Mit diesem Buch liegt der zweite Band der auf sieben Bände angelegten Reihe zur Gesellschaftsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland am Beispiel Bayerns vor. Er beschäftigt sich mit ausgewählten Segmenten der bayerischen Gesellschaft und zeichnet deren Entwicklung zwischen Katastrophe, Boom und Wirtschaftskrise detailliert nach. Welche Rolle spielten Unternehmer im Prozess des Strukturwandels, der Bayern mehr und mehr zum Industrieland werden ließ? Wie reagierte das Handwerk auf die damit verbundenen Chancen und Risiken? Warum kam es nicht zur viel beschworenen "Panik im Mittelstand"? Wie fanden sich die Arbeiterbauern zwischen Tradition und Moderne zurecht? Wie veränderten sich Familienbeziehungen und Geschlechterverhältnisse? Wie ging man mit sozialen Problemen, Randgruppen und Subkulturen im Schatten des Wirtschaftswunders um? Fünf facettenreiche Studien bringen Licht in das Dunkel der westdeutschen Gesellschaftsgeschichte, die lange kaum beachtet worden ist. Aus dem Inhalt Thomas Schlemmer und Hans Woller, Einleitung Eva Moser, Unternehmer in Bayern. Der Landesverband der Bayerischen Industrie und sein Präsidium 1948 bis 1978 Christoph Boyer und Thomas Schlemmer, "Handwerkerland Bayern"? Entwicklung, Organisation und Politik des bayerischen Handwerks 1945 bis 1975 Andreas Eichmüller, "I hab' nie viel verdient, weil i immer g'schaut hab', daß as Anwesen mitgeht." Arbeiterbauern in Bayern nach 1945 Christiane Kuller, "Stiefkind der Gesellschaft" oder "Trägerin der Erneuerung"? Familien und Familienpolitik in Bayern 1945 bis 1974 Wilfried Rudloff, Im Schatten des Wirtschaftswunders. Soziale Probleme, Randgruppen und Subkulturen 1949 bis 1973 Aus der Presse: "Insgesamt verdient der Sammelband eine weite Rezeption nicht nur in zeithistorischen Fachkreisen. Die Beiträge vermitteln nicht allein einen gesellschaftspolitischen Rückblick auf die Frühperiode der Bundesrepublik, sie führen ebenso vor Augen, daß viele aktuelle Probleme und die diskutierten Lösungsansätze durchaus nicht neu sind und eine aufmerksame Rückbesinnung bei der Suche nach neuen Strategien hilfreich sein könnte." Michael Hollman, in: FAZ vom 27.12.02 "'Bayern im Bund' wird nicht nur endlich Licht in die dunkle Geschichte der fünfziger und sechziger Jahre bringen, sondern auf lange Zeit das Standardwerk zum Thema sein; [...]" Christian Jostmann, in: Süddeutsche Zeitung vom 29.01.03
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2002Schatten auf dem Wunderbild
Von der Kriegsfolgengesellschaft zur Boomgesellschaft: Bayern 1949 bis 1973
Thomas Schlemmer/Hans Woller (Herausgeber): Bayern im Bund. Band 2: Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973. R. Oldenbourg Verlag, München 2002. VI und 484 Seiten, 39,80 [Euro].
"Diese Gesellschaft integriert aber auch alles!" Der Stoßseufzer Friedrich Pollocks, eines Mitbegründers der Frankfurter Schule, bringt eines der zentralen Erfolgsmomente der frühen Bundesrepublik auf den Punkt. Die hohe Absorptionsfähigkeit der Bundesrepublik für soziale Problemlagen ermöglichte ebenso erstaunliche Transformationsprozesse im sozialen Bereich, wie sie das Modell der sozialen Marktwirtschaft in der Ökonomie bewirkte. Das Wirtschaftswunder wurde flankiert durch ein Gesellschaftswunder.
Zutreffend wird die deutsche Gesellschaft nach 1945 oft als Zusammenbruchsgesellschaft charakterisiert. Millionen Tote, Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, zerstörte Familien, Arbeitslosigkeit und Entwurzelung prägen das Bild. Die rasche Neuformierung der Gesellschaft wurde ermöglicht durch den rasanten wirtschaftlichen Wiederaufbau, der die gesellschaftlichen Strukturen nicht unberührt lassen konnte. Dies gilt insbesondere für Bayern, dessen Wandlung von einer vergleichsweise rückständigen Agrarregion binnen 20 Jahren zu einer prosperierenden und bundesweit führenden Wirtschaftsregion Gegenstand des ersten Bands der Reihe "Bayern im Bund" des Instituts für Zeitgeschichte (vgl. F.A.Z. vom 30. April 2002) ist.
Der zweite Band ist der "Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973" gewidmet. Gravierende Bevölkerungsverschiebungen stellten die Nachkriegsgesellschaft vor schwere Herausforderungen: Kein Bundesland nahm so viele Flüchtlinge und Vertriebene auf wie Bayern, das aber gleichzeitig bis Ende der fünfziger Jahre wegen der - noch - schlechteren wirtschaftlichen Bedingungen Abwanderungen in beträchtlichem Umfang zu verkraften hatte. Anfang der sechziger Jahre wurde Bayern dagegen in der Folge einer überdurchschnittlichen wirtschaftlichen Prosperität ein ausgesprochenes Zuwanderungsland, in dem nicht nur deutsche Arbeitnehmer aus anderen Bundesländern ein Auskommen fanden, sondern auch eine große Zahl von Gastarbeitern eine Zukunft suchte.
Die durchgreifende Industrialisierung zwang die Landwirtschaft zur Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Viele Bauern mußten ihre Betriebe aufgeben und als Industriearbeiter ein neues Auskommen finden, viele konnten ihre Höfe nur als Nebenerwerbsbetriebe weiterführen. Auch das Handwerk stand unter erheblichem Anpassungsdruck. Während manche traditionellen Handwerke wie etwa die Schuster der Konsumgüterindustrie zum Opfer fielen und großenteils verschwanden, gingen zahlreiche Betriebe eine Symbiose mit der regionalen, für Bayern typischen klein- und mittelbetrieblichen Industrie ein und sicherten so dauerhaft ihre Existenz. Obwohl die Erosion des ländlichen Raums zu den signifikanten Entwicklungen der frühen Bundesrepublik gehörte und auch in Bayern die konfessionellen Milieus sich auflockerten, blieben in Bayern doch gerade wegen der ländlichen Herkunft der Arbeitnehmerschaft ältere Traditionen wirkmächtiger als anderswo. Die Agrargesellschaft - so formulieren es die Herausgeber des Sammelbands - wandelte sich zur "Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft auf agrarischer Grundierung" mit nachhaltigen Folgen für die politischen Mentalitäten und die politische Kultur. Die Verbindung von Fortschritt und Tradition und die hohe Identifikation auch der wirtschaftlichen Eliten mit dem Land wurden zu einem bayerischen Charakteristikum.
Daß in Bayern die Uhren dennoch nicht anders gingen als in den übrigen Ländern der Bundesrepublik, zeigen die Beiträge über den Landesverband der bayerischen Industrie, zur Entwicklung des bayerischen Handwerks, über die Arbeiterbauern und über Familien und Familienpolitik in Bayern. Die gesellschaftlichen Prozesse nehmen in der Regel einen den Bundestrends folgenden Verlauf. Da der Bund seine Gesetzgebungsspielräume im sozialen Bereich weitgehend ausschöpfte, konnten sich Unterschiede und Divergenzen, wenn überhaupt, nur durch die von der bayerischen Staatsregierung gesetzten Akzente ergeben. Verstärkt bemühte sich Bayern nach dem bundespolitischen Paradigmenwechsel 1969 um ein eigenes sozialpolitisches Profil und um Konkurrenzmodelle zu den sozialliberalen Reformansätzen.
Diese bundesweite Homogenität während der ersten 25 Jahre der Bundesrepublik ergab sich aus der allgemeinen Aufwärtsentwicklung der westdeutschen Boomgesellschaft. Die Schattenseiten des Wirtschaftswunders geraten dagegen leicht aus dem Blick. Auch die Boomgesellschaft hatte aber Verlierer beziehungsweise Randgruppen. Diese sozialen Randlagen nimmt Wilfried Rudloff in den Blick. Da die Landesebene nicht das "Hauptgravitationsfeld des Sozialstaats" darstellt, setzt der Beitrag nicht bei den politischen Entscheidungen an, sondern bei den sich wandelnden sozialen Problemen. Die "Kriegsfolgengesellschaft" räumte während des ersten Jahrzehnts den Bedürfnissen der Kriegsopfer und der "Berufsnot der Jugend" absoluten Vorrang ein. In beiden Fällen erfolgte die soziale Integration über die Eingliederung in das Erwerbsleben und war bis Mitte der fünfziger Jahre im wesentlichen abgeschlossen.
Die Verknüpfung von sozialer Sicherung und Teilhabe am Erwerbsleben hatte freilich eine heute weitgehend in Vergessenheit geratene Kehrseite. Dem als Grundlage sozialer Sicherung faktisch anerkannten Recht auf Arbeit korrespondierte im öffentlichen Bewußtsein eine Arbeitspflicht. Jugendlichen, aber auch Obdachlosen und Nichtseßhaften, die als arbeitsunwillig erschienen, drohte in Bayern und anderswo die Einweisung in ein Arbeitshaus, eine zunächst erzieherisch verstandene Maßnahme, faktisch aber auch eine Form von Arbeitszwang, der das Bundesverfassungsgericht erst 1974 ein Ende bereitete.
Mitte der fünfziger Jahre rückten andere Randgruppen in das öffentliche Bewußtsein, die als Problemgruppen zuvor im sozialen Kernschatten gelegen oder bis dahin nicht über eine starke öffentliche Repräsentanz verfügt hatten: alte Menschen, geistig Behinderte und die in Fürsorgeheimen lebenden Jugendlichen. Diese drei Gruppen haben gemein, daß die Gesellschaft aus unterschiedlichen Gründen bis dahin dazu neigte, sie an den Rand zu drängen und zu isolieren. Ein neues soziales Bewußtsein ließ dieses Grundkonzept unter den Bedingungen der Wohlstandsgesellschaft zunehmend als fragwürdig erscheinen und forderte staatliche Modernisierungsprogramme.
Nachdem die Rentenreform von 1957 das Problem der Altersarmut wesentlich entschärft hatte, war Altenpolitik in den sechziger Jahren vor allem Altenhilfepolitik, die darauf abzielte, alte Menschen aus ihrer Isolierung zu befreien und wieder stärker am sozialen Alltag teilhaben zu lassen. Flexible, auch ambulante Betreuungsangebote traten zunehmend neben das traditionelle Altenheim. In gleicher Weise zielte auch die Modernisierung der Betreuung geistig Behinderter, die vielfach noch als bildungsunfähig und sogar gemeingefährlich galten, stärker auf die Einbeziehung in das allgemeine Leben. Schulische Integrationsbemühungen und die Einrichtung von Behindertenwerkstätten markieren diese Entwicklung. Und schließlich wurde auch in der Heimerziehung das Prinzip der Protektion (der Gesellschaft) durch das der Integration abgelöst. Das System der Fürsorgeheime wurde ergänzt um offenere Konzepte des betreuten Zusammenlebens und Hereinwachsens in die Gesellschaft. Endmarken für diese Modernisierungsprozesse kann Rudloff nicht bezeichnen, in allen drei Bereichen ist die Entwicklung bis heute stark im Fluß, auch wenn das öffentliche Interesse zwischenzeitlich stark zurückgegangen ist.
Dieses Interesse verlagerte sich Mitte der sechziger Jahre stärker auf zwei neue Problemgruppen, die von der Gesellschaft als besorgniserregend, wenn nicht sogar als bedrohlich empfunden wurden: die Gastarbeiter und die alternative Subkultur. Letztere macht Rudloff ausschnitthaft an der Drogenszene sichtbar. Das Drogenproblem war in den sechziger Jahren nicht neu, wurde aber verstärkt wahrgenommen, als es sich mit gesellschaftskritischen, nonkonformistischen Strömungen verband und der "süchtige Gammler" zum gesellschaftlichen Schreckbild avancierte. Die in der gesamten Bundesrepublik zu beobachtende Konzeptionslosigkeit im Umgang mit dem Problem herrschte auch in Bayern. Wenn es mit der Zeit aus den Schlagzeilen verschwand, darf das nicht als Erfolg bewertet werden, das Problem ist bis heute ungelöst.
Bezogen auf die Gastarbeiter, konkurrierte in der Politik das Rotations- mit dem Integrationsprinzip; und hier wird erstmals ein deutlicher bayerischer Akzent sichtbar. Während die Bundespolitik und viele Länder seit dem Beginn der sozialliberalen Ära stärker auf die dauerhafte Integration der Gastarbeiter und ihrer Kinder ausgerichtet waren, hielt die bayerische Staatsregierung an ihrer Position fest, daß Gastarbeiter grundsätzlich nach einer begrenzten Anzahl von Arbeitsjahren in Deutschland mit ihren Familien in ihre Heimatländer zurückkehren sollten.
Wilfried Rudloff hat mit seinem Beitrag sicherlich keine Geschichte der Unterschichten in der Bundesrepublik vorgelegt, mit seiner Studie hat er jedoch den Weg dorthin pionierhaft vorgezeichnet. Insgesamt verdient der Sammelband eine weite Rezeption nicht nur in zeithistorischen Fachkreisen. Die Beiträge vermitteln nicht allein einen gesellschaftspolitischen Rückblick auf die Frühperiode der Bundesrepublik, sie führen ebenso vor Augen, daß viele aktuelle Probleme und die diskutierten Lösungsansätze durchaus nicht neu sind und eine aufmerksame Rückbesinnung bei der Suche nach neuen Strategien hilfreich sein könnte.
MICHAEL HOLLMANN
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von der Kriegsfolgengesellschaft zur Boomgesellschaft: Bayern 1949 bis 1973
Thomas Schlemmer/Hans Woller (Herausgeber): Bayern im Bund. Band 2: Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973. R. Oldenbourg Verlag, München 2002. VI und 484 Seiten, 39,80 [Euro].
"Diese Gesellschaft integriert aber auch alles!" Der Stoßseufzer Friedrich Pollocks, eines Mitbegründers der Frankfurter Schule, bringt eines der zentralen Erfolgsmomente der frühen Bundesrepublik auf den Punkt. Die hohe Absorptionsfähigkeit der Bundesrepublik für soziale Problemlagen ermöglichte ebenso erstaunliche Transformationsprozesse im sozialen Bereich, wie sie das Modell der sozialen Marktwirtschaft in der Ökonomie bewirkte. Das Wirtschaftswunder wurde flankiert durch ein Gesellschaftswunder.
Zutreffend wird die deutsche Gesellschaft nach 1945 oft als Zusammenbruchsgesellschaft charakterisiert. Millionen Tote, Millionen Flüchtlinge und Vertriebene, zerstörte Familien, Arbeitslosigkeit und Entwurzelung prägen das Bild. Die rasche Neuformierung der Gesellschaft wurde ermöglicht durch den rasanten wirtschaftlichen Wiederaufbau, der die gesellschaftlichen Strukturen nicht unberührt lassen konnte. Dies gilt insbesondere für Bayern, dessen Wandlung von einer vergleichsweise rückständigen Agrarregion binnen 20 Jahren zu einer prosperierenden und bundesweit führenden Wirtschaftsregion Gegenstand des ersten Bands der Reihe "Bayern im Bund" des Instituts für Zeitgeschichte (vgl. F.A.Z. vom 30. April 2002) ist.
Der zweite Band ist der "Gesellschaft im Wandel 1949 bis 1973" gewidmet. Gravierende Bevölkerungsverschiebungen stellten die Nachkriegsgesellschaft vor schwere Herausforderungen: Kein Bundesland nahm so viele Flüchtlinge und Vertriebene auf wie Bayern, das aber gleichzeitig bis Ende der fünfziger Jahre wegen der - noch - schlechteren wirtschaftlichen Bedingungen Abwanderungen in beträchtlichem Umfang zu verkraften hatte. Anfang der sechziger Jahre wurde Bayern dagegen in der Folge einer überdurchschnittlichen wirtschaftlichen Prosperität ein ausgesprochenes Zuwanderungsland, in dem nicht nur deutsche Arbeitnehmer aus anderen Bundesländern ein Auskommen fanden, sondern auch eine große Zahl von Gastarbeitern eine Zukunft suchte.
Die durchgreifende Industrialisierung zwang die Landwirtschaft zur Anpassung an die neuen Gegebenheiten. Viele Bauern mußten ihre Betriebe aufgeben und als Industriearbeiter ein neues Auskommen finden, viele konnten ihre Höfe nur als Nebenerwerbsbetriebe weiterführen. Auch das Handwerk stand unter erheblichem Anpassungsdruck. Während manche traditionellen Handwerke wie etwa die Schuster der Konsumgüterindustrie zum Opfer fielen und großenteils verschwanden, gingen zahlreiche Betriebe eine Symbiose mit der regionalen, für Bayern typischen klein- und mittelbetrieblichen Industrie ein und sicherten so dauerhaft ihre Existenz. Obwohl die Erosion des ländlichen Raums zu den signifikanten Entwicklungen der frühen Bundesrepublik gehörte und auch in Bayern die konfessionellen Milieus sich auflockerten, blieben in Bayern doch gerade wegen der ländlichen Herkunft der Arbeitnehmerschaft ältere Traditionen wirkmächtiger als anderswo. Die Agrargesellschaft - so formulieren es die Herausgeber des Sammelbands - wandelte sich zur "Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft auf agrarischer Grundierung" mit nachhaltigen Folgen für die politischen Mentalitäten und die politische Kultur. Die Verbindung von Fortschritt und Tradition und die hohe Identifikation auch der wirtschaftlichen Eliten mit dem Land wurden zu einem bayerischen Charakteristikum.
Daß in Bayern die Uhren dennoch nicht anders gingen als in den übrigen Ländern der Bundesrepublik, zeigen die Beiträge über den Landesverband der bayerischen Industrie, zur Entwicklung des bayerischen Handwerks, über die Arbeiterbauern und über Familien und Familienpolitik in Bayern. Die gesellschaftlichen Prozesse nehmen in der Regel einen den Bundestrends folgenden Verlauf. Da der Bund seine Gesetzgebungsspielräume im sozialen Bereich weitgehend ausschöpfte, konnten sich Unterschiede und Divergenzen, wenn überhaupt, nur durch die von der bayerischen Staatsregierung gesetzten Akzente ergeben. Verstärkt bemühte sich Bayern nach dem bundespolitischen Paradigmenwechsel 1969 um ein eigenes sozialpolitisches Profil und um Konkurrenzmodelle zu den sozialliberalen Reformansätzen.
Diese bundesweite Homogenität während der ersten 25 Jahre der Bundesrepublik ergab sich aus der allgemeinen Aufwärtsentwicklung der westdeutschen Boomgesellschaft. Die Schattenseiten des Wirtschaftswunders geraten dagegen leicht aus dem Blick. Auch die Boomgesellschaft hatte aber Verlierer beziehungsweise Randgruppen. Diese sozialen Randlagen nimmt Wilfried Rudloff in den Blick. Da die Landesebene nicht das "Hauptgravitationsfeld des Sozialstaats" darstellt, setzt der Beitrag nicht bei den politischen Entscheidungen an, sondern bei den sich wandelnden sozialen Problemen. Die "Kriegsfolgengesellschaft" räumte während des ersten Jahrzehnts den Bedürfnissen der Kriegsopfer und der "Berufsnot der Jugend" absoluten Vorrang ein. In beiden Fällen erfolgte die soziale Integration über die Eingliederung in das Erwerbsleben und war bis Mitte der fünfziger Jahre im wesentlichen abgeschlossen.
Die Verknüpfung von sozialer Sicherung und Teilhabe am Erwerbsleben hatte freilich eine heute weitgehend in Vergessenheit geratene Kehrseite. Dem als Grundlage sozialer Sicherung faktisch anerkannten Recht auf Arbeit korrespondierte im öffentlichen Bewußtsein eine Arbeitspflicht. Jugendlichen, aber auch Obdachlosen und Nichtseßhaften, die als arbeitsunwillig erschienen, drohte in Bayern und anderswo die Einweisung in ein Arbeitshaus, eine zunächst erzieherisch verstandene Maßnahme, faktisch aber auch eine Form von Arbeitszwang, der das Bundesverfassungsgericht erst 1974 ein Ende bereitete.
Mitte der fünfziger Jahre rückten andere Randgruppen in das öffentliche Bewußtsein, die als Problemgruppen zuvor im sozialen Kernschatten gelegen oder bis dahin nicht über eine starke öffentliche Repräsentanz verfügt hatten: alte Menschen, geistig Behinderte und die in Fürsorgeheimen lebenden Jugendlichen. Diese drei Gruppen haben gemein, daß die Gesellschaft aus unterschiedlichen Gründen bis dahin dazu neigte, sie an den Rand zu drängen und zu isolieren. Ein neues soziales Bewußtsein ließ dieses Grundkonzept unter den Bedingungen der Wohlstandsgesellschaft zunehmend als fragwürdig erscheinen und forderte staatliche Modernisierungsprogramme.
Nachdem die Rentenreform von 1957 das Problem der Altersarmut wesentlich entschärft hatte, war Altenpolitik in den sechziger Jahren vor allem Altenhilfepolitik, die darauf abzielte, alte Menschen aus ihrer Isolierung zu befreien und wieder stärker am sozialen Alltag teilhaben zu lassen. Flexible, auch ambulante Betreuungsangebote traten zunehmend neben das traditionelle Altenheim. In gleicher Weise zielte auch die Modernisierung der Betreuung geistig Behinderter, die vielfach noch als bildungsunfähig und sogar gemeingefährlich galten, stärker auf die Einbeziehung in das allgemeine Leben. Schulische Integrationsbemühungen und die Einrichtung von Behindertenwerkstätten markieren diese Entwicklung. Und schließlich wurde auch in der Heimerziehung das Prinzip der Protektion (der Gesellschaft) durch das der Integration abgelöst. Das System der Fürsorgeheime wurde ergänzt um offenere Konzepte des betreuten Zusammenlebens und Hereinwachsens in die Gesellschaft. Endmarken für diese Modernisierungsprozesse kann Rudloff nicht bezeichnen, in allen drei Bereichen ist die Entwicklung bis heute stark im Fluß, auch wenn das öffentliche Interesse zwischenzeitlich stark zurückgegangen ist.
Dieses Interesse verlagerte sich Mitte der sechziger Jahre stärker auf zwei neue Problemgruppen, die von der Gesellschaft als besorgniserregend, wenn nicht sogar als bedrohlich empfunden wurden: die Gastarbeiter und die alternative Subkultur. Letztere macht Rudloff ausschnitthaft an der Drogenszene sichtbar. Das Drogenproblem war in den sechziger Jahren nicht neu, wurde aber verstärkt wahrgenommen, als es sich mit gesellschaftskritischen, nonkonformistischen Strömungen verband und der "süchtige Gammler" zum gesellschaftlichen Schreckbild avancierte. Die in der gesamten Bundesrepublik zu beobachtende Konzeptionslosigkeit im Umgang mit dem Problem herrschte auch in Bayern. Wenn es mit der Zeit aus den Schlagzeilen verschwand, darf das nicht als Erfolg bewertet werden, das Problem ist bis heute ungelöst.
Bezogen auf die Gastarbeiter, konkurrierte in der Politik das Rotations- mit dem Integrationsprinzip; und hier wird erstmals ein deutlicher bayerischer Akzent sichtbar. Während die Bundespolitik und viele Länder seit dem Beginn der sozialliberalen Ära stärker auf die dauerhafte Integration der Gastarbeiter und ihrer Kinder ausgerichtet waren, hielt die bayerische Staatsregierung an ihrer Position fest, daß Gastarbeiter grundsätzlich nach einer begrenzten Anzahl von Arbeitsjahren in Deutschland mit ihren Familien in ihre Heimatländer zurückkehren sollten.
Wilfried Rudloff hat mit seinem Beitrag sicherlich keine Geschichte der Unterschichten in der Bundesrepublik vorgelegt, mit seiner Studie hat er jedoch den Weg dorthin pionierhaft vorgezeichnet. Insgesamt verdient der Sammelband eine weite Rezeption nicht nur in zeithistorischen Fachkreisen. Die Beiträge vermitteln nicht allein einen gesellschaftspolitischen Rückblick auf die Frühperiode der Bundesrepublik, sie führen ebenso vor Augen, daß viele aktuelle Probleme und die diskutierten Lösungsansätze durchaus nicht neu sind und eine aufmerksame Rückbesinnung bei der Suche nach neuen Strategien hilfreich sein könnte.
MICHAEL HOLLMANN
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