Eine Revision gängiger Klischees über die Machtbeziehungen im ländlichen Raum Ostelbien.Das vorherrschende Bild vom ländlichen Ostelbien um 1900 ist schlicht: Hier sei es den adligen Großgrundbesitzern - den Junkern - gelungen, eine vormoderne, auf traditioneller Fügsamkeit der Landbevölkerung gegründete Herrschaft aufrechtzuerhalten. Und auf dieser ebenso anachronistischen wie soliden Basis hätten die Junker Deutschlands Weg in die Moderne unheilvoll gehemmt. Patrick Wagner revidiert dieses Bild, indem er die Geschichte lokaler Machteliten in Schlesien, Ost- und Westpreußen zwischen 1830 und 1910 rekonstruiert. Es zeigt sich, daß die Strukturen und Praktiken von Herrschaft, die Zusammensetzung der örtlichen Eliten und die Formen ihrer Kommunikation mit der Zentralmacht während des 19. Jahrhunderts einen Transformationsprozeß durchliefen. Zu Beginn des Kaiserreichs war die Bereitschaft der Bauern, sich den Führungsansprüchen der Junker zu fügen, längst geschwunden. Doch weder dieBauernschaft noch das Bürgertum der Landstädte konnten sich als entscheidender Machtfaktor etablieren. Vielmehr eroberte ab 1870 die Bürokratie ein deutliches Übergewicht gegenüber den lokalen Eliten. Eine Schlüsselrolle kam dabei den meist ortsfremden Landräten zu: Sie vermittelten die Kommunikation zwischen lokaler Gesellschaft und Staat und führten das ländliche Ostelbien auf einen spezifischen Weg in die Moderne.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.03.2006Aufruhr im Junkerland
Die oft aus dem Gutsbesitzermilieu stammenden Landräte bestimmten Ostelbiens Weg in die Moderne
Der spanische Romanautor Rafael Chirbes kommentierte den Prozeß des Schreibens einmal mit den Worten: "Ein mitfühlender Erzähler hat immer etwas von einer Hure. Mit jedem, auf den er sich einläßt, muß er intim werden." Patrick Wagner hat sich auf die Junker eingelassen und dabei versucht, seine Unschuld zu bewahren. Dies ist insofern eine beachtenswerte Leistung, da es sich um stark vermintes Terrain handelt. Spätestens seit Max Weber und Hugo Preuß wissen wir, daß die Junker ein deutsches Unglück sind. Im 19. Jahrhundert trugen sie unter anderem dazu bei, daß es - anders als zum Beispiel in Großbritannien - zu keiner composite élite aus Großbürgertum und Adel kam. Zeitgenossen, und zwar bürgerliche Liberale wie Marxisten, waren sich ausnahmsweise einig, wenn sie die Junker als Verhinderer von Fortschritt und Demokratie angriffen. "Simplicissimus" und "Kladderadatsch" karikierten unermüdlich den bulligen Junker und seinen Cousin, den schneidigen Offizier, die sich in ständiger Geldnot befanden. Junker galten als stark bildungsferne Gruppe, wahre Kunstbanausen, die fernab bürgerlicher Hochkultur Tizian für ein Pferd und das Wort Immatrikulation für einen jüdischen Feiertag hielten.
Auch im 20. Jahrhundert änderte sich kaum etwas an diesem Verdikt. Bis vor wenigen Jahren fand der Adel geringe Beachtung in der deutschen Geschichtswissenschaft und galt als absteigende Sozialformation, die anders als das Bürgertum kaum einen entscheidenden sozialgeschichtlichen Schlüssel zu den Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte darstellte. Nur bei der Rolle der Junker wurde regelmäßig eine Ausnahme gemacht: Keine andere Machtelite - so Heinrich August Winkler - habe "so früh, so aktiv und so erfolgreich an der Zerstörung der Weimarer Demokratie gearbeitet wie das ostelbische Junkertum".
Der deutsche Sonderweg galt demnach immer auch als Junkerweg. Es war folglich konsequent, daß Hagen Schulze und Heinz Reif eines der beliebtesten deutsche Haßobjekte im ersten Band der "Deutschen Erinnerungsorte" behandelten. Hier wurden auch die revisionistischen Arbeiten über die Junker in den Blickwinkel genommen, sowohl die neoborussische Geschichtsschreibung wie auch die adeligen Entsagungsmemoiren nach 1945. Eine junkerliche Autobiographiewelle hatte es schon in den zwanziger Jahren gegeben, und Werke dieser Art bildeten die Vorlage von Romanen wie Günther de Bruyns glorifizierender "Finckensteinsaga". Sie mag gute Literatur auf den Spuren Fontanes sein, gute Geschichtsschreibung war sie nicht.
Ein Schwelgen in langen Sommerabenden in Pommerland brachte Historiker kaum weiter. Für ein korrektes Junkerbild verlangte es in erster Linie nach einer größeren empirischen Basis. Und Patrick Wagner, der fern von den alten ideologischen Kämpfen steht, bietet jetzt einen wichtigen Beitrag. Seine Herangehensweise ist erfrischend nüchtern, sein Ziel klar definiert. Er möchte nicht die Rolle der Junker in den Parlamenten, im Militär und am Hof untersuchen, wo ihre Macht fest institutionalisiert blieb. Diese Aspekte haben in jüngster Zeit Stephan Malinowski und Eckart Conze beleuchtet. Wagner will vielmehr wissen, inwieweit die Gruppe der Junker im 19. Jahrhundert tatsächlich noch lokale Macht besaß.
Er entschlüsselt die komplexe Herrschaftspartizipation und Interaktion des Dreiecks Bauern - Junker - Beamte in Schlesien, Ost- und Westpreußen von 1830 bis 1910. Hierbei geht er in mehreren Stufen vor: Von der Zeit vor der Kreisordnungsreform von 1872 über ihre Umsetzung 1873/74 bis schließlich zur Neujustierung ländlicher Machtbeziehungen um 1900. Wagner nimmt von Anfang an das Faktum ernst, daß 1910 die Bauern in Ostelbien zwei Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche besaßen und der Rest den Gutsherren gehörte. Im Junkerland befand sich also schon rein faktisch sehr viel mehr Besitz in "Bauernhand" als landläufig angenommen. Gehörten um 1800 noch 90 Prozent der Rittergütter Adeligen, so waren 1885 nur noch 48 Prozent in ihrem Besitz. Nur ein Sechstel der Landbevölkerung arbeitete auf diesen Gütern, die Mehrzahl lebte in Landgemeinden und erfuhr den Schulzen als ihre Obrigkeit. Wie Wagner eindrucksvoll zeigt, bröckelte auf dem Land die Fassade der Ständeordnung aufgrund der verschobenen Machtverhältnisse im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker, lokale Besitz- und Machteliten, Bürokratie und ländliche Unterschichten opponierten und arrangierten sich in einem langen Transformationsprozeß. Schon Monika Wienfort konnte anhand der gutsherrlichen Patrimonialgerichtsbarkeit nachweisen, daß diese Institution lange vor 1848 erodierte. Der Gewinner dieser vielfältigen Prozesse war die Bürokratie. Die durchaus konfliktreiche Durchstaatlichung Ostelbiens wurde mittels einer Reform des Landratsamtes beschleunigt.
Landräte sind die Scharnierstelle in Wagners Studie. Man könnte ihm vorwerfen, daß seine Quellen vorwiegend amtlicher Provenienz sind und dadurch die Gefahr eines Tunnelblicks aus der Amtsstube entstanden ist. Doch seine Argumentation, daß die Landräte zu den wichtigsten "Brokern" vor Ort wurden, ist durchaus überzeugend. Obwohl sie vorzugsweise aus dem Gutsbesitzermilieu stammten, waren diese Landräte bereits professionell ausgebildet und sahen ihre Loyalitäten eindeutig auf der Seite der Bürokratie. Als kreisfremde Beamte unterstützten sie zwar die konservativen Teile der ländlichen Gesellschaft, brachten jedoch auf diesem Wege die Junker in eine sukzessive Abhängigkeitsposition. Es waren die Karriere-Landräte, die Ostelbiens mühsamen Weg in die Moderne bestimmten. Der Einfluß der Junker scheint sehr viel schwächer gewesen zu sein als bisher angenommen - ein Befund, der nicht in die große Meisterzählung des Sonderwegs paßt.
Daß die chronischen Niedergangsängste der Junker alles andere als unbegründet waren, hatte schon Ludwig Uhland erkannt: "Der Greis, in der zerstörten Hall' / Er sucht des Herrn verbrannt Gebein / Er sucht im grausen Trümmerfall / Die Scherben des Glücks von Edenhall."
KARINA URBACH
Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts. Wallstein Verlag, Göttingen 2005. 623 S., 54,- [Euro].
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Die oft aus dem Gutsbesitzermilieu stammenden Landräte bestimmten Ostelbiens Weg in die Moderne
Der spanische Romanautor Rafael Chirbes kommentierte den Prozeß des Schreibens einmal mit den Worten: "Ein mitfühlender Erzähler hat immer etwas von einer Hure. Mit jedem, auf den er sich einläßt, muß er intim werden." Patrick Wagner hat sich auf die Junker eingelassen und dabei versucht, seine Unschuld zu bewahren. Dies ist insofern eine beachtenswerte Leistung, da es sich um stark vermintes Terrain handelt. Spätestens seit Max Weber und Hugo Preuß wissen wir, daß die Junker ein deutsches Unglück sind. Im 19. Jahrhundert trugen sie unter anderem dazu bei, daß es - anders als zum Beispiel in Großbritannien - zu keiner composite élite aus Großbürgertum und Adel kam. Zeitgenossen, und zwar bürgerliche Liberale wie Marxisten, waren sich ausnahmsweise einig, wenn sie die Junker als Verhinderer von Fortschritt und Demokratie angriffen. "Simplicissimus" und "Kladderadatsch" karikierten unermüdlich den bulligen Junker und seinen Cousin, den schneidigen Offizier, die sich in ständiger Geldnot befanden. Junker galten als stark bildungsferne Gruppe, wahre Kunstbanausen, die fernab bürgerlicher Hochkultur Tizian für ein Pferd und das Wort Immatrikulation für einen jüdischen Feiertag hielten.
Auch im 20. Jahrhundert änderte sich kaum etwas an diesem Verdikt. Bis vor wenigen Jahren fand der Adel geringe Beachtung in der deutschen Geschichtswissenschaft und galt als absteigende Sozialformation, die anders als das Bürgertum kaum einen entscheidenden sozialgeschichtlichen Schlüssel zu den Wendepunkten der neueren deutschen Geschichte darstellte. Nur bei der Rolle der Junker wurde regelmäßig eine Ausnahme gemacht: Keine andere Machtelite - so Heinrich August Winkler - habe "so früh, so aktiv und so erfolgreich an der Zerstörung der Weimarer Demokratie gearbeitet wie das ostelbische Junkertum".
Der deutsche Sonderweg galt demnach immer auch als Junkerweg. Es war folglich konsequent, daß Hagen Schulze und Heinz Reif eines der beliebtesten deutsche Haßobjekte im ersten Band der "Deutschen Erinnerungsorte" behandelten. Hier wurden auch die revisionistischen Arbeiten über die Junker in den Blickwinkel genommen, sowohl die neoborussische Geschichtsschreibung wie auch die adeligen Entsagungsmemoiren nach 1945. Eine junkerliche Autobiographiewelle hatte es schon in den zwanziger Jahren gegeben, und Werke dieser Art bildeten die Vorlage von Romanen wie Günther de Bruyns glorifizierender "Finckensteinsaga". Sie mag gute Literatur auf den Spuren Fontanes sein, gute Geschichtsschreibung war sie nicht.
Ein Schwelgen in langen Sommerabenden in Pommerland brachte Historiker kaum weiter. Für ein korrektes Junkerbild verlangte es in erster Linie nach einer größeren empirischen Basis. Und Patrick Wagner, der fern von den alten ideologischen Kämpfen steht, bietet jetzt einen wichtigen Beitrag. Seine Herangehensweise ist erfrischend nüchtern, sein Ziel klar definiert. Er möchte nicht die Rolle der Junker in den Parlamenten, im Militär und am Hof untersuchen, wo ihre Macht fest institutionalisiert blieb. Diese Aspekte haben in jüngster Zeit Stephan Malinowski und Eckart Conze beleuchtet. Wagner will vielmehr wissen, inwieweit die Gruppe der Junker im 19. Jahrhundert tatsächlich noch lokale Macht besaß.
Er entschlüsselt die komplexe Herrschaftspartizipation und Interaktion des Dreiecks Bauern - Junker - Beamte in Schlesien, Ost- und Westpreußen von 1830 bis 1910. Hierbei geht er in mehreren Stufen vor: Von der Zeit vor der Kreisordnungsreform von 1872 über ihre Umsetzung 1873/74 bis schließlich zur Neujustierung ländlicher Machtbeziehungen um 1900. Wagner nimmt von Anfang an das Faktum ernst, daß 1910 die Bauern in Ostelbien zwei Drittel der landwirtschaftlichen Nutzfläche besaßen und der Rest den Gutsherren gehörte. Im Junkerland befand sich also schon rein faktisch sehr viel mehr Besitz in "Bauernhand" als landläufig angenommen. Gehörten um 1800 noch 90 Prozent der Rittergütter Adeligen, so waren 1885 nur noch 48 Prozent in ihrem Besitz. Nur ein Sechstel der Landbevölkerung arbeitete auf diesen Gütern, die Mehrzahl lebte in Landgemeinden und erfuhr den Schulzen als ihre Obrigkeit. Wie Wagner eindrucksvoll zeigt, bröckelte auf dem Land die Fassade der Ständeordnung aufgrund der verschobenen Machtverhältnisse im Laufe des 19. Jahrhunderts immer stärker, lokale Besitz- und Machteliten, Bürokratie und ländliche Unterschichten opponierten und arrangierten sich in einem langen Transformationsprozeß. Schon Monika Wienfort konnte anhand der gutsherrlichen Patrimonialgerichtsbarkeit nachweisen, daß diese Institution lange vor 1848 erodierte. Der Gewinner dieser vielfältigen Prozesse war die Bürokratie. Die durchaus konfliktreiche Durchstaatlichung Ostelbiens wurde mittels einer Reform des Landratsamtes beschleunigt.
Landräte sind die Scharnierstelle in Wagners Studie. Man könnte ihm vorwerfen, daß seine Quellen vorwiegend amtlicher Provenienz sind und dadurch die Gefahr eines Tunnelblicks aus der Amtsstube entstanden ist. Doch seine Argumentation, daß die Landräte zu den wichtigsten "Brokern" vor Ort wurden, ist durchaus überzeugend. Obwohl sie vorzugsweise aus dem Gutsbesitzermilieu stammten, waren diese Landräte bereits professionell ausgebildet und sahen ihre Loyalitäten eindeutig auf der Seite der Bürokratie. Als kreisfremde Beamte unterstützten sie zwar die konservativen Teile der ländlichen Gesellschaft, brachten jedoch auf diesem Wege die Junker in eine sukzessive Abhängigkeitsposition. Es waren die Karriere-Landräte, die Ostelbiens mühsamen Weg in die Moderne bestimmten. Der Einfluß der Junker scheint sehr viel schwächer gewesen zu sein als bisher angenommen - ein Befund, der nicht in die große Meisterzählung des Sonderwegs paßt.
Daß die chronischen Niedergangsängste der Junker alles andere als unbegründet waren, hatte schon Ludwig Uhland erkannt: "Der Greis, in der zerstörten Hall' / Er sucht des Herrn verbrannt Gebein / Er sucht im grausen Trümmerfall / Die Scherben des Glücks von Edenhall."
KARINA URBACH
Patrick Wagner: Bauern, Junker und Beamte. Lokale Herrschaft und Partizipation im Ostelbien des 19. Jahrhunderts. Wallstein Verlag, Göttingen 2005. 623 S., 54,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Aus Sicht von Rezensentin Karina Urbach leistet dieses Buch einen "wichtigen Beitrag", das ideologisch stark belastete Junkerbild neu zu beleuchten. Unvorbelastet und erfrischend nüchtern sieht sie dabei Autor Patrick Wagner zu Werke gehen. Besonders interessiere ihn die Frage, inwieweit die Gruppe der Junker im 19. Jahrhundert tatsächlich noch lokale Macht besessen habe. Dabei entschlüssele er mit besonderem Augenmerk auf Schlesien Ost- und Westpreußen die "komplexe Herrschaftspartizipation und Interaktion des Dreiecks Bauern - Junker - Beamte". In diesem Zusammenhang sieht die Rezensentin den Autor nachweisen, wie stark die Ständeordung bereits im 19. Jahrhundert gebröckelt sei und der Junker gar nicht die negative Rolle hätte spielen können, die ihm die Erzählung vom "deutschen Sonderweg", der immer auch als Junkerweg gegolten habe, stets zugewiesen habe. Leichte Bedenken äußert die Rezensentin nur, die erschlossenen Quellen könnten zu einseitig amtlicher Provenienz sein.
© Perlentaucher Medien GmbH
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