Ein Dorf im Moor in den 50er Jahren, ein Bauernhof heute - und wie das Weltgeschehen das Leben der Menschen auf dem Land veränderte. Davon erzählt Uta Ruge am Beispiel ihres Dorfes und ihres Bruders. Seit ein paar Tagen stehe ich morgens um sechs mit allen auf, um zu sehen, zu hören und zu riechen, wie sich Landwirtschaft heute anfühlt auf dem Hof, auf dem ich aufgewachsen bin. Ich ziehe die Stallklamotten an und gehe nach draußen. Mir fällt auf, dass ich den Blick hier nicht heben muss, um den Himmel zu sehen. Ob es regnet oder bald regnen wird, wie der Wind geht, ist sofort gewusst, in Auge, Ohr und Nase eingeströmt. Uta Ruge verwebt in Bauern, Land. Die Geschichte meines Dorfes im Weltzusammenhang die Erinnerung an das Leben auf dem Lande in den 50er Jahren mit der genauen Beobachtung der Veränderungen in der Landwirtschaft heute, mit der Chronik des Dorfes, den welthistorischen Zusammenhängen und der Kulturgeschichte, die das Leben der Bauern geprägt haben und prägen. Sie erzählt von harter Arbeit und Abhängigkeit, von der Besiedelung des Moors, von Entwässerung und den Zumutungen der Obrigkeit und der Bürokratie, von Armut und Auswanderung. Aber auch davon, wie man sich gegenseitig unterstützt und hilft und zusammen feiert, von dem Eifer der kleinen Kinder, die den Eltern zur Hand gehen und lernen, dass gegen Arbeit nichts hilft, außer sie zu tun.
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Rezensentin Sabine Seifert macht sich Gedanken über die Beziehung zwischen Stadt und Land mit Ute Ruges Sachbuch, dessen Mix aus Archivdokumenten, Zeitzeugenberichten und autobiografischen Momenten sie spannend und aufschlussreich findet. Wie Ruge ihrer eigenen bäuerlichen Herkunft aus einem niederelbischen Dorf nachspürt, Bauernkriege, politische Reformen und die Darstellung des Landlebens in der Kunst erkundet, heutige Agrarpolitik untersucht, scheint Seifert wertvoll, gerade weil die Autorin die Widersprüche der Agrarpolitik nicht künstlich aufzulösen versucht.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.09.2020Idyllisch ist es nur in der Rückschau
Bäuerliches Leben und Wirtschaften: Uta Ruge erinnert sich an ihr Heimatdorf und denkt über das Verhältnis von Stadt und Land nach.
Am Anfang ihres Buches erzählt Uta Ruge, wie sie sich einmal bei ihrem Vater beschwerte, dass nicht sie, sondern ihr jüngerer Bruder den Bauernhof erben würde. Ob sie ihn denn haben wolle, fragte der Vater zurück. Damit war die Situation geklärt. Uta Ruge studierte in Marburg und Berlin, ging ins Ausland, arbeitete als Journalistin. Für den unbeschwerten Urlaub auf dem Land aber war sie ein für alle Mal verloren: Wo ihre Freunde das Wohnmobil gern auf einer freien Fläche am Feldrand abstellen würden, sieht sie die Einfahrt zu einem Wirtschaftsweg, die freigehalten werden muss.
Ihr Buch ist mit diesem praktischen Blick aufs Land geschrieben, dessen idyllische Momente allenfalls in der Rückschau durchscheinen. Die Darstellung besteht aus drei Ebenen, die sich kapitelweise abwechseln. Mit "Heute" ist eine Reportage überschrieben, für die sie ein Jahr lang von Berlin aus zu allen Zeiten zwischen Saat und Ernte die Familie ihres Bruders besuchte. Dagegen erinnert sie sich in "Damals" an die Zeit der fünfziger und sechziger Jahre, als sie selbst auf dem Hof aufwuchs. Schließlich verbindet sie die Geschichte ihres Dorfes mit einer faktengesättigten Geschichte der Landwirtschaft von Babylon bis Brüssel, für die sie sich durch Archive grub und Dorfchroniken wälzte.
Das Dorf im Mündungsgebiet zwischen Elbe und Weser, von dem Ruge berichtet, entstand erst 1783 im Zuge der Moorkolonialisierung durch das Kurfürstentum Hannover. Zwanzig Ansiedler sollten das Gelände urbar machen, das bis dahin einen Großteil des Jahres unter Wasser stand. Die Bodenverbesserung lag ganz im Geist der Aufklärung, die durch die sogenannte Melioration die Ernährung einer wachsenden Bevölkerung sicherstellen wollte. Das funktionierte schon damals nicht exakt so, wie die Obrigkeit es auf dem Papier entworfen hatte. Damit ist auch schon der darstellerische Rahmen umrissen, in den Ruge das bäuerliche Wirtschaften bis heute stellt: eingezwängt zwischen den natürlichen Gegebenheiten, die durch immer neue technische Fortschritte bewältigt und optimiert werden, und den ökonomischen und politischen Bedingungen, mit denen es sich zu arrangieren gilt.
Ruge informiert kenntnisreich und im Detail über Bodenarten und Anbautechniken, sie lässt die Leser mitzittern, ob das angetrocknete Gras noch vor dem Regen eingefahren werden kann oder ob die Planen für das Mais-Silo dicht sind. Die gigantischen Maschinen, die zur Ernte aufgefahren werden, wirken wie Verkörperungen der ökonomischen Konzentrationsprozesse, denen die Landwirtschaft unterliegt. Doch was ist überhaupt ein großer Betrieb? Früher, erklärt der zufällig anwesende Prüfer des Milchkontrollvereins, hätte ein Betrieb wie der ihres Bruders mit einhundert Milchkühen als Großbetrieb gegolten, mittlerweile würde er die Grenze eher bei fünfhundert ziehen. Entsprechend werden oft Hunderte von Hektar an Feld oder Ackerland benötigt.
Für Stadtbewohner, die mit Quadratmeterzahlen allenfalls in Bezug auf die Größe ihrer Wohnung hantieren: Ein Hektar zählt 10 000 Quadratmeter, das sind etwa anderthalb Fußballfelder. Was immer noch winzig ist im Vergleich mit den sowjetischen Kolchosen oder den Farmen des Mittleren Westens, den großen Treibern der agrarischen Konzentration. Aber wenn Ruge schildert, wie der Hufschmied John Deere gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Illinois den selbstreinigenden Stahlpflug erfindet, dann weiß man, dass irgendwann auch das kleine Reihendorf in den trockengelegten Moormarschen nicht mehr von der weltumspannenden Entwicklung ausgenommen sein wird.
Heute sind dort von den ursprünglichen Ansiedlungen noch vier landwirtschaftliche Betriebe verblieben. Für mehr als zweihundert Jahre zeichnet Ruge aus alten Chroniken das Bild von Armut und Arbeit, von Kindersterblichkeit und Kriegen. Noch aus ihrer Kindheit erinnert sie sich daran, wie sehr den Menschen die harte Arbeit und die Schicksale körperlich eingezeichnet waren, ihre verkürzten Gliedmaßen und misstrauischen Blicke.
Demgegenüber gab es sicher keine Generation von Landbewohnern, die so gut ausgebildet war wie heute. Überrascht stellt Ruge fest, dass sich die Alternative zwischen Dableiben und Weggehen, wie sie für sie noch unausweichlich war, in Zeiten gut ausgebauter Verkehrswege zur nächsten größeren Stadt nicht mehr in der gleichen Schärfe stellt. Die Landwirte haben hochspezialisierte Ausbildungen absolviert, ihre Frauen erledigen die Verwaltung, und auch die sonstige Dorfbevölkerung arbeitet in technischen oder kaufmännischen Berufen.
Das Landleben könnte endlich eine erstrebenswerte Alternative zur Großstadt sein, wenn es da nicht ein tiefgreifendes kulturelles Missverständnis gäbe. Strukturelle Nachteile wie eine vielerorts zu schleppende Anbindung an das Glasfasernetz sind dabei allenfalls eine Folgeerscheinung. Grundlegender, und das ist das eigentliche Thema im Zentrum des Buches, ist die große Distanz, bisweilen das Unverständnis zwischen städtischem und bäuerlich-ländlichem Leben. Dabei standen wahrscheinlich die Vorzeichen nie so gut wie heute, das Verhältnis zwischen Stadt und Land neu zu denken. Es scheint derzeit so, als ob eine ganze Generation der in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Geborenen, die irgendwann in die großen Städte zogen, sich im Rückblick schreibend mit dieser Herkunft befassen würde. Ein aktuelles literarisches Beispiel ist der kürzlich erschienene "Dorfroman" von Christoph Peters (F.A.Z. vom 22. August 2020).
Im Buch ist es Ruges Bruder, der ironisch die urbanen Vorstellungen davon kommentiert, wie das Land zu funktionieren hätte, und bei dem unentschieden bleibt, ob ihm die sinkenden Milchpreise oder die geballte Antihaltung gegenüber der konventionellen Landwirtschaft mehr zusetzen. Offenkundig wird die Hilflosigkeit einer Agrar- und Umweltpolitik, deren Lösungsversuche mit großer Regelmäßigkeit das nächste Problem nach sich ziehen, wie beispielsweise die Förderung von Biogasanlagen die folgenreiche "Vermaisung" der Landschaft. "So ist das nämlich", zitiert Ruge ihren Bruder. "Ihr wollt ja alle Biostrom. Aber ihr habt keine Ahnung."
SONJA ASAL
Uta Ruge: "Bauern, Land". Die Geschichte
meines Dorfes im
Weltzusammenhang.
Antje Kunstmann Verlag, München 2020. 480 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bäuerliches Leben und Wirtschaften: Uta Ruge erinnert sich an ihr Heimatdorf und denkt über das Verhältnis von Stadt und Land nach.
Am Anfang ihres Buches erzählt Uta Ruge, wie sie sich einmal bei ihrem Vater beschwerte, dass nicht sie, sondern ihr jüngerer Bruder den Bauernhof erben würde. Ob sie ihn denn haben wolle, fragte der Vater zurück. Damit war die Situation geklärt. Uta Ruge studierte in Marburg und Berlin, ging ins Ausland, arbeitete als Journalistin. Für den unbeschwerten Urlaub auf dem Land aber war sie ein für alle Mal verloren: Wo ihre Freunde das Wohnmobil gern auf einer freien Fläche am Feldrand abstellen würden, sieht sie die Einfahrt zu einem Wirtschaftsweg, die freigehalten werden muss.
Ihr Buch ist mit diesem praktischen Blick aufs Land geschrieben, dessen idyllische Momente allenfalls in der Rückschau durchscheinen. Die Darstellung besteht aus drei Ebenen, die sich kapitelweise abwechseln. Mit "Heute" ist eine Reportage überschrieben, für die sie ein Jahr lang von Berlin aus zu allen Zeiten zwischen Saat und Ernte die Familie ihres Bruders besuchte. Dagegen erinnert sie sich in "Damals" an die Zeit der fünfziger und sechziger Jahre, als sie selbst auf dem Hof aufwuchs. Schließlich verbindet sie die Geschichte ihres Dorfes mit einer faktengesättigten Geschichte der Landwirtschaft von Babylon bis Brüssel, für die sie sich durch Archive grub und Dorfchroniken wälzte.
Das Dorf im Mündungsgebiet zwischen Elbe und Weser, von dem Ruge berichtet, entstand erst 1783 im Zuge der Moorkolonialisierung durch das Kurfürstentum Hannover. Zwanzig Ansiedler sollten das Gelände urbar machen, das bis dahin einen Großteil des Jahres unter Wasser stand. Die Bodenverbesserung lag ganz im Geist der Aufklärung, die durch die sogenannte Melioration die Ernährung einer wachsenden Bevölkerung sicherstellen wollte. Das funktionierte schon damals nicht exakt so, wie die Obrigkeit es auf dem Papier entworfen hatte. Damit ist auch schon der darstellerische Rahmen umrissen, in den Ruge das bäuerliche Wirtschaften bis heute stellt: eingezwängt zwischen den natürlichen Gegebenheiten, die durch immer neue technische Fortschritte bewältigt und optimiert werden, und den ökonomischen und politischen Bedingungen, mit denen es sich zu arrangieren gilt.
Ruge informiert kenntnisreich und im Detail über Bodenarten und Anbautechniken, sie lässt die Leser mitzittern, ob das angetrocknete Gras noch vor dem Regen eingefahren werden kann oder ob die Planen für das Mais-Silo dicht sind. Die gigantischen Maschinen, die zur Ernte aufgefahren werden, wirken wie Verkörperungen der ökonomischen Konzentrationsprozesse, denen die Landwirtschaft unterliegt. Doch was ist überhaupt ein großer Betrieb? Früher, erklärt der zufällig anwesende Prüfer des Milchkontrollvereins, hätte ein Betrieb wie der ihres Bruders mit einhundert Milchkühen als Großbetrieb gegolten, mittlerweile würde er die Grenze eher bei fünfhundert ziehen. Entsprechend werden oft Hunderte von Hektar an Feld oder Ackerland benötigt.
Für Stadtbewohner, die mit Quadratmeterzahlen allenfalls in Bezug auf die Größe ihrer Wohnung hantieren: Ein Hektar zählt 10 000 Quadratmeter, das sind etwa anderthalb Fußballfelder. Was immer noch winzig ist im Vergleich mit den sowjetischen Kolchosen oder den Farmen des Mittleren Westens, den großen Treibern der agrarischen Konzentration. Aber wenn Ruge schildert, wie der Hufschmied John Deere gegen Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Illinois den selbstreinigenden Stahlpflug erfindet, dann weiß man, dass irgendwann auch das kleine Reihendorf in den trockengelegten Moormarschen nicht mehr von der weltumspannenden Entwicklung ausgenommen sein wird.
Heute sind dort von den ursprünglichen Ansiedlungen noch vier landwirtschaftliche Betriebe verblieben. Für mehr als zweihundert Jahre zeichnet Ruge aus alten Chroniken das Bild von Armut und Arbeit, von Kindersterblichkeit und Kriegen. Noch aus ihrer Kindheit erinnert sie sich daran, wie sehr den Menschen die harte Arbeit und die Schicksale körperlich eingezeichnet waren, ihre verkürzten Gliedmaßen und misstrauischen Blicke.
Demgegenüber gab es sicher keine Generation von Landbewohnern, die so gut ausgebildet war wie heute. Überrascht stellt Ruge fest, dass sich die Alternative zwischen Dableiben und Weggehen, wie sie für sie noch unausweichlich war, in Zeiten gut ausgebauter Verkehrswege zur nächsten größeren Stadt nicht mehr in der gleichen Schärfe stellt. Die Landwirte haben hochspezialisierte Ausbildungen absolviert, ihre Frauen erledigen die Verwaltung, und auch die sonstige Dorfbevölkerung arbeitet in technischen oder kaufmännischen Berufen.
Das Landleben könnte endlich eine erstrebenswerte Alternative zur Großstadt sein, wenn es da nicht ein tiefgreifendes kulturelles Missverständnis gäbe. Strukturelle Nachteile wie eine vielerorts zu schleppende Anbindung an das Glasfasernetz sind dabei allenfalls eine Folgeerscheinung. Grundlegender, und das ist das eigentliche Thema im Zentrum des Buches, ist die große Distanz, bisweilen das Unverständnis zwischen städtischem und bäuerlich-ländlichem Leben. Dabei standen wahrscheinlich die Vorzeichen nie so gut wie heute, das Verhältnis zwischen Stadt und Land neu zu denken. Es scheint derzeit so, als ob eine ganze Generation der in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Geborenen, die irgendwann in die großen Städte zogen, sich im Rückblick schreibend mit dieser Herkunft befassen würde. Ein aktuelles literarisches Beispiel ist der kürzlich erschienene "Dorfroman" von Christoph Peters (F.A.Z. vom 22. August 2020).
Im Buch ist es Ruges Bruder, der ironisch die urbanen Vorstellungen davon kommentiert, wie das Land zu funktionieren hätte, und bei dem unentschieden bleibt, ob ihm die sinkenden Milchpreise oder die geballte Antihaltung gegenüber der konventionellen Landwirtschaft mehr zusetzen. Offenkundig wird die Hilflosigkeit einer Agrar- und Umweltpolitik, deren Lösungsversuche mit großer Regelmäßigkeit das nächste Problem nach sich ziehen, wie beispielsweise die Förderung von Biogasanlagen die folgenreiche "Vermaisung" der Landschaft. "So ist das nämlich", zitiert Ruge ihren Bruder. "Ihr wollt ja alle Biostrom. Aber ihr habt keine Ahnung."
SONJA ASAL
Uta Ruge: "Bauern, Land". Die Geschichte
meines Dorfes im
Weltzusammenhang.
Antje Kunstmann Verlag, München 2020. 480 S., geb., 28,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main