Die Publikationssensation: Die bisher unveröffentlichte Lebensgeschichte des letzten amerikanischen Sklaven
"Barracoon" ist der einmalige Zeitzeugenbericht des letzten Überlebenden des Sklavenhandels, der 2018 in den USA erstveröffentlicht wurde und dort wegen seiner berührenden, ungeschminkten Erzählung und authentischen Sprache Aufsehen erregte und zum Bestseller wurde. "Barracoon" erzählt die wahre Geschichte von Oluale Kossola, auch Cudjo Lewis genannt, der 1860 auf dem letzten Sklavenschiff nach Nordamerika verschleppt wurde. Die große afroamerikanische Autorin Zora Neale Hurston befragte 1927 den damals 86-Jährigen über sein Leben: seine Jugend im heutigen Benin, die Gefangennahme und Unterbringung in den sogenannten "Barracoons", den Baracken, in die zu verkaufende Sklaven eingesperrt wurden, über seine Zeit als Sklave in Alabama, seine Freilassung und seine anschließende Suche nach den eigenen Wurzeln und einer Identität in den rassistisch geprägten USA.
"Barracoon" ist der einmalige Zeitzeugenbericht des letzten Überlebenden des Sklavenhandels, der 2018 in den USA erstveröffentlicht wurde und dort wegen seiner berührenden, ungeschminkten Erzählung und authentischen Sprache Aufsehen erregte und zum Bestseller wurde. "Barracoon" erzählt die wahre Geschichte von Oluale Kossola, auch Cudjo Lewis genannt, der 1860 auf dem letzten Sklavenschiff nach Nordamerika verschleppt wurde. Die große afroamerikanische Autorin Zora Neale Hurston befragte 1927 den damals 86-Jährigen über sein Leben: seine Jugend im heutigen Benin, die Gefangennahme und Unterbringung in den sogenannten "Barracoons", den Baracken, in die zu verkaufende Sklaven eingesperrt wurden, über seine Zeit als Sklave in Alabama, seine Freilassung und seine anschließende Suche nach den eigenen Wurzeln und einer Identität in den rassistisch geprägten USA.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2020Der letzte amerikanische Sklave erzählt
Späte Entdeckung: Zora Neale Hurstons historisches Dokument "Barracoon" verleiht einem Opfer des Sklavenhandels eine Stimme. Nun erscheint der Text vorbildlich ediert auf Deutsch.
Ein neues Buch von Zora Neale Hurston - wie kann das sein? Sie lebte von 1891 bis 1960 und war eine der wenigen afroamerikanischen Schriftstellerinnen, die als führende Figur der Harlem Renaissance - allerdings mit gehöriger Verspätung Mitte der siebziger Jahre - auch jenseits der Grenzen ihres Landes bekannt wurde. Ihre Bücher, vor allem der Roman "Their Eyes Were Watching God" aus dem Jahr 1937 (deutsch seit 1993 unter dem Titel "Und ihre Augen sahen Gott") und ihr Erinnerungsbuch "Dust Tracks on the Road", sind inzwischen an manchen amerikanischen Orten Schullektüre. Wie kommt es also, dass nun ein Buch dieser so renommierten, aber längst verstorbenen Autorin herauskommt?
An einer verzögerten Übersetzung ins Deutsche liegt es nicht. Auch die Originalausgabe von "Barracoon" erschien erst 2018. Bis dahin wollte es niemand verlegen. 2018! Da war das Manuskript 87 Jahre alt und hatte damit dasselbe Alter erreicht wie Oluale Kossola, sein 1841 geborener Protagonist, zum Zeitpunkt der Gespräche, aus denen dieses Buch wurde. Und seine Autorin war seit 58 Jahren tot.
Was ist das für ein Buch, und was hatte diese Frau, die aus New York kam, mit diesem Mann zu tun? Was suchte sie in African Town in Alabama, und warum wollte das Manuskript niemand drucken?
Zora Neale Hurston war Anthropologin und Journalistin, bevor sie Schriftstellerin wurde. Sie sammelte Kultgegenstände, und sie war auf der Suche nach den Geschichten der Menschen in der afrikanisch-amerikanischen Diaspora. Oluale Kossola ist, so heißt es im Untertitel ihres Buchs "Barracoon", der "letzte amerikanische Sklave". Er ist der Erzähler, der Held und Zeuge dieses Buchs. Dabei war er für lange Zeit seines Lebens nicht Herr der eigenen Geschichte, die er erzählt, sondern aller Menschenrechte beraubt, verschleppt erst nach einem Massaker an seinem Volk ins benachbarte Königreich Dahomey, das heutige Benin, wie ein Stück Vieh mit anderen, die sein Schicksal teilten, in Baracken (barracoons) zusammengepfercht, schließlich vom König von Dahomey an amerikanische Menschenhändler verkauft und als Fracht über den Atlantik geschifft. An der Küste Amerikas dann an Sklavenhalter weiterverkauft.
Oluale Kossola war der Letzte, der aus eigenem Leid heraus erzählen konnte, wie es damals war, versklavt zu sein. Woher er kam und wie es dort aussah, wie er geraubt wurde und was dann geschah. Warum er, als er wieder frei war, nicht zurückging, obwohl er sich danach sehnte. Und wie es war, nicht nur von den Weißen, die ihn als ihr Eigentum betrachteten und ihn auch später, als es damit vorbei war, weiterhin verachteten und misshandelten, sondern auch von Menschen mit schwarzer Haut wie seiner gedemütigt, beschimpft und nicht als einer der Ihren angenommen zu werden: "Die farbigen Leute, die hier geboren sind, die hacken immerzu auf uns rum und nennen uns unzivilisierte Wilde."
Zora Neal Hurston traf Kossola zum ersten Mal im Rahmen eines Forschungsprojekts im Jahr 1927. Zu diesem Zeitpunkt war Kossola, der in der Diaspora den Namen Cudjo Lewis bekam, eine kleine Berühmtheit. Andere Anthropologen, Historiker und Journalisten gaben sich die Klinke in die Hand, um seine Geschichten zu hören, Märchen zum Teil aus seiner Heimat.
Zora Neale Hurston hingegen war in der Öffentlichkeit noch ein Niemand, noch spielte sie keine Rolle in der Harlem Renaissance, noch lagen ihre großen Bücher vor ihr. Sie hatte den Auftrag, für das "Journal of Negro History" einen "Bericht aus erster Hand" über jenen Raubzug anzufertigen, dem auch Kossola zum Opfer gefallen war und der ihn nach Amerika brachte. Als sie sich trafen, lebte er seit bereits mehr als sechzig Jahren in African Town, einem Ort, der auf Landkarten Plateau heißt und in Alabama liegt, mit einer Zugverbindung nach Selma.
Die Ereignisse um die Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse in dem Magazin, angereichert mit Auszügen aus wissenschaftlichen Studien anderer (was ihr Plagiatsvorwürfe einbrachte), sind eine Geschichte für sich. Deborah G. Plant, die Herausgeberin von "Barracoon", fächert sie im Nachwort auf. Sie ist beispielhaft für das Problem vermeintlich objektiver wissenschaftlicher Beobachtung, wenn es um mündliche Quellen geht, und offenbar auch ein Zeugnis schlampigen Arbeitens auf Hurstons Seite, die noch keine adäquate Form dafür gefunden hatte, was sie wollte:
"Alles, was schriftlich und mündlich [zum Sklavenhandel] geäußert wurde, hatte zu tun mit Schiffen und Rationen, mit Segeln und Wetter, mit Finten und Piraterie und Abenteuern zwischen Wind und Wasser, mit eingeborenen Königen und harten Verhandlungen um sündhafte Geschäfte für beide Seiten, mit Stammeskriegen und Sklavenfaktorien und blutigen Massakern und allen Machenschaften, die es braucht, um einen Barracoon mit jungen Afrikanern in der ersten Phase ihrer Verwandlung von Menschen in Vieh zu füllen . . . So viele Worte vom Verkäufer, aber kein einziges Wort von den Verkauften. Von den Königen und Kapitänen, deren Worte Schiffe bewegten. Aber kein einziges Wort von der Fracht."
Zora Neale Hurston aber wollte hören, was ein Mann zu sagen hatte, der zur Fracht gehörte, zur Fracht der "Clotilde", des letzten Sklavenschiffs, das über die Mittelpassage nach Amerika kann.
Sie fuhr also zurück nach Alabama und besuchte Kossola ein zweites Mal. Und viele weitere Male. Nun fügte sie dem Protokoll seiner Erzählungen nur die Beschreibungen der Situation, des Ablaufs ihrer Treffen hinzu. Erzählte, welches Geschenk sie für ihn hatte, wenn sie an seine Tür klopfte, ob Schinken, Pfirsiche oder Mückenspray; aber auch, wie er sie wegschickte, wenn er andere Pläne für den Tag hatte. Doch seine Geschichte, die erzählt ganz allein Kossola. Und sie schreibt sie auf. Protokolliert. Glättet die Grammatik nicht. Benutzt eine möglichst lautgenaue Umschrift seiner Sprechweise. Einige Beispielseiten des amerikanischen Originals sind in der deutschen Ausgabe enthalten: "they" ist "dey", "th" fast immer "d", und die Wortfolge ist eigensinnig. Die Übertragung des Tons der gesprochenen Sprache ins Deutsche funktioniert nicht so gut, dazu stemmt sich unsere Sprache in der Schrift dem oralen Erzählen zu reglementierend entgegen. Im Bemühen, wenigstens den Sprachgestus des Mündlichen zu erhalten, entsteht eher ein kindlicher Ton, den das Original nicht hat - aus "afficky soil" etwa wird "Afrikaland".
Überraschenderweise berichtet Kossola von seiner Zeit als versklavter Mann nur sehr verhalten. Viel lieber erzählt er davon, wie es war, als er in Afrika ein Junge war, wie er Spurenlesen lernte, erzählt von seinen Geschwistern, den Eltern, den Ritualen und Kriegen, dem Massaker schließlich, dem er entkam, weil er gefangen wurde, und davon, wie er im Hafen zum ersten Mal einen Weißen sah. Davon, wie die Gruppe der Geraubten nach siebzig Tagen Überfahrt getrennt und unter verschiedenen Eigentümern aufgeteilt wurde: "Unser Kummer ist so schwer, wir halten ihn kaum aus."
Was auf der Plantage während fünfeinhalb Jahren als Sklave passierte, passt dagegen in seiner Erzählung auf knapp zwei Seiten. Dann geht es weiter mit mehr als sechzig Jahren in African Town und der oft traurigen Geschichte seiner Familie dort.
1931 stellte Zora Neale Hurston das Manuskript für "Barracoon" fertig. Niemand interessierte sich dafür. Die Große Depression stand vor der Tür, das Transkript der gesprochenen Erzählungen war zu mühselig zu lesen, einer Umarbeitung in Schriftenglisch widersetzte sich Hurston. Das Land hatte andere Sorgen, als in seine eigene Geschichte zu blicken, und kein Verlag sah die Notwendigkeit, dieses Dokument von "oral history" unter die Leserschaft zu bringen.
Heute ist die Neugier größer. Das mag mit dem insgesamt erstarkten Interesse an afroamerikanischer Literatur zu tun haben und der sich langsam und gegen den Strom in Amerika durchsetzenden Überzeugung, ein Blick in die eigene Geschichte könnte auch der Zukunft dienlich sein. Die Edition auch der deutschen Fassung ist jedenfalls vorbildlich: eingeleitet von einem Vorwort der Herausgeberin, die auch ein Nachwort beisteuert, und einem weiteren von Alice Walker. Zora Heale Hurston ihrerseits hat "Barracoon" ein Vorwort und eine Einleitung vorangestellt, in denen der historische Kontext und die aberwitzige Geschichte der "Clotilde" erzählt werden, die das Verbot transatlantischen Sklavenhandels ein letztes Mal durchbrach und mit vielen anderen auch Kossola an Bord hatte. Erst auf Seite 50 beginnt dann die Erzählung des alten Mannes. Und je länger er spricht, in seinem eigenwilligen Idiom, desto deutlicher wird, dass diese Sprechweise die letzte, über die Zeit hinweg wirkmächtigste Art ist, sich der vollkommenen Vereinnahmung durch das Land der fremden Sklavenhalter zu widersetzen.
VERENA LUEKEN
Zora Neale Hurston:
"Barracoon". Die Geschichte des letzten amerikanischen Sklaven.
Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring. Vorwort von Alice Walker. Penguin Verlag, München 2020. 224 S., geb., 20,60 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Späte Entdeckung: Zora Neale Hurstons historisches Dokument "Barracoon" verleiht einem Opfer des Sklavenhandels eine Stimme. Nun erscheint der Text vorbildlich ediert auf Deutsch.
Ein neues Buch von Zora Neale Hurston - wie kann das sein? Sie lebte von 1891 bis 1960 und war eine der wenigen afroamerikanischen Schriftstellerinnen, die als führende Figur der Harlem Renaissance - allerdings mit gehöriger Verspätung Mitte der siebziger Jahre - auch jenseits der Grenzen ihres Landes bekannt wurde. Ihre Bücher, vor allem der Roman "Their Eyes Were Watching God" aus dem Jahr 1937 (deutsch seit 1993 unter dem Titel "Und ihre Augen sahen Gott") und ihr Erinnerungsbuch "Dust Tracks on the Road", sind inzwischen an manchen amerikanischen Orten Schullektüre. Wie kommt es also, dass nun ein Buch dieser so renommierten, aber längst verstorbenen Autorin herauskommt?
An einer verzögerten Übersetzung ins Deutsche liegt es nicht. Auch die Originalausgabe von "Barracoon" erschien erst 2018. Bis dahin wollte es niemand verlegen. 2018! Da war das Manuskript 87 Jahre alt und hatte damit dasselbe Alter erreicht wie Oluale Kossola, sein 1841 geborener Protagonist, zum Zeitpunkt der Gespräche, aus denen dieses Buch wurde. Und seine Autorin war seit 58 Jahren tot.
Was ist das für ein Buch, und was hatte diese Frau, die aus New York kam, mit diesem Mann zu tun? Was suchte sie in African Town in Alabama, und warum wollte das Manuskript niemand drucken?
Zora Neale Hurston war Anthropologin und Journalistin, bevor sie Schriftstellerin wurde. Sie sammelte Kultgegenstände, und sie war auf der Suche nach den Geschichten der Menschen in der afrikanisch-amerikanischen Diaspora. Oluale Kossola ist, so heißt es im Untertitel ihres Buchs "Barracoon", der "letzte amerikanische Sklave". Er ist der Erzähler, der Held und Zeuge dieses Buchs. Dabei war er für lange Zeit seines Lebens nicht Herr der eigenen Geschichte, die er erzählt, sondern aller Menschenrechte beraubt, verschleppt erst nach einem Massaker an seinem Volk ins benachbarte Königreich Dahomey, das heutige Benin, wie ein Stück Vieh mit anderen, die sein Schicksal teilten, in Baracken (barracoons) zusammengepfercht, schließlich vom König von Dahomey an amerikanische Menschenhändler verkauft und als Fracht über den Atlantik geschifft. An der Küste Amerikas dann an Sklavenhalter weiterverkauft.
Oluale Kossola war der Letzte, der aus eigenem Leid heraus erzählen konnte, wie es damals war, versklavt zu sein. Woher er kam und wie es dort aussah, wie er geraubt wurde und was dann geschah. Warum er, als er wieder frei war, nicht zurückging, obwohl er sich danach sehnte. Und wie es war, nicht nur von den Weißen, die ihn als ihr Eigentum betrachteten und ihn auch später, als es damit vorbei war, weiterhin verachteten und misshandelten, sondern auch von Menschen mit schwarzer Haut wie seiner gedemütigt, beschimpft und nicht als einer der Ihren angenommen zu werden: "Die farbigen Leute, die hier geboren sind, die hacken immerzu auf uns rum und nennen uns unzivilisierte Wilde."
Zora Neal Hurston traf Kossola zum ersten Mal im Rahmen eines Forschungsprojekts im Jahr 1927. Zu diesem Zeitpunkt war Kossola, der in der Diaspora den Namen Cudjo Lewis bekam, eine kleine Berühmtheit. Andere Anthropologen, Historiker und Journalisten gaben sich die Klinke in die Hand, um seine Geschichten zu hören, Märchen zum Teil aus seiner Heimat.
Zora Neale Hurston hingegen war in der Öffentlichkeit noch ein Niemand, noch spielte sie keine Rolle in der Harlem Renaissance, noch lagen ihre großen Bücher vor ihr. Sie hatte den Auftrag, für das "Journal of Negro History" einen "Bericht aus erster Hand" über jenen Raubzug anzufertigen, dem auch Kossola zum Opfer gefallen war und der ihn nach Amerika brachte. Als sie sich trafen, lebte er seit bereits mehr als sechzig Jahren in African Town, einem Ort, der auf Landkarten Plateau heißt und in Alabama liegt, mit einer Zugverbindung nach Selma.
Die Ereignisse um die Veröffentlichung ihrer Forschungsergebnisse in dem Magazin, angereichert mit Auszügen aus wissenschaftlichen Studien anderer (was ihr Plagiatsvorwürfe einbrachte), sind eine Geschichte für sich. Deborah G. Plant, die Herausgeberin von "Barracoon", fächert sie im Nachwort auf. Sie ist beispielhaft für das Problem vermeintlich objektiver wissenschaftlicher Beobachtung, wenn es um mündliche Quellen geht, und offenbar auch ein Zeugnis schlampigen Arbeitens auf Hurstons Seite, die noch keine adäquate Form dafür gefunden hatte, was sie wollte:
"Alles, was schriftlich und mündlich [zum Sklavenhandel] geäußert wurde, hatte zu tun mit Schiffen und Rationen, mit Segeln und Wetter, mit Finten und Piraterie und Abenteuern zwischen Wind und Wasser, mit eingeborenen Königen und harten Verhandlungen um sündhafte Geschäfte für beide Seiten, mit Stammeskriegen und Sklavenfaktorien und blutigen Massakern und allen Machenschaften, die es braucht, um einen Barracoon mit jungen Afrikanern in der ersten Phase ihrer Verwandlung von Menschen in Vieh zu füllen . . . So viele Worte vom Verkäufer, aber kein einziges Wort von den Verkauften. Von den Königen und Kapitänen, deren Worte Schiffe bewegten. Aber kein einziges Wort von der Fracht."
Zora Neale Hurston aber wollte hören, was ein Mann zu sagen hatte, der zur Fracht gehörte, zur Fracht der "Clotilde", des letzten Sklavenschiffs, das über die Mittelpassage nach Amerika kann.
Sie fuhr also zurück nach Alabama und besuchte Kossola ein zweites Mal. Und viele weitere Male. Nun fügte sie dem Protokoll seiner Erzählungen nur die Beschreibungen der Situation, des Ablaufs ihrer Treffen hinzu. Erzählte, welches Geschenk sie für ihn hatte, wenn sie an seine Tür klopfte, ob Schinken, Pfirsiche oder Mückenspray; aber auch, wie er sie wegschickte, wenn er andere Pläne für den Tag hatte. Doch seine Geschichte, die erzählt ganz allein Kossola. Und sie schreibt sie auf. Protokolliert. Glättet die Grammatik nicht. Benutzt eine möglichst lautgenaue Umschrift seiner Sprechweise. Einige Beispielseiten des amerikanischen Originals sind in der deutschen Ausgabe enthalten: "they" ist "dey", "th" fast immer "d", und die Wortfolge ist eigensinnig. Die Übertragung des Tons der gesprochenen Sprache ins Deutsche funktioniert nicht so gut, dazu stemmt sich unsere Sprache in der Schrift dem oralen Erzählen zu reglementierend entgegen. Im Bemühen, wenigstens den Sprachgestus des Mündlichen zu erhalten, entsteht eher ein kindlicher Ton, den das Original nicht hat - aus "afficky soil" etwa wird "Afrikaland".
Überraschenderweise berichtet Kossola von seiner Zeit als versklavter Mann nur sehr verhalten. Viel lieber erzählt er davon, wie es war, als er in Afrika ein Junge war, wie er Spurenlesen lernte, erzählt von seinen Geschwistern, den Eltern, den Ritualen und Kriegen, dem Massaker schließlich, dem er entkam, weil er gefangen wurde, und davon, wie er im Hafen zum ersten Mal einen Weißen sah. Davon, wie die Gruppe der Geraubten nach siebzig Tagen Überfahrt getrennt und unter verschiedenen Eigentümern aufgeteilt wurde: "Unser Kummer ist so schwer, wir halten ihn kaum aus."
Was auf der Plantage während fünfeinhalb Jahren als Sklave passierte, passt dagegen in seiner Erzählung auf knapp zwei Seiten. Dann geht es weiter mit mehr als sechzig Jahren in African Town und der oft traurigen Geschichte seiner Familie dort.
1931 stellte Zora Neale Hurston das Manuskript für "Barracoon" fertig. Niemand interessierte sich dafür. Die Große Depression stand vor der Tür, das Transkript der gesprochenen Erzählungen war zu mühselig zu lesen, einer Umarbeitung in Schriftenglisch widersetzte sich Hurston. Das Land hatte andere Sorgen, als in seine eigene Geschichte zu blicken, und kein Verlag sah die Notwendigkeit, dieses Dokument von "oral history" unter die Leserschaft zu bringen.
Heute ist die Neugier größer. Das mag mit dem insgesamt erstarkten Interesse an afroamerikanischer Literatur zu tun haben und der sich langsam und gegen den Strom in Amerika durchsetzenden Überzeugung, ein Blick in die eigene Geschichte könnte auch der Zukunft dienlich sein. Die Edition auch der deutschen Fassung ist jedenfalls vorbildlich: eingeleitet von einem Vorwort der Herausgeberin, die auch ein Nachwort beisteuert, und einem weiteren von Alice Walker. Zora Heale Hurston ihrerseits hat "Barracoon" ein Vorwort und eine Einleitung vorangestellt, in denen der historische Kontext und die aberwitzige Geschichte der "Clotilde" erzählt werden, die das Verbot transatlantischen Sklavenhandels ein letztes Mal durchbrach und mit vielen anderen auch Kossola an Bord hatte. Erst auf Seite 50 beginnt dann die Erzählung des alten Mannes. Und je länger er spricht, in seinem eigenwilligen Idiom, desto deutlicher wird, dass diese Sprechweise die letzte, über die Zeit hinweg wirkmächtigste Art ist, sich der vollkommenen Vereinnahmung durch das Land der fremden Sklavenhalter zu widersetzen.
VERENA LUEKEN
Zora Neale Hurston:
"Barracoon". Die Geschichte des letzten amerikanischen Sklaven.
Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring. Vorwort von Alice Walker. Penguin Verlag, München 2020. 224 S., geb., 20,60 [Euro].
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