Wir befinden uns im 12. Jahrhundert, zur Zeit der Kreuzzüge. Baudolino, ein gewitzter Bauernsohn aus dem Piemont, wird Adoptivsohn des Kaisers Friedrich I. Barbarossa. Den Kopf voller Flausen, Phantasien und Lügen, lenken seine irrwitzigen Ideen von nun an den Lauf der Weltgeschichte. Von den Liebesbriefen an die Kaiserin, den undurchsichtigen Machenschaften bei der Belagerung Alessandrias und dem rätselhaften Tod Barbarossas gar nicht zu reden ...
Irgend jemand muß es ja machen: Umberto Eco treibt's zurück
VENEDIG, im Dezember
"Irgend jemand muß das ja machen", antwortete Umberto Eco schlagfertig, als er im Herbst in Mailand der englischen Königin vorgestellt wurde und sie ihn zerstreut fragte: "Ah, Sie sind ein Schriftsteller?" Und tatsächlich wurde ihm dieses Gewerbe zum späten Hauptberuf, obwohl ihn der Semiotikprofessor gar nicht gelernt hat. Nun macht der Literaturwissenschaftler zum viertenmal den Handwerkern des Schreibens Konkurrenz: Seit Ende November liegt "Baudolino" in großen Stapeln in den italienischen Buchhandlungen und wird im Lande nicht nur diskutiert, sondern, wie es scheint, sogar gelesen. Immerhin verkaufte Eco von den 300 000 Exemplaren der Startauflage in den ersten Tagen ein gutes Drittel - angesichts von über dreißig Millionen Büchern seit "Der Name der Rose" eine geradezu vorsichtige Kalkulation des Mailänder Verlagshauses Bompiani.
Natürlich ist das Buch bereits in sechsunddreißig Länder verkauft, und vielleicht wird auch Hollywood wie vom "Foucaultschen Pendel" wieder die Filmrechte erwerben. Da tut es auch nichts, daß neben einigen seriöseren Blättern auch "Avvenire", das Organ der italienischen Bischofskonferenz, den neuen Roman als "überflüssig" verrissen hat. Die Fans, die mit Eco Mordfälle in einem Abruzzenkloster lösten und eine Weltverschwörung der Templer aufdeckten, werden sich hingegen freuen, daß ihr Historienautor nach einem Ausflug in die Barockzeit ("Die Insel des folgenden Tages") wieder in seine eigentliche Gegenwart zurückgekehrt ist: ins Mittelalter.
Eco führt seine Leser nicht in eine geschickt verbrämte Geheimgeschichte der Franziskaner-Minoriten oder der schwarzen Kassen der Kreuzfahrer ein, sondern dockt diesmal ganz selbstbewußt an die offen zutage liegende Welthistorie des zwölften Jahrhunderts an. Seinen Helden, den piemontesischen Bauernsohn Baudolino, wird man zwar in jedem Geschichtsbuch vergeblich suchen, doch dessen Ziehvater Friedrich Barbarossa um so eher dort finden. Die großen Ereignisse um die Kriegszüge des Kaisers gegen die aufmüpfige "Lega Lombarda" in Norditalien, um seinen tödlichen Kreuzzug ins Heilige Land dienen Eco dazu, seinen Helden vor dieser gesicherten Folie als genialen Lügner zu enttarnen. Denn was immer der Schwadroneur zur Problemlösung ersinnt, wird von seinen Mitmenschen prompt für eine Wahrheit mit Eigenmacht gehalten. Klaubt er aus dem zerstörten Mailand drei Kadaver hervor, werden diese in Köln zu den Reliquien der Heiligen Drei Könige. Läßt Baudolino bei der Belagerung seiner Heimatstadt Allessandria einen Sankt Petrus zu Pferde eingreifen, löst dieser Bauerntrick ein unheilvolles Gemetzel aus. Ganz nebenbei verhilft er der Universität von Bologna - hier lehrt ein gewisser Umberto Eco - zur frühen Freiheit der Lehre und stattet Paris, das Zentrum der modernen Nachkriegsphilosophie, mit einer gewaltigen Bibliothek aus.
Lustig ist das Vagantenleben
So ist Baudolino nach der Art von Woody Allens "Zelig" bei vielen Gabelungen der abendländischen Geschichte am Werk. Seine haarsträubenden Geschichten erfinden immer eine neue Wahrheit - eine Lehre, die beim Semiotiker und Erzählforscher Eco quasi zum Proseminar gehört. Natürlich streut er mit großer Gelehrsamkeit seine Verweise über den Text und tippt die geistigen Strömungen des Hochmittelalters der Reihe nach an. Da ist die höfische Liebe, die der Spund Baudolino gegenüber der - fast - unerreichbaren Kaiserin Beatrice auskostet. Oder das Vagantenleben der "Carmina burana", das er eifrig beim Semiotik- und Rotweinstudium an der Sorbonne abfeiert. Aber auch abseitigere Gebiete wie die mittelalterliche Chimärologie der verwachsenen Exoten oder die tendenziöse Gattung der Weltchronik - vorgeführt an Baudolinos Lehrer Otto von Freising - werden mit leichter Hand abgehakt.
Natürlich können alle Leser, die das seit "Der Name der Rose" fasziniert, ihre eigene Belesenheit überprüfen, indem sie die Versatzstücke aus Ecos Bücherregal identifizieren - Widerhall anderer Geschichten bei einem Autor, dessen Name in Deutsch nicht zufällig "Echo" bedeutet. So wird die Schlacht von Legnano, an die heute die Eiferer der norditalienischen Abscheidungsbewegung anknüpfen wollen, zur Kopie der wirren Waterloo-Schlachterei, in die Stendhals Held Fabrizio del Dongo zu Beginn der "Kartause von Parma" gerät. Seinem sterbenden Freund Abdul flüstert Baudolino ein Shakespeare-Zitat ins Ohr, und der Rückflug des Weltreisenden Baudolino auf einem Riesenvogel Roch weist den Weg in die Märchenwelt von "1001 Nacht", der in diesem erfreulich orientalischen Roman sowieso manches geschuldet ist. Die gesamte Handlung wird im brennenden, von den Kreuzfahrern geplünderten Konstantinopel des Jahres 1204 erzählt - ein deutlicher, angesichts der Betulichkeit der Katastrophe etwas bemühter Hinweis auf Boccaccios "Decamerone" und den Trost des Geschichtenerzählens in trister Zeit. Fast wirkt es schon zu dick aufgetragen, daß Baudolino, dieser in Historien lebende Bramarbasierer, auch noch über die seltene Gabe verfügt, sich jedes Idiom in Windeseile anzueignen - Traum eines lesenden Professors?
Wirklich überzeugend - für die deutschen Leser freilich kaum zu entschlüsseln - kommt eher die lokale Mythologie daher, die Eco nicht grundlos auf die Idee brachte, sein Werk im heimischen Alessandria der Öffentlichkeit vorzustellen. Heute findet in diese elegante Industriestadt im östlichen Piemont, die der Welt neben Eco immerhin den Borsalino bescherte, kaum ein Tourist. Doch gerade diese relative Geschichtslosigkeit scheint Eco anzustacheln. Als ein zweiter Livius schreibt er seiner Stadt, die 1168 als Feste der abtrünnigen Städte gegen Barbarossa erbaut und nach Papst Alexander III. benannt wurde, den prallen Gründungsmythos. Einzig in den Schilderungen der rauhen Nebellandschaft am Fluß Tanaro und ihrer kauzig-neugierigen Ureinwohner findet das Buch zu jener atmosphärischen Dichte und Glaubwürdigkeit, die der ersonnenen Abtei der Mördermönche von der ersten Zeile an zu eigen war.
Nepper, Klepper, Prügelfänger
Wenn Eco schildert, wie Barbarossas schwäbische Söldner das Land um Alessandria unsicher machen, kann das durchaus auch ein raffiniertes Aufscheinen eigener Kindheitserinnerungen des Siebenundsechzigjährigen bedeuten. Mehrmals schildert er - wohl wider besseres Historienwissen - die Deutschen des zwölften Jahrhunderts als besondere Beschützer der Juden, auf daß den heutigen, von der Geschichte eines Schlechteren belehrten Lesern ein Licht aufgehe. Auch seine Jugendfreunde - unter denen eigentlich nur ein Möchtegern-Dichter, der wie so viele heutige Kollegen keine vernünftige Zeile zusammenbekommt, romanhafte Statur erreicht - hat Eco in einer verschrobenen Männerclique verewigt. Aber zu viel an diesem Buch ist zu arg konstruiert, um mitzureißen, und zu arg fabuliert, um als intellektuelle Denksportaufgabe zu überzeugen. Wie in manchen postmodernen Fabeln Calvinos erscheinen die Personen - der Titelheld voran - als Helden in Anführungszeichen - wobei die Frage, wofür sie denn die geistvolle Allegorie zu spielen haben, offenbleiben muß. Für einen drall pikaresken oder - wie es das schließliche Davonreiten des Helden auf einem Klepper nahelegt - donquichottesken Roman nach Art eines Grimmelshausen (auch dessen Simplicius kam als geschwätziger Naivling aus dem Wald) fehlt es dem Werk an echter Sinnlichkeit oder, kraß gesagt, an Brutalität.
Immerhin bietet "Baudolino" zwei erfrischende Lösungen für alte Mediävistenprobleme an. Was zog den alten Barbarossa bloß zu seinem fatalen Ritt ins Heilige Land? Für Eco war's weder Rittermut noch Frömmigkeit, sondern die Leichtgläubigkeit für die Geschichte des ebenso mythischen wie fernöstlichen Priesterkönigs Johannes, die der Ziehsohn seinem rotbärtigen Dienstherrn ins Ohr gesetzt hatte. Und der Badeunfall in Kilikien, der dem Kreuzzug des Kaisers ein feuchtes Ende setzte, war in Wahrheit ein - nein, diese einzige echte Kriminalstory, mit der Eco mal wieder Conan Doyle spielt und dem Thema "Mord in einem geschlossenen Zimmer" eine originelle Variante hinzufügt, sei hier besser nicht verraten.
Eco - irgend jemand muß das ja machen - erweist sich bei solchen Episoden als kundiger Konstrukteur, als edler Historienmaler, der seinem Publikum keine Monstrositäten zumutet, selbst wenn er wie diesmal gar zu oft von Monstern und Chimären erzählt. "Sei mein Pergament!" fordert der verbose Baudolino den byzantinischen Geschichtsschreiber Niceta auf, der am Ende naturgemäß den weisen Ratschlag erhält, die ganze Geschichte zu vergessen. Das eigene Leben in Pergament zu ritzen, das Erzählen von Lügen als Wahrheit unserer Tradition zu genießen und nichts zu vergessen - das sind immerhin drei geistvolle Botschaften, die der Professor Eco seiner Leserschaft aufs neue mitgibt. Leider indes ist allerhand von seiner jüngsten Konstruktion wie eine geduldige Einführung für Erstsemester formuliert. Ob der Autor darum das Buch seinem Enkel gewidmet hat?
DIRK SCHÜMER
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Eco verknüpft historische Fakten des 12. Jahrhunderts, Fabelwesen, saftige Liebesromanzen, aktuelle Politik und Glaubensfragen zu einem sprühenden Feuerwerk." (Welt am Sonntag)