Begeistert hat Hans-Jürgen Schings (FAZ) die "glanzvoll ausgreifende Studie 'Bartleby oder die Kontingenz', in der der brillante Denker solcher Anfänge" das berühmte "I would prefer not to" als Geste einer zweiten Schöpfung und einer neuen Kreatur beschreibe. Auch den Übersetzern gebühre hohes Lob, da sie die "federnde Arbeit des Begriffs" nicht verfälscht hätten
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.04.1999Jenseits von Tod und Leben
Kann man in ein Verhältnis zum Unmenschlichen treten? Giorgio Agamben entwickelt eine Philosophie, die klären soll, was von Auschwitz bleibt
Wenn ein geschichtliches Ereignis das philosophische Denken begründen und rechtfertigen soll, stößt Philosophie auf eine Schwierigkeit. Denn jede allgemeine Einsicht, zu der ein geschichtliches Ereignis nötigt, erhebt sich zugleich über dieses Ereignis. Die Schwierigkeit läßt sich nicht dadurch beseitigen, daß man Geschichte und Philosophie trennt. In seinem Buch "Quel che resta di Auschwitz" (Was von Auschwitz bleibt) betont Giorgio Agamben, der anregendste italienische Philosoph der Gegenwart, daß keine Ethik sich je anmaßen darf, einen Teil dessen auszuschließen, was den Menschen ausmacht, so unerträglich eine uneingeschränkte Betrachtung auch sein mag. Weil es gerade geschichtliche Ereignisse sind, die eine Einsicht in menschliches Vermögen und Unvermögen ermöglichen, in das Verhältnis des Menschlichen zum Unmenschlichen und Nichtmenschlichen, kann zumindest die Ethik der Schwierigkeit einer gleichzeitigen Verabsolutierung und Relativierung der Geschichte nicht ausweichen.
Agamben behauptet, daß Philosophie die Welt aus der Sicht einer zum Alltag gewordenen äußersten Lage betrachten muß. Ist Auschwitz der Name für eine unvorstellbare, aber nicht zufällige In-Frage-Stellung des Menschlichen, dann muß der Philosoph von Auschwitz ausgehen, will er ethische Fragen überhaupt stellen. Man kann "Was von Auschwitz bleibt" als Versuch lesen, sich den revidierten kategorischen Imperativ zu eigen machen, von dem Adorno einmal spricht - so zu denken, daß sich Auschwitz nicht wiederholt und nichts Ähnliches geschieht.
Mit seinem neuen Buch setzt Agamben die Genealogie einer im Wesen der Souveränität begründeten politischen Macht fort, die er vor vier Jahren mit seinem inzwischen ins Französische und Englische übersetzten Werk "Homo sacer" in Angriff nahm. Er stützt sich dabei auf eine von Michel Foucault eingeführte Unterscheidung. Die souveräne politische Macht, die sich zunächst durch das Vorrecht auszeichnet, zum Tode zu verurteilen und am Leben zu lassen, und die sich dann in eine biopolitische Macht verwandelt, die Strategien der Lebenserhaltung verfolgt und den Tod an den Rand der Gesellschaft drängt, erkennt man nunmehr daran, daß sie Bedingungen schafft, unter denen ein unendlich anpassungsfähiger Körper erzeugt wird, ein Körper, der weder tot noch lebendig ist.
Das bloße Leben dieses Körpers macht Agamben in der Gestalt des Häftlings aus, der in den Lagern als "Muselmann" bezeichnet wurde. Von der Unmenschlichkeit bis an die Grenze zum Nichtmenschlichen getrieben, überlebt der "Muselmann" den Menschen im Menschen, ohne eine menschliche Würde mehr einklagen oder an einer ethischen Norm sich ausrichten zu können. Die Frage also, die eine Ethik aufwirft, die nicht auf das Begründen von Normen oder die Aufstellung von Werten zielt, weil sie nicht blind über das bloße Leben hinwegsieht, ist die nach der Möglichkeit, von einem Leben Zeugnis abzulegen, das von sich selber kein Zeugnis ablegen kann und das deshalb nach einem Zeugnis verlangt.
An dieser Stelle wird die Zweideutigkeit der Ethik deutlich, muß sie doch gerade heute eine Ethik des bloßen Lebens sein und dennoch einen zeitlich ungebundenen Allgemeinheitsanspruch erheben. Folgt man Agamben, wendet sie sich einerseits gegen die Verwechslung des Ethischen mit dem Juridischen, welche die Begriffe der Schuld und der Verantwortung bewirken. Als ausdrückliche Bezeugung dessen, was nicht bezeugt werden kann, orientiert sie sich an der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist eine Wahrheit des menschlichen Handelns, die im Bereich des Rechts und der davon abhängigen Rechtmäßigkeit eine Leerstelle markiert. Indem sie aber die Perspektive des Entkommenen einnimmt, der das Unbezeugbare bezeugt, wendet sich die Ethik des bloßen Lebens andererseits gegen die Leugnung der Gaskammern und gegen die unvermeidliche Verherrlichung, die in der These liegt, die furchtbare Einzigartigkeit des Geschehenen komme allein in der Achtung vor dessen Unsagbarkeit zum Ausdruck.
Die Zweideutigkeit, die sich aus einem zwangsläufig doppelten Blickwinkel ergibt und die ein blinder Fleck ist, durchzieht alle Einsichten, die sich dem Ansatz einer Ethik des bloßen Lebens verdanken. Agamben entfaltet in seinem Buch den Gedanken einer Subjektivität, die in der Scham sich selber fühlt, weil sie eine Bewegung der Subjektivierung und der Entsubjektivierung ist. Dieser Gedanke beruht sowohl auf einer Erfahrung, welche die Häftlinge der Lager gemacht haben, als auch auf einer begrifflichen Untersuchung, die von einer solchen Erfahrung nicht mehr unmittelbar geprägt ist. Wenn im Lager jeder die Stelle des anderen einnehmen kann und die Insassen deshalb die Unmöglichkeit erfahren, ein eigenes Leben zu führen und einen eigenen Tod zu sterben, dann gründet die Scham, die sie empfinden, darin, daß sie zu Zeugen des gewaltsamen Verlusts ihrer Subjektivität werden.
In dem Augenblick jedoch, in dem das Schamgefühl des sich auflösenden Subjekts in den Bereich einer Ethik des bloßen Lebens aufgenommen wird, kommt der Philosoph nicht umhin, es von der geschichtlichen Gestalt abzulösen, in der es sich zeigt. Das schamvolle Erröten, von dem Agambens Reflexionen ihren Ausgang nehmen, erweist sich "als jener Rest, der in jeder Subjektivierung eine Entsubjektivierung verrät und in jeder Entsubjektivierung ein Subjekt bezeugt".
Der Titel, den Agamben für sein Buch wählt, kann folglich in einem doppelten Sinne ausgelegt werden. Der Rest, den er meint, wird weder von den Überlebenden gebildet, die Zeugnis ablegen, noch von dem bloßen Leben des "Muselmanns" und der Asche der Verbrannten, die sich allem Zeugnis entziehen, sondern von einem Dritten - von der Bezeugung des Unbezeugbaren. Agamben verweist in diesem Zusammenhang auf die messianische Rede vom Rest, die sich nicht auf die Rettung eines zahlenmäßig bestimmbaren Teils des erwählten Volks bezieht. Der Rest, den der Titel meint, läßt sich aber ebenso als die Unauflösbarkeit der Zweideutigkeit verstehen, welche die Ethik des bloßen Lebens heimsucht.
Zweideutig ist auch der Gebrauch, den Agamben wiederholt von dem Begriff des Experiments macht. Auschwitz soll der Ort "eines noch ungedachten Experiments" sein, da die Verwandlung des Juden in einen "Muselmann", des Menschen in einen Nicht-Menschen, wegführe von "Leben und Tod" und die Möglichkeit als solche in Frage stelle. Dieses "Experiment" kann man weder als ein subjektiv veranstaltetes begreifen noch als Stufe in dem fortschreitenden Gang eines teuflischen Weltgeistes. Dem Blick des Ethikers, der sich bemüht, von der Macht und Ohnmacht des Menschen nicht abzusehen, stellt sich die Geschichte als eine Reihe von "Experimenten" dar, als ein ständiges Aufdecken äußerster und unheimlicher Möglichkeiten.
Weil aber Agamben den Begriff des Experiments nicht eigens entwickelt, muß sich der Leser einem anderen Text des Autors zuwenden, der in deutscher Übersetzung erschienen ist. "Bartleby oder die Kontingenz", eine kurze und dichte philosophische Abhandlung über das Vermögen, etwas nicht zu sein oder zu tun, rückt die Vorstellung eines "Experiments ohne Wahrheit", das die "Art des Existierens" betrifft, in ihren Mittelpunkt.
Um ein Experiment der Existenz handelt es sich, da seine Anordnung eine radikale "anthropologische Mutation" zur Folge haben soll; "ohne Wahrheit" ist dieses Experiment, da es nicht der Verifikation oder der Falsifikation dienen soll, sondern der Entdeckung einer bislang unbekannten Seinsweise: eines kontingenten Seins, "das gleichzeitig sein und nicht sein kann". In der ungeheuren Verwandlung des Menschen in einen Nicht-Menschen, die in den Lagern stattfindet, läßt sich jedoch kein Vermögen, kein Können, keine Macht erblicken. Muß also nicht dort, wo es um das geht, was von Auschwitz bleibt, der Begriff des Experiments zweideutig bleiben?
Das Sein, das sich in einer Mitte hält, zwischen "dem Sein-Können und dem Nicht-sein-Können", zwischen "dem Geschehen und dem Nicht-Geschehen", bezeichnet Agamben in seiner Abhandlung über die Kontingenz als Erinnerung. In der Erinnerung erkennt er ein "Emporheben zur Potenz": "Die Erinnerung stellt für die Vergangenheit die Möglichkeit wieder her, indem sie das, was sich ereignet hat, ungeschehen macht und das geschehen sein läßt, was nicht gewesen ist." Liest man diese Sätze im Licht einer Ethik des bloßen Lebens, so kann man vielleicht behaupten, daß sich Agambens Denken in der Spannung zwischen Erinnerung und Bezeugung bewegt. Vermag die Bezeugung des Unbezeugbaren auch Erinnerung zu sein und ein Mögliches wiederherzustellen, oder täuscht sie unweigerlich über das Geschehene - über Auschwitz hinweg?
ALEXANDER GARCÍA DÜTTMANN
Giorgio Agamben: "Quel che resta di Auschwitz". L'archivio e il testimone. Bollati Boringhieri, Torino 1998. 165 S., br., 24 000 Lire.
Giorgio Agamben: "Bartleby oder die Kontingenz", gefolgt von "Die absolute Immanenz". Aus dem Italienischen von Maria Zinfert und Andreas Hiepko. Merve Verlag, Berlin 1998. 127 S., br., 14,- DM.
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Kann man in ein Verhältnis zum Unmenschlichen treten? Giorgio Agamben entwickelt eine Philosophie, die klären soll, was von Auschwitz bleibt
Wenn ein geschichtliches Ereignis das philosophische Denken begründen und rechtfertigen soll, stößt Philosophie auf eine Schwierigkeit. Denn jede allgemeine Einsicht, zu der ein geschichtliches Ereignis nötigt, erhebt sich zugleich über dieses Ereignis. Die Schwierigkeit läßt sich nicht dadurch beseitigen, daß man Geschichte und Philosophie trennt. In seinem Buch "Quel che resta di Auschwitz" (Was von Auschwitz bleibt) betont Giorgio Agamben, der anregendste italienische Philosoph der Gegenwart, daß keine Ethik sich je anmaßen darf, einen Teil dessen auszuschließen, was den Menschen ausmacht, so unerträglich eine uneingeschränkte Betrachtung auch sein mag. Weil es gerade geschichtliche Ereignisse sind, die eine Einsicht in menschliches Vermögen und Unvermögen ermöglichen, in das Verhältnis des Menschlichen zum Unmenschlichen und Nichtmenschlichen, kann zumindest die Ethik der Schwierigkeit einer gleichzeitigen Verabsolutierung und Relativierung der Geschichte nicht ausweichen.
Agamben behauptet, daß Philosophie die Welt aus der Sicht einer zum Alltag gewordenen äußersten Lage betrachten muß. Ist Auschwitz der Name für eine unvorstellbare, aber nicht zufällige In-Frage-Stellung des Menschlichen, dann muß der Philosoph von Auschwitz ausgehen, will er ethische Fragen überhaupt stellen. Man kann "Was von Auschwitz bleibt" als Versuch lesen, sich den revidierten kategorischen Imperativ zu eigen machen, von dem Adorno einmal spricht - so zu denken, daß sich Auschwitz nicht wiederholt und nichts Ähnliches geschieht.
Mit seinem neuen Buch setzt Agamben die Genealogie einer im Wesen der Souveränität begründeten politischen Macht fort, die er vor vier Jahren mit seinem inzwischen ins Französische und Englische übersetzten Werk "Homo sacer" in Angriff nahm. Er stützt sich dabei auf eine von Michel Foucault eingeführte Unterscheidung. Die souveräne politische Macht, die sich zunächst durch das Vorrecht auszeichnet, zum Tode zu verurteilen und am Leben zu lassen, und die sich dann in eine biopolitische Macht verwandelt, die Strategien der Lebenserhaltung verfolgt und den Tod an den Rand der Gesellschaft drängt, erkennt man nunmehr daran, daß sie Bedingungen schafft, unter denen ein unendlich anpassungsfähiger Körper erzeugt wird, ein Körper, der weder tot noch lebendig ist.
Das bloße Leben dieses Körpers macht Agamben in der Gestalt des Häftlings aus, der in den Lagern als "Muselmann" bezeichnet wurde. Von der Unmenschlichkeit bis an die Grenze zum Nichtmenschlichen getrieben, überlebt der "Muselmann" den Menschen im Menschen, ohne eine menschliche Würde mehr einklagen oder an einer ethischen Norm sich ausrichten zu können. Die Frage also, die eine Ethik aufwirft, die nicht auf das Begründen von Normen oder die Aufstellung von Werten zielt, weil sie nicht blind über das bloße Leben hinwegsieht, ist die nach der Möglichkeit, von einem Leben Zeugnis abzulegen, das von sich selber kein Zeugnis ablegen kann und das deshalb nach einem Zeugnis verlangt.
An dieser Stelle wird die Zweideutigkeit der Ethik deutlich, muß sie doch gerade heute eine Ethik des bloßen Lebens sein und dennoch einen zeitlich ungebundenen Allgemeinheitsanspruch erheben. Folgt man Agamben, wendet sie sich einerseits gegen die Verwechslung des Ethischen mit dem Juridischen, welche die Begriffe der Schuld und der Verantwortung bewirken. Als ausdrückliche Bezeugung dessen, was nicht bezeugt werden kann, orientiert sie sich an der Gerechtigkeit. Die Gerechtigkeit ist eine Wahrheit des menschlichen Handelns, die im Bereich des Rechts und der davon abhängigen Rechtmäßigkeit eine Leerstelle markiert. Indem sie aber die Perspektive des Entkommenen einnimmt, der das Unbezeugbare bezeugt, wendet sich die Ethik des bloßen Lebens andererseits gegen die Leugnung der Gaskammern und gegen die unvermeidliche Verherrlichung, die in der These liegt, die furchtbare Einzigartigkeit des Geschehenen komme allein in der Achtung vor dessen Unsagbarkeit zum Ausdruck.
Die Zweideutigkeit, die sich aus einem zwangsläufig doppelten Blickwinkel ergibt und die ein blinder Fleck ist, durchzieht alle Einsichten, die sich dem Ansatz einer Ethik des bloßen Lebens verdanken. Agamben entfaltet in seinem Buch den Gedanken einer Subjektivität, die in der Scham sich selber fühlt, weil sie eine Bewegung der Subjektivierung und der Entsubjektivierung ist. Dieser Gedanke beruht sowohl auf einer Erfahrung, welche die Häftlinge der Lager gemacht haben, als auch auf einer begrifflichen Untersuchung, die von einer solchen Erfahrung nicht mehr unmittelbar geprägt ist. Wenn im Lager jeder die Stelle des anderen einnehmen kann und die Insassen deshalb die Unmöglichkeit erfahren, ein eigenes Leben zu führen und einen eigenen Tod zu sterben, dann gründet die Scham, die sie empfinden, darin, daß sie zu Zeugen des gewaltsamen Verlusts ihrer Subjektivität werden.
In dem Augenblick jedoch, in dem das Schamgefühl des sich auflösenden Subjekts in den Bereich einer Ethik des bloßen Lebens aufgenommen wird, kommt der Philosoph nicht umhin, es von der geschichtlichen Gestalt abzulösen, in der es sich zeigt. Das schamvolle Erröten, von dem Agambens Reflexionen ihren Ausgang nehmen, erweist sich "als jener Rest, der in jeder Subjektivierung eine Entsubjektivierung verrät und in jeder Entsubjektivierung ein Subjekt bezeugt".
Der Titel, den Agamben für sein Buch wählt, kann folglich in einem doppelten Sinne ausgelegt werden. Der Rest, den er meint, wird weder von den Überlebenden gebildet, die Zeugnis ablegen, noch von dem bloßen Leben des "Muselmanns" und der Asche der Verbrannten, die sich allem Zeugnis entziehen, sondern von einem Dritten - von der Bezeugung des Unbezeugbaren. Agamben verweist in diesem Zusammenhang auf die messianische Rede vom Rest, die sich nicht auf die Rettung eines zahlenmäßig bestimmbaren Teils des erwählten Volks bezieht. Der Rest, den der Titel meint, läßt sich aber ebenso als die Unauflösbarkeit der Zweideutigkeit verstehen, welche die Ethik des bloßen Lebens heimsucht.
Zweideutig ist auch der Gebrauch, den Agamben wiederholt von dem Begriff des Experiments macht. Auschwitz soll der Ort "eines noch ungedachten Experiments" sein, da die Verwandlung des Juden in einen "Muselmann", des Menschen in einen Nicht-Menschen, wegführe von "Leben und Tod" und die Möglichkeit als solche in Frage stelle. Dieses "Experiment" kann man weder als ein subjektiv veranstaltetes begreifen noch als Stufe in dem fortschreitenden Gang eines teuflischen Weltgeistes. Dem Blick des Ethikers, der sich bemüht, von der Macht und Ohnmacht des Menschen nicht abzusehen, stellt sich die Geschichte als eine Reihe von "Experimenten" dar, als ein ständiges Aufdecken äußerster und unheimlicher Möglichkeiten.
Weil aber Agamben den Begriff des Experiments nicht eigens entwickelt, muß sich der Leser einem anderen Text des Autors zuwenden, der in deutscher Übersetzung erschienen ist. "Bartleby oder die Kontingenz", eine kurze und dichte philosophische Abhandlung über das Vermögen, etwas nicht zu sein oder zu tun, rückt die Vorstellung eines "Experiments ohne Wahrheit", das die "Art des Existierens" betrifft, in ihren Mittelpunkt.
Um ein Experiment der Existenz handelt es sich, da seine Anordnung eine radikale "anthropologische Mutation" zur Folge haben soll; "ohne Wahrheit" ist dieses Experiment, da es nicht der Verifikation oder der Falsifikation dienen soll, sondern der Entdeckung einer bislang unbekannten Seinsweise: eines kontingenten Seins, "das gleichzeitig sein und nicht sein kann". In der ungeheuren Verwandlung des Menschen in einen Nicht-Menschen, die in den Lagern stattfindet, läßt sich jedoch kein Vermögen, kein Können, keine Macht erblicken. Muß also nicht dort, wo es um das geht, was von Auschwitz bleibt, der Begriff des Experiments zweideutig bleiben?
Das Sein, das sich in einer Mitte hält, zwischen "dem Sein-Können und dem Nicht-sein-Können", zwischen "dem Geschehen und dem Nicht-Geschehen", bezeichnet Agamben in seiner Abhandlung über die Kontingenz als Erinnerung. In der Erinnerung erkennt er ein "Emporheben zur Potenz": "Die Erinnerung stellt für die Vergangenheit die Möglichkeit wieder her, indem sie das, was sich ereignet hat, ungeschehen macht und das geschehen sein läßt, was nicht gewesen ist." Liest man diese Sätze im Licht einer Ethik des bloßen Lebens, so kann man vielleicht behaupten, daß sich Agambens Denken in der Spannung zwischen Erinnerung und Bezeugung bewegt. Vermag die Bezeugung des Unbezeugbaren auch Erinnerung zu sein und ein Mögliches wiederherzustellen, oder täuscht sie unweigerlich über das Geschehene - über Auschwitz hinweg?
ALEXANDER GARCÍA DÜTTMANN
Giorgio Agamben: "Quel che resta di Auschwitz". L'archivio e il testimone. Bollati Boringhieri, Torino 1998. 165 S., br., 24 000 Lire.
Giorgio Agamben: "Bartleby oder die Kontingenz", gefolgt von "Die absolute Immanenz". Aus dem Italienischen von Maria Zinfert und Andreas Hiepko. Merve Verlag, Berlin 1998. 127 S., br., 14,- DM.
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