigen und medizinischen Rauhpräservativ“, „im Fachhandel erhältlich“.
Doch Arno Schmidt wäre nicht der vorwitzige Autor, der er ist, würde er dies in seinem Text nicht mitreflektieren. Die Form entwickelt eine Eigendynamik. Neben dem Tribut an Sigmund Freud gibt es den Tribut an den sich literarisch verselbständigenden James Joyce, mit dessen „Finnegans Wake“ Schmidt offenkundig konkurrieren wollte. Eine ganze Ahnenreihe von gleichgesinnten Wortschöpfern und Wortkünstlern tut sich in Pagenstechers Ausführungen auf: angefangen vom „Tristram Shandy“ Lawrence Sternes über Tobias Smollett bis zu Lewis Carroll.
Diese literarischen Ausschweifungen gehören zum Phantastischen dieses Romans, und hier werden die Obsessionen ihres Autors erst richtig erkennbar. Arno Schmidt lieferte in den fünfziger Jahren Brotarbeiten für den Rundfunk, Stundenfeatures über seine Lieblingsschriftsteller. Leitstern der deutschen Literaturgeschichte ist für ihn nicht Goethe, sondern der unterschätzte wortverschwenderische Aufklärer Wieland. Für das Radio entwickelte Schmidt eine spezielle Dialogform. Auch Daniel Pagenstecher und das Ehepaar Jacobi sprechen so über Poe, wie Arno Schmidt dies für das andere Medium schon vorgeformt hatte. So löst sich alles, was in „Zettel’s Traum“ angespielt wird, buchstäblich in Literatur auf. Es ist nur konsequent, wenn Pagenstecher zum Schluss bereit ist, der 16-jährigen Fränzel aus dem armen Übersetzerhaushalt das Studium zu bezahlen – unter einer Bedingung: Sie darf ihn nicht mehr wiedersehen. „Hau ab Kerl !“, sagt er zu sich selbst: „in Deine WahnWeltn !“
So führte „Zettel’s Traum“ die furiosen Texte, die Arno Schmidt in den fünfziger Jahren veröffentlicht hatte, kompromisslos bis an ihr Ende. In seinen Anfängen bestach er durch seine Unbeirrbarkeit, seine Schärfe, seine von allen Sentimentalitäten und Schwülstigkeiten befreite Sprache. Dies kulminiert in „Zettel’s Traum“: der Roman ist so etwas wie der Manierismus einer Radikalität, die immer auch etwas Buchhalterisches hatte. Arno Schmidt hat selbst so gelebt, wie es in seinem Roman vorgeführt wird. Seine Frau Alice schrieb in einem Brief an den Verleger Krawehl über die Zeit von „Zettel’s Traum“ von der „völligen Vernachlässigung der eigenen Gesundheit“. Arno Schmidt hielt sich mit Nescafé und Asbach Uralt, arg zeittypischen Drogen, bei der Stange, so lange, bis es nicht mehr ging. Im fünften der acht Bücher von „Zettel’s Traum“ hat Daniel Pagenstecher einen Herzinfarkt, dargestellt durch ein großes schwarzes Rechteck im Text. Am 31. Mai 1979 erlitt Arno Schmidt einen Hirnschlag, während er schrieb. Er starb drei Tage später.
HELMUT BÖTTIGER
ARNO SCHMIDT: Zettel’s Traum. Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 1513 Seiten. Studienausgabe in vier Bänden bis 31.1.2011 198 Euro, danach 248 Euro. Standardausgabe in einem Band bis 31.1.2011 298 Euro, danach 348 Euro.
Daniel Pagenstecher, 54 Jahre alt,
lebt, ähnlich wie sein Urheber,
in der Heide, in „Ödfeld“
Für Männer ab fünfzig gilt hier:
Die Sexualität lässt nach,
dafür beginnen die Wortspiele
Arno Schmidt um 1970. Foto: Alice Schmidt/Arno Schmidt Stiftung
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„Hau ab Kerl ! in Deine WahnWeltn !“: Arno Schmidts Monumentalwerk „Zettel’s Traum“, erstmals nach allen Regeln der Typographie gesetzt
In den siebziger Jahren war die letzte Seite der Süddeutschen Zeitung am Samstag eine ausgesprochene Witzseite. Da fanden sich unter anderem Wortspiele und aphoristische Kalauer, und ein schönes Beispiel dafür lautete: „Zettel’s Traum: gelesen zu werden!“ Das war der Beweis dafür, dass es der Titel des soeben erschienenen Hauptwerks von Arno Schmidt gleich zu einem sprichwörtlichen, quasi volkstümlichen Charakter gebracht hatte. Die erste Auflage von 2000 Exemplaren war trotz des horrenden Preises von 298 DM, trotz des ungewöhnlichen Formats der 1334 Seiten und trotz der gewöhnungsbedürftigen faksimilierten Wiedergabe des Ursprungsmanuskripts sofort vergriffen. Bis heute sind 20 000 Exemplare des Artefakts offiziell verkauft worden, ohne die unzähligen Raubdrucke, die es damals als frühe Vorstufe des Internet-Downloadens gab.
Arno Schmidt war 1970, bei Erscheinen von „Zettel’s Traum“, ein berühmter, sagenumwobener Autor, von allerlei Unkenrufen, Missverständnissen und Guruhaftigkeiten begleitet. Schmidt, ein manischer Solitär, schottete sich mit seiner Frau Alice in Bargfeld in der Lüneburger Heide ab und trat nie öffentlich auf. Aber man wusste: Er hatte sich an sein Opus Magnum gemacht und vom 25. August 1965 bis zum 31. Dezember 1968 jeden Tag von 3 Uhr morgens an eine DIN-A-3-Seite in seine Schreibmaschine eingespannt, die er im Laufe des Tages vollschrieb. Der Produktionsprozess wurde im Lauf der Zeit immer verwickelter und komplizierter. Die handschriftlichen Randbemerkungen häuften sich. Zeitungsausschnitte, Fotos und anderweitige Fundstücke wie die Hülle eines Beutels mit Hagebuttentee wurden auf die Seite geklebt, etliches wieder ausgestrichen und mit einem schwer lesbaren, verblassenden Bleistift nachkorrigiert. Schmidt legte sein Manuskript in einer charakteristischen Spaltentechnik an: in der Mitte lief die Haupthandlung ab, in der linken Spalte wucherten die vielfältigen Zitate, vor allem originalsprachliche von Edgar Allan Poe, und rechts fanden sich Gedankenspiele der Hauptfigur Daniel Pagenstecher, die sich fast unmerklich mit autobiographischen Reflexionen Arno Schmidts mischten.
Nach vierzig Jahren legt die Arno-Schmidt-Stiftung nun zum ersten Mal eine gesetzte Ausgabe von „Zettel’s Traum“ vor. Sie ist das Ergebnis einer langjährigen, mühevollen Kleinarbeit, die der Typograph Friedrich Forssman und die Herausgeberin Susanne Fischer auf sich nahmen. Die drei Schmidtschen Spalten liegen jetzt klar strukturiert vor unseren Augen. Damit wird „Zettel’s Traum“ nun als Klassiker gehandelt, aus der Distanz einer völlig anderen Gegenwart, lesbar ohne mythische Zuschreibungen.
Daniel Pagenstecher, 54 Jahre alt, ist in vielerlei Hinsicht eine Projektionsfigur Schmidts. Er lebt ähnlich wie sein Urheber in der Heide, im charakteristischen „Ödingen“. Besucht wird er vom Ehepaar Paul und Wilma Jacobi, die ihre 16-jährige Tochter Franziska („Fränzel“) im Schlepptau haben. Zwischen Fränzel und Pagenstecher entwickelt sich sofort eine sexuelle Dynamik, die Pagenstecher zu ausschweifenden Wortgirlanden nutzt. Das passt sehr gut zum eigentlichen Zweck des Besuchs: Die Jacobis planen, das Gesamtwerk von Edgar Allan Poe neu zu übersetzen und wollen sich vom ausgewiesenen Experten Pagenstecher Rat holen. Poe aber ist nicht zuletzt dadurch hervorgetreten, dass er die 13-jährige Virginia Clemm geheiratet hat.
Die Gespräche über Poe machen den Hauptteil des Buches aus. Es sind nahezu uferlose Erörterungen über den frühen Krimiautor, den Schauerromantiker und Gothic-Novellisten, und zentral dabei wird Pagenstechers „Etym“-Theorie. Sie verdankt sich Schmidts ausführlicher Beschäftigung mit den Werken Sigmund Freuds. Pagenstecher jongliert lustvoll mit Bewusstem und Unbewusstem: „Also das bw spricht Hoch=Worte. Nun wißt ihr aber, aus FREUD's ‚Traumdeutung‘, wie das ubw ein eigenes Schalks-Esperanto lallt; indem es einerseits Bildersymbolik, andrerseits Wort=Verwandtheiten ausnützt, um mehrere – (immer aber im Gehirn des Wirtstieres engbeieinanderliegende!) – Bedeutungen gleichzeitig wiederzugeben. Ich möchte nun diese neuen, wortähnlichen Gebilde – die sowohlerzogen der scheinbaren Präzision der Normalsprache dienen; als auch den fehllustig=doppelzüngelnden Amfibolien der ‚Hinter-Gedanken‘ – ‚ETYMS‘ heißen: der obere Teil des Unbewußten.“
Dass sich hinter Poes Texten unbändige sexuelle Vorstellungen verbergen, wird Wort für Wort enthüllt. Arno Schmidt hatte das Modell schon in seiner 1963 erschienenen Karl-May-Studie erprobt. Da wurde aus dem sächsischen Indianerfreund nach eingehender Analyse seiner Schriften ein latenter Homosexueller. Zu den klangähnlichen „Etyms“, mit denen Schmidt nun Poe zu Leibe rückt, gehören Pen (Feder, Füller) und Penis sowie Pallas und Phallus. Im englischen Wörtchen „true“ steckt das französische Loch („trou“) wie im harmlosen „whole“ das „hole“. Pagenstecher versucht anhand solcher Beispiele zu beweisen, dass Poe ein impotenter Voyeur gewesen sei. Es geht um ein „ImPOEtenz=Gefühl“.
Das führt zu einer Theorie über Männer ab fünfzig: Die Sexualität lässt nach, dafür beginnen die Wortspiele. Diese selbstironische Geste wird mit großem Schwung vollzogen. Über den gesamten Text sind doppeldeutige Anspielungen verstreut, überall lugt der sexuelle Hintersinn hervor. Das vierte der acht Bücher von „Zettel’s Traum“ heißt etwa „Die Geste des Großen Pun“. Da kann man Pan, den griechischen Hirtengott mit Bocksfüßen erkennen, aber auch je nach Intonation die Pen- und Penis-Nummer. Und es natürlich als „jests of the great pun“ rückübersetzen, als „großes Wortspiel“. Schmidts phonetische Schreibweise bietet sich für derlei Schabernack bestens an: „ooch bloß prä=,Sex‘tanten!“ Und die Vorliebe für Kalauer tut ein übriges: „Gelt? ‚Scheide thut weh?‘“
Im Namen „Pagenstecher“ ist der Sublimationsvorgang programmatisch erfasst: die sexuelle Konnation in „Stecher“ ist genauso präsent wie die literarische in „Page“ („Seite“). Der Titel „Zettel’s Traum“ verweist auf die Figur Zettel in Shakespeares Sommernachtstraum: Dort schläft Zettel und durchlebt im Traum ungeheure sexuelle Obsessionen. Zudem verweist der Name „Zettel“ auf das Aufschreibesystem Schmidts, seine berühmten „Zettelkästen“, die das Prinzip der Computerdatei vorwegnahmen.
Selten wurde einem Zusammenhang von literarischer Produktion und in ihr geheimnisvoll waltenden Geschlechtsorganen so akribisch nachgegangen wie in diesem Mammutwerk. Es ist kein Zufall, dass „Zettel’s Traum“ ungefähr zur selben Zeit entstand wie Oswald Kolles berüchtigte Aufklärungsfilme .
Die sechziger Jahre waren geprägt von einem enormen sexuellen Druck, von kleinbürgerlichen Schlüpfrigkeiten, verklemmten Lockerungsübungen. Mit seinen „Unterleibswitzn“ reproduziert Arno Schmidt getreulich die Pennälerzeit der Bundesrepublik. „Zettel’s Traum“ ist daher viel zeitverhafteter, als es sein weltliterarischer Impetus nahelegt. Eine eingeblockte Werbeanzeige zeugt von einer entsprechenden Lust: „unser Fabrikationsprogramm vom trockenen über den fest-feuchten, flüssig-feuchten zum farbigen und medizinischen Rauhpräservativ“, „im Fachhandel erhältlich“.
Doch Arno Schmidt wäre nicht der vorwitzige Autor, der er ist, würde er dies in seinem Text nicht mitreflektieren. Die Form entwickelt eine Eigendynamik. Neben dem Tribut an Sigmund Freud gibt es den Tribut an den sich literarisch verselbständigenden James Joyce, mit dessen „Finnegans Wake“ Schmidt offenkundig konkurrieren wollte. Eine ganze Ahnenreihe von gleichgesinnten Wortschöpfern und Wortkünstlern tut sich in Pagenstechers Ausführungen auf: angefangen vom „Tristram Shandy“ Lawrence Sternes über Tobias Smollett bis zu Lewis Carroll.
Diese literarischen Ausschweifungen gehören zum Phantastischen dieses Romans, und hier werden die Obsessionen ihres Autors erst richtig erkennbar. Arno Schmidt lieferte in den fünfziger Jahren Brotarbeiten für den Rundfunk, Stundenfeatures über seine Lieblingsschriftsteller. Leitstern der deutschen Literaturgeschichte ist für ihn nicht Goethe, sondern der unterschätzte wortverschwenderische Aufklärer Wieland. Für das Radio entwickelte Schmidt eine spezielle Dialogform. Auch Daniel Pagenstecher und das Ehepaar Jacobi sprechen so über Poe, wie Arno Schmidt dies für das andere Medium schon vorgeformt hatte. So löst sich alles, was in „Zettel’s Traum“ angespielt wird, buchstäblich in Literatur auf. Es ist nur konsequent, wenn Pagenstecher zum Schluss bereit ist, der 16-jährigen Fränzel aus dem armen Übersetzerhaushalt das Studium zu bezahlen – unter einer Bedingung: Sie darf ihn nicht mehr wiedersehen. „Hau ab Kerl !“, sagt er zu sich selbst: „in Deine WahnWeltn !“
So führte „Zettel’s Traum“ die furiosen Texte, die Arno Schmidt in den fünfziger Jahren veröffentlicht hatte, kompromisslos bis an ihr Ende. In seinen Anfängen bestach er durch seine Unbeirrbarkeit, seine Schärfe, seine von allen Sentimentalitäten und Schwülstigkeiten befreite Sprache. Dies kulminiert in „Zettel’s Traum“: der Roman ist so etwas wie der Manierismus einer Radikalität, die immer auch etwas Buchhalterisches hatte. Arno Schmidt hat selbst so gelebt, wie es in seinem Roman vorgeführt wird. Seine Frau Alice schrieb in einem Brief an den Verleger Krawehl über die Zeit von „Zettel’s Traum“ von der „völligen Vernachlässigung der eigenen Gesundheit“. Arno Schmidt hielt sich mit Nescafé und Asbach Uralt, arg zeittypischen Drogen, bei der Stange, so lange, bis es nicht mehr ging. Im fünften der acht Bücher von „Zettel’s Traum“ hat Daniel Pagenstecher einen Herzinfarkt, dargestellt durch ein großes schwarzes Rechteck im Text. Am 31. Mai 1979 erlitt Arno Schmidt einen Hirnschlag, während er schrieb. Er starb drei Tage später.
HELMUT BÖTTIGER
ARNO SCHMIDT: Zettel’s Traum. Eine Edition der Arno Schmidt Stiftung. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 1513 Seiten. Studienausgabe in vier Bänden bis 31.1.2011 198 Euro, danach 248 Euro. Standardausgabe in einem Band bis 31.1.2011 298 Euro, danach 348 Euro.
Daniel Pagenstecher, 54 Jahre alt,
lebt, ähnlich wie sein Urheber,
in der Heide, in „Ödfeld“
Für Männer ab fünfzig gilt hier:
Die Sexualität lässt nach,
dafür beginnen die Wortspiele
Arno Schmidt um 1970. Foto: Alice Schmidt/Arno Schmidt Stiftung
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»Vierzig Jahre lang galt Arno Schmidts Hauptwerk Zettel's Traum als schwer zugänglich. Jetzt erscheint es in völlig neuer Gestalt - eine echte editorische Herausforderung und ein Glücksfall für uns Leser.« Tilman Spreckelsen Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20100606