Schwarz-Gelb-Grün? Rot-Rot-Grün? Die politische Farbenlehre Deutschlands ist in Bewegung geraten, die »Westausdehnung« der Linken stellt die größte Veränderung der Parteienlandschaft seit 25 Jahren dar. Hinter den Pfeilen in den Graphiken der Meinungsforscher verbergen sich jedoch langfristige Trends: Traditionelle Milieus, auf die die Parteien über 50 Jahre lang zählen konnten, erodieren. Franz Walter zeichnet diese sozialen, demographischen und kulturellen Verschiebungen nach und analysiert die Situation der fünf im Bundestag vertretenen Parteien. Sein Buch bietet einen Wegweiser durch die Baustellen der bundesdeutschen Politik.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.11.2008Politik ohne Lager
Franz Walter seziert die deutschen Parteien und vermisst dabei die Unverwechselbarkeit früherer Zeiten.
Von Frank Decker
Als Vertreter einer historischen Spielart der Parteienforschung, die wenig theorielastig ist und ohne quantifizierende Methoden auskommt, gehört der Politologe Franz Walter bis heute zu den Außenseitern seiner Zunft. Anders als früher kann es sich der "Mainstream" allerdings nicht mehr leisten, Walters Arbeiten zu ignorieren. Zu immens ist die Produktivität dieses nimmermüden Autors. Und zu treffsicher sind - durch ihre stilistische Brillanz noch zusätzlich befördert - die meisten seiner Diagnosen. Dies musste auch der Präsident der Göttinger Universität lernen, der in Walter vor zwei Jahren allen Ernstes eine "wissenschaftliche Schwachstelle" der Hochschule ausgemacht zu haben glaubte, die es am besten loszuwerden gelte. Dass der Schuss nach hinten losging und der so Denunzierte sich dank lukrativer Angebote mehrerer Universitäten in Göttingen mit seiner Forschergruppe noch fester etablieren konnte, gehört zu den ironischen Fügungen, denen sich wahrscheinlich auch das jetzt vorliegende Buch mit verdankt.
Viele der Gedanken und Einsichten, die Walter hier vertritt, sind von ihm in ungezählten Artikeln der Tages- und Wochenpresse bereits vorgetragen worden. Dennoch ist es sinnvoll, sie jetzt im Rahmen einer geschlossenen Abhandlung zusammenhängend präsentiert zu bekommen. "Baustelle Deutschland" ist damit ein würdiger Nachfolger der vor acht Jahren von Walter in Koautorschaft mit Tobias Dürr vorgelegten "Heimatlosigkeit der Macht", die ebenfalls eine historisch tiefschürfende Bestandsaufnahme der Parteienlandschaft vornahm.
Dreh- und Angelpunkt der neuen Analyse ist die weiter vorangeschrittene Auflösung der milieugestützten, parteibildenden "Lager", denen die Parteien einst ihre Unverwechselbarkeit verdankten. So wenig wie die SPD heute noch die Partei der Arbeiter und die Union die Partei prinzipienfester Christen ist, so wenig sind die Liberalen eine Partei honoratiorenhafter Bürger und die Grünen eine Partei rebellischer Postmaterialisten geblieben. In der Anordnung der Parteienkapitel, die mit SPD und Linken beginnen und den Grünen enden, bewegt sich der Autor gesellschaftlich "von unten nach oben". Wenn die Repräsentationsfähigkeit der Parteien in der gesellschaftlichen Mitte abgenommen hat, so ist sie bei den Unterschichten heute kaum noch vorhanden. Hauptverursacherin und Hauptleidtragende dieser Entwicklung ist die SPD, die ihr Augenmerk einseitig auf die Angehörigen der aufstiegsorientierten Mittelschichten gerichtet und die Verlierer der ökonomischen Modernisierung darüber der Linken überlassen habe. In deren Populismus sieht Walter die natürliche Konsequenz einer in vergleichbarer Form auch in anderen europäischen Gesellschaften nachweisbaren sozialkulturellen Entleerung; zugleich komme darin ihr Sozialstaatskonservatismus zum Ausdruck, der an die Stelle eines wie immer gearteten linken Fortschrittsprojekts getreten sei.
Der Hoffnung der sozialdemokratischen Modernisierer, über eine vorsorgliche Politik der Chancengerechtigkeit das historische Bündnis von Mittel- und Unterschichten erneuern zu können, setzt Walter das nüchterne Bild einer Gesellschaft entgegen, in deren Mitte "sich im Kampf um Chancen über Bildung eine erbarmungslose Rivalität aufgetan" habe. So richtig dies sein mag, hinterlässt die Kritik an der "vorsorgenden" Konzeption dennoch einen unguten Beigeschmack, da der Autor sie weniger von der Sache her begründet als von der ihm unangenehm aufstoßenden "technokratischen Formensprache". Die Parallelen zur Planungseuphorie der ausklingenden sechziger Jahre wirken hier ziemlich aufgesetzt.
Bei den koalitionspolitischen Farbenspielen, in die das Buch unvermeidlich einmündet, hütet sich Walter vor einer klaren Festlegung, ob und, wenn ja, welche Dreierkonstellationen wir in Zukunft zu erwarten haben. Seiner Absage an eine Wahlrechtsreform wird man ebenso zustimmen müssen wie dem Plädoyer für einen unbefangeneren Umgang mit Minderheitsregierungen, die in anderen Vielparteiensystemen gang und gäbe sind. Ob plebiszitäre Elemente ein Mittel sein könnten, dem Oppositionsdefizit eines Regierungssystems entgegenzuwirken, das in Zukunft noch stärker als heute von Verhandlungszwängen geprägt sein wird - darüber hätte man wie über manches andere gerne mehr erfahren. Doch bestätigt dieses Verlangen nach klaren Antworten, nach etwas mehr Orientierung und Gewissheiten wohl nur die zentrale Botschaft dieser anregenden und einen gleichwohl etwas ratlos zurücklassenden Schrift: dass es solche Gewissheiten in der postmodernen Parteiendemokratie eben nicht mehr gibt.
Franz Walter: Baustelle Deutschland. Politik ohne Lagerbindung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 256 S., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Franz Walter seziert die deutschen Parteien und vermisst dabei die Unverwechselbarkeit früherer Zeiten.
Von Frank Decker
Als Vertreter einer historischen Spielart der Parteienforschung, die wenig theorielastig ist und ohne quantifizierende Methoden auskommt, gehört der Politologe Franz Walter bis heute zu den Außenseitern seiner Zunft. Anders als früher kann es sich der "Mainstream" allerdings nicht mehr leisten, Walters Arbeiten zu ignorieren. Zu immens ist die Produktivität dieses nimmermüden Autors. Und zu treffsicher sind - durch ihre stilistische Brillanz noch zusätzlich befördert - die meisten seiner Diagnosen. Dies musste auch der Präsident der Göttinger Universität lernen, der in Walter vor zwei Jahren allen Ernstes eine "wissenschaftliche Schwachstelle" der Hochschule ausgemacht zu haben glaubte, die es am besten loszuwerden gelte. Dass der Schuss nach hinten losging und der so Denunzierte sich dank lukrativer Angebote mehrerer Universitäten in Göttingen mit seiner Forschergruppe noch fester etablieren konnte, gehört zu den ironischen Fügungen, denen sich wahrscheinlich auch das jetzt vorliegende Buch mit verdankt.
Viele der Gedanken und Einsichten, die Walter hier vertritt, sind von ihm in ungezählten Artikeln der Tages- und Wochenpresse bereits vorgetragen worden. Dennoch ist es sinnvoll, sie jetzt im Rahmen einer geschlossenen Abhandlung zusammenhängend präsentiert zu bekommen. "Baustelle Deutschland" ist damit ein würdiger Nachfolger der vor acht Jahren von Walter in Koautorschaft mit Tobias Dürr vorgelegten "Heimatlosigkeit der Macht", die ebenfalls eine historisch tiefschürfende Bestandsaufnahme der Parteienlandschaft vornahm.
Dreh- und Angelpunkt der neuen Analyse ist die weiter vorangeschrittene Auflösung der milieugestützten, parteibildenden "Lager", denen die Parteien einst ihre Unverwechselbarkeit verdankten. So wenig wie die SPD heute noch die Partei der Arbeiter und die Union die Partei prinzipienfester Christen ist, so wenig sind die Liberalen eine Partei honoratiorenhafter Bürger und die Grünen eine Partei rebellischer Postmaterialisten geblieben. In der Anordnung der Parteienkapitel, die mit SPD und Linken beginnen und den Grünen enden, bewegt sich der Autor gesellschaftlich "von unten nach oben". Wenn die Repräsentationsfähigkeit der Parteien in der gesellschaftlichen Mitte abgenommen hat, so ist sie bei den Unterschichten heute kaum noch vorhanden. Hauptverursacherin und Hauptleidtragende dieser Entwicklung ist die SPD, die ihr Augenmerk einseitig auf die Angehörigen der aufstiegsorientierten Mittelschichten gerichtet und die Verlierer der ökonomischen Modernisierung darüber der Linken überlassen habe. In deren Populismus sieht Walter die natürliche Konsequenz einer in vergleichbarer Form auch in anderen europäischen Gesellschaften nachweisbaren sozialkulturellen Entleerung; zugleich komme darin ihr Sozialstaatskonservatismus zum Ausdruck, der an die Stelle eines wie immer gearteten linken Fortschrittsprojekts getreten sei.
Der Hoffnung der sozialdemokratischen Modernisierer, über eine vorsorgliche Politik der Chancengerechtigkeit das historische Bündnis von Mittel- und Unterschichten erneuern zu können, setzt Walter das nüchterne Bild einer Gesellschaft entgegen, in deren Mitte "sich im Kampf um Chancen über Bildung eine erbarmungslose Rivalität aufgetan" habe. So richtig dies sein mag, hinterlässt die Kritik an der "vorsorgenden" Konzeption dennoch einen unguten Beigeschmack, da der Autor sie weniger von der Sache her begründet als von der ihm unangenehm aufstoßenden "technokratischen Formensprache". Die Parallelen zur Planungseuphorie der ausklingenden sechziger Jahre wirken hier ziemlich aufgesetzt.
Bei den koalitionspolitischen Farbenspielen, in die das Buch unvermeidlich einmündet, hütet sich Walter vor einer klaren Festlegung, ob und, wenn ja, welche Dreierkonstellationen wir in Zukunft zu erwarten haben. Seiner Absage an eine Wahlrechtsreform wird man ebenso zustimmen müssen wie dem Plädoyer für einen unbefangeneren Umgang mit Minderheitsregierungen, die in anderen Vielparteiensystemen gang und gäbe sind. Ob plebiszitäre Elemente ein Mittel sein könnten, dem Oppositionsdefizit eines Regierungssystems entgegenzuwirken, das in Zukunft noch stärker als heute von Verhandlungszwängen geprägt sein wird - darüber hätte man wie über manches andere gerne mehr erfahren. Doch bestätigt dieses Verlangen nach klaren Antworten, nach etwas mehr Orientierung und Gewissheiten wohl nur die zentrale Botschaft dieser anregenden und einen gleichwohl etwas ratlos zurücklassenden Schrift: dass es solche Gewissheiten in der postmodernen Parteiendemokratie eben nicht mehr gibt.
Franz Walter: Baustelle Deutschland. Politik ohne Lagerbindung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008. 256 S., 10,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Erhellend scheint Benjamin Mikfeld - selbst SPD-Politiker - diese Analyse der deutschen Parteienlandschaft von Franz Walter zu finden. Er schätzt den Autor wegen seiner Fähigkeit, politische Parteien im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, als eine der "wenigen rühmlichen Ausnahmen" der Politologenzunft. So findet er in vorliegendem Buch einen aufschlussreichen Blick auf die diversen Schichten und Milieus, von der Globalisierungselite über die Mitte bis zu den neuen Unterschichten. Er unterstreicht Walters Analyse, die beiden großen Volksparteien würden vom Zentrum her erodieren, ihre Politik sei schal, ihre Impulse erloschen. Der Autor prognostiziere eine Entwicklung zum Vielparteiensystem, das von Widersprüchen nicht frei sei. Mikfeld hebt zudem Walters Plädoyer für mehr "plebiszitäre Ausdrucksmöglichkeiten" sowie seine überzeugende Kritik am Zustand an der politischen Linken hervor.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH