König Ludwig II. von Bayern kennt alle Welt. Über seinen Bruder Otto ist nur wenig bekannt. In der Aufzählung der bayerischen Könige wird Otto zumeist regelrecht vergessen oder gar mit seinem Onkel, König Otto I. von Griechenland (1815-1867), verwechselt. Er verkümmert zur Randnotiz in Bayerns Geschichte, siechte er doch mehr als die Hälfte seines Lebens, an einer unheimlichen Geisteskrankheit leidend, in Schloss Fürstenried dahin, ohne auch nur eine Stunde lang zu regieren. Dabei ist der Lebensweg des Prinzen und späteren Königs Otto I. ebenso aufregend wie der seines Bruders Ludwig. - Wer war Otto? Wie unterschied er sich von seinem älteren Bruder Ludwig? Welches Verhältnis hatten die Brüder zueinander und welche Bedeutung hatte Otto für Ludwig? War Otto wirklich geisteskrank? Diese und viele andere Details werden anhand belegbarer Fakten untersucht. - Otto, der dieselbe Erziehung genoss wie Ludwig, der in derselben Umgebung aufwuchs und der zu seinem Bruder zeitlebens Kontakt hielt, eröffnet durch Einblicke in sein tragisches Schicksal neue, überraschende Erkenntnisse über Verhaltensweisen und Aktivitäten seines berühmten Bruders. - Der bekannte Ludwig II.-Biograph Alfons Schweiggert setzt dem Schattenkönig Otto I. mit diesem spannenden Lebensbild ein ergreifendes Denkmal.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 16.11.2015Der Schattenkönig
Alfons Schweiggert hat eine 300-seitige Biografie über das Leben des geisteskranken Otto I. verfasst.
Vor allem die Akte, in der seine Persönlichkeitsauflösung dokumentiert ist, ist ein bedrückendes Dokument.
VON HANS KRATZER
München – Wer die Behauptung aufstellt, das Königreich Bayern (1806 bis 1918) habe insgesamt sechs Könige erlebt, erntet in der Regel sofort Widerspruch – es seien doch gewiss nur fünf Könige und ein Prinzregent gewesen. Das stimmt freilich nicht, denn bei der Fünferreihe der bayerischen Könige fehlt ein Name. Tatsächlich standen in Bayern nicht nur zwei Maxen und drei Ludwige an der Spitze des Königreichs, sondern auch ein Mann namens Otto I. (1848 bis 1916), der allerdings nie ins Rampenlicht vorrückte und deshalb längst vergessen ist. Dabei trug er drei Jahrzehnte lang den Titel „König von Bayern“, länger als jeder andere König. Allerdings war er nur ein Schattenkönig.
Otto von Bayern war regierungsunfähig, weil sich bei ihm nach der Blüte der Jugend eine Geisteskrankheit bemerkbar machte. Er war sportlich, gutaussehend und charmant und hätte nach dem mysteriösen Tod seines Bruder Ludwig II. anno 1886 ein umschwärmter König werden können. Zwar wurde er als König installiert, aber trotz dieser Würde siechte er die Hälfte seines Lebens dahin, ohne auch nur eine Stunde zu regieren. Die Staatsgeschäfte übernahm der Onkel, Prinz Luitpold, der Bayern als Prinzregent bis 1912 regieren sollte. Überdies wird Otto gerne mit einem anderen Onkel verwechselt, der als König Otto I. von Griechenland (1815 bis 1867) in die Annalen einging und ebenfalls eine sehr unglückliche Existenz war. Die gute alte Zeit, die all diese Männer verkörpern, war schon mit Blick auf deren Biografien eindeutig eine verworrene Zeit, deren heutige, in der Person Ludwigs II. vollends kulminierende Verklärung wohl auch Ausdruck einer Überforderung ist, die Komplexheit jener Ära zu erfassen.
König Otto von Bayern ist nur selten in den Fokus des Interesses gerückt. Die Literatur über seinen Bruder hat unüberschaubare Ausmaße erreicht. Ludwig II. ist ein Superstar von globaler Dimension. Über Otto haben die Historiker und Klatsch-Autoren dagegen nur wenig veröffentlicht. Höchstens, dass man sich an den Schauspieler Klaus Kinski erinnert, der 1955 in Helmut Käutners Ludwig II.-Film in der Rolle des verrückten Otto seinen schauspielerischen Durchbruch erzielte. Otto hat einfach kein Interesse geweckt, was einigermaßen verwunderlich ist, weil gerade ein Blick auf sein Leben dazu beiträgt, den wunderlichen Märchenkönig Ludwig besser zu verstehen. Es war deshalb höchste Zeit für eine Otto-Biografie. Der Münchner Autor und glänzende Ludwig II.-Kenner Alfons Schweiggert hat sich die Mühe gemacht, zahlreiche Quellen auszuwerten und auf deren Basis den bedrückenden Lebensweg Ottos zu schildern.
Dass dabei keine gloriose Ruhmesgeschichte herausgekommen ist, verrät bereits der Titel des 300-seitigen Werks: „Bayerns unglücklichster König.“ Gleichwohl hat Schweiggert ein spannendes Buch geschrieben, das weit über den Ludwig II.-Mythos hinausreicht und bedrückende Schlaglichter auf die Abenddämmerung der bayerischen Monarchie wirft. Ottos Lebensweg ist zunächst nicht weniger aufregend als der seines Bruders Ludwig. Um die beiden Söhne von König Maximilian II. und dessen Frau Marie ranken sich von Anfang an Gerüchte. Manche behaupten sogar, zumindest Ludwig II. sei gar nicht der Sohn Maximilians, sondern Abkömmling eines Kammerdieners oder eines Hauptmanns.
Sei es, wie es sei, Otto jedenfalls genoss dieselbe strenge Erziehung wie Ludwig, er wuchs in derselben Umgebung auf und pflegte in der Jugend ein enges Verhältnis zu seinem Bruder. Mit Blick auf Ottos Entwicklung eröffnen sich neue, überraschende Erkenntnisse über Verhaltensweisen und Aktivitäten Ludwigs II., stellt Schweiggert fest. Durch Einblicke in Ottos tragisches Leben würden nicht nur die komischen Verhaltensweisen seines Bruders begreiflicher, sondern auch die Entwicklung, die zum Ende der Monarchie in Bayern führte.
Im Frankreichkrieg von 1870 nahm Otto als Mitglied des Generalstabs teil. Aber lange konnte er nicht bei den Truppen bleiben, da er den Kriegsstrapazen nicht gewachsen war. Der Anblick verstümmelter Soldaten setzte ihm schwer zu, Depressionen suchten ihn heim. Bleich, elend und fröstelnd, so schilderten ihn Zeitzeugen. Auch Ludwig II. war über die seelische Verfassung Ottos sehr beunruhigt und sah ein, dass er sich nicht zur Regierungsübernahme eignete – für den Fall seiner Abdankung, mit der er damals liebäugelte.
Immerhin nahm Otto noch an der Kaiserproklamation in Versailles teil. Am 18. Januar 1871 wurde dort der Preußenkönig Wilhelm zum Deutschen Kaiser ausgerufen. Otto empfand dies als äußerst bedrückend, wie er seinem Bruder klagte: „Der deutsche Kaiser, das deutsche Reich, Bismarck, die laute preußische Begeisterung, die vielen Stiefel, das alles macht mich unendlich traurig.“ Er konnte sich ebenso wie sein Bruder mit dem Verlust der bayerischen Eigenstaatlichkeit nicht abfinden, in diesem Punkt war er sehr klar im Kopf.
Die Akte, in der Ottos Persönlichkeitsauflösung penibel dokumentiert ist, schildert Schweiggert als ein bedrückendes Dokument. Die Biografie Ottos ist nicht zuletzt auch eine Geschichte über die Anfänge der Psychiatrie in Bayern. Sie lässt den Leser oft nur noch den Kopf schütteln über die absurden Gepflogenheiten im damaligen Umgang mit psychisch kranken Menschen. Die Therapieversuche umfassten unter anderem Moralpredigten, eiskalte Duschen, und Morphium, ja sogar eine Therapie mit Magnetismus fassten die Ärzte ins Auge. Von 1883 bis zu seinem Tod im Jahr 1916 blieb Otto im Schloss Fürstenried gleichsam als Versuchsmensch und „Einsiedler“ verwahrt.
Die Absetzung Ottos als König erforderte eine bis heute umstrittene Verfassungsänderung. Nachdem der Landtag am 4. November 1913 dieses Gesetz verabschiedet hatte, verlor König Otto 27 Jahre nach deren Empfang alle königlichen Rechte. Als der seit 1912 als Prinzregent regierende Ludwig III. am 5. November 1913 den Königsthron bestieg, nahmen ihm das weite Teile des Volks sehr übel. „Macht ist immer eine Leiter mit angesägten Sprossen“, schreibt Schweiggert. Gerade Ludwig II. und Otto I. erfuhren die bittere Wahrheit dieser Weisheit. Für Schweiggert führt der Lebensweg der Königsbrüder erschütternd vor Augen, dass sich die Erbärmlichkeit von Macht nirgendwo sonst eindringlicher zeigt, als wenn sie sich im Schatten einer Krankheit zu bewähren versucht.
Alfons Schweiggert: Bayerns unglücklichster König, Otto I., Sankt Michaelsverlag, 2015, 19,90 Euro
Den Kriegsstrapazen war Otto
nicht gewachsen.
Depressionen suchten ihn heim.
Bis zu seinem Tod 1916
blieb Otto als Versuchsmensch
und „Einsiedler“ verwahrt.
Der junge Prinz Otto (links) neben seinem Bruder Ludwig II. bei dessen Thronbesteigung.
Foto: Süddeutsche zeitung Photo
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Alfons Schweiggert hat eine 300-seitige Biografie über das Leben des geisteskranken Otto I. verfasst.
Vor allem die Akte, in der seine Persönlichkeitsauflösung dokumentiert ist, ist ein bedrückendes Dokument.
VON HANS KRATZER
München – Wer die Behauptung aufstellt, das Königreich Bayern (1806 bis 1918) habe insgesamt sechs Könige erlebt, erntet in der Regel sofort Widerspruch – es seien doch gewiss nur fünf Könige und ein Prinzregent gewesen. Das stimmt freilich nicht, denn bei der Fünferreihe der bayerischen Könige fehlt ein Name. Tatsächlich standen in Bayern nicht nur zwei Maxen und drei Ludwige an der Spitze des Königreichs, sondern auch ein Mann namens Otto I. (1848 bis 1916), der allerdings nie ins Rampenlicht vorrückte und deshalb längst vergessen ist. Dabei trug er drei Jahrzehnte lang den Titel „König von Bayern“, länger als jeder andere König. Allerdings war er nur ein Schattenkönig.
Otto von Bayern war regierungsunfähig, weil sich bei ihm nach der Blüte der Jugend eine Geisteskrankheit bemerkbar machte. Er war sportlich, gutaussehend und charmant und hätte nach dem mysteriösen Tod seines Bruder Ludwig II. anno 1886 ein umschwärmter König werden können. Zwar wurde er als König installiert, aber trotz dieser Würde siechte er die Hälfte seines Lebens dahin, ohne auch nur eine Stunde zu regieren. Die Staatsgeschäfte übernahm der Onkel, Prinz Luitpold, der Bayern als Prinzregent bis 1912 regieren sollte. Überdies wird Otto gerne mit einem anderen Onkel verwechselt, der als König Otto I. von Griechenland (1815 bis 1867) in die Annalen einging und ebenfalls eine sehr unglückliche Existenz war. Die gute alte Zeit, die all diese Männer verkörpern, war schon mit Blick auf deren Biografien eindeutig eine verworrene Zeit, deren heutige, in der Person Ludwigs II. vollends kulminierende Verklärung wohl auch Ausdruck einer Überforderung ist, die Komplexheit jener Ära zu erfassen.
König Otto von Bayern ist nur selten in den Fokus des Interesses gerückt. Die Literatur über seinen Bruder hat unüberschaubare Ausmaße erreicht. Ludwig II. ist ein Superstar von globaler Dimension. Über Otto haben die Historiker und Klatsch-Autoren dagegen nur wenig veröffentlicht. Höchstens, dass man sich an den Schauspieler Klaus Kinski erinnert, der 1955 in Helmut Käutners Ludwig II.-Film in der Rolle des verrückten Otto seinen schauspielerischen Durchbruch erzielte. Otto hat einfach kein Interesse geweckt, was einigermaßen verwunderlich ist, weil gerade ein Blick auf sein Leben dazu beiträgt, den wunderlichen Märchenkönig Ludwig besser zu verstehen. Es war deshalb höchste Zeit für eine Otto-Biografie. Der Münchner Autor und glänzende Ludwig II.-Kenner Alfons Schweiggert hat sich die Mühe gemacht, zahlreiche Quellen auszuwerten und auf deren Basis den bedrückenden Lebensweg Ottos zu schildern.
Dass dabei keine gloriose Ruhmesgeschichte herausgekommen ist, verrät bereits der Titel des 300-seitigen Werks: „Bayerns unglücklichster König.“ Gleichwohl hat Schweiggert ein spannendes Buch geschrieben, das weit über den Ludwig II.-Mythos hinausreicht und bedrückende Schlaglichter auf die Abenddämmerung der bayerischen Monarchie wirft. Ottos Lebensweg ist zunächst nicht weniger aufregend als der seines Bruders Ludwig. Um die beiden Söhne von König Maximilian II. und dessen Frau Marie ranken sich von Anfang an Gerüchte. Manche behaupten sogar, zumindest Ludwig II. sei gar nicht der Sohn Maximilians, sondern Abkömmling eines Kammerdieners oder eines Hauptmanns.
Sei es, wie es sei, Otto jedenfalls genoss dieselbe strenge Erziehung wie Ludwig, er wuchs in derselben Umgebung auf und pflegte in der Jugend ein enges Verhältnis zu seinem Bruder. Mit Blick auf Ottos Entwicklung eröffnen sich neue, überraschende Erkenntnisse über Verhaltensweisen und Aktivitäten Ludwigs II., stellt Schweiggert fest. Durch Einblicke in Ottos tragisches Leben würden nicht nur die komischen Verhaltensweisen seines Bruders begreiflicher, sondern auch die Entwicklung, die zum Ende der Monarchie in Bayern führte.
Im Frankreichkrieg von 1870 nahm Otto als Mitglied des Generalstabs teil. Aber lange konnte er nicht bei den Truppen bleiben, da er den Kriegsstrapazen nicht gewachsen war. Der Anblick verstümmelter Soldaten setzte ihm schwer zu, Depressionen suchten ihn heim. Bleich, elend und fröstelnd, so schilderten ihn Zeitzeugen. Auch Ludwig II. war über die seelische Verfassung Ottos sehr beunruhigt und sah ein, dass er sich nicht zur Regierungsübernahme eignete – für den Fall seiner Abdankung, mit der er damals liebäugelte.
Immerhin nahm Otto noch an der Kaiserproklamation in Versailles teil. Am 18. Januar 1871 wurde dort der Preußenkönig Wilhelm zum Deutschen Kaiser ausgerufen. Otto empfand dies als äußerst bedrückend, wie er seinem Bruder klagte: „Der deutsche Kaiser, das deutsche Reich, Bismarck, die laute preußische Begeisterung, die vielen Stiefel, das alles macht mich unendlich traurig.“ Er konnte sich ebenso wie sein Bruder mit dem Verlust der bayerischen Eigenstaatlichkeit nicht abfinden, in diesem Punkt war er sehr klar im Kopf.
Die Akte, in der Ottos Persönlichkeitsauflösung penibel dokumentiert ist, schildert Schweiggert als ein bedrückendes Dokument. Die Biografie Ottos ist nicht zuletzt auch eine Geschichte über die Anfänge der Psychiatrie in Bayern. Sie lässt den Leser oft nur noch den Kopf schütteln über die absurden Gepflogenheiten im damaligen Umgang mit psychisch kranken Menschen. Die Therapieversuche umfassten unter anderem Moralpredigten, eiskalte Duschen, und Morphium, ja sogar eine Therapie mit Magnetismus fassten die Ärzte ins Auge. Von 1883 bis zu seinem Tod im Jahr 1916 blieb Otto im Schloss Fürstenried gleichsam als Versuchsmensch und „Einsiedler“ verwahrt.
Die Absetzung Ottos als König erforderte eine bis heute umstrittene Verfassungsänderung. Nachdem der Landtag am 4. November 1913 dieses Gesetz verabschiedet hatte, verlor König Otto 27 Jahre nach deren Empfang alle königlichen Rechte. Als der seit 1912 als Prinzregent regierende Ludwig III. am 5. November 1913 den Königsthron bestieg, nahmen ihm das weite Teile des Volks sehr übel. „Macht ist immer eine Leiter mit angesägten Sprossen“, schreibt Schweiggert. Gerade Ludwig II. und Otto I. erfuhren die bittere Wahrheit dieser Weisheit. Für Schweiggert führt der Lebensweg der Königsbrüder erschütternd vor Augen, dass sich die Erbärmlichkeit von Macht nirgendwo sonst eindringlicher zeigt, als wenn sie sich im Schatten einer Krankheit zu bewähren versucht.
Alfons Schweiggert: Bayerns unglücklichster König, Otto I., Sankt Michaelsverlag, 2015, 19,90 Euro
Den Kriegsstrapazen war Otto
nicht gewachsen.
Depressionen suchten ihn heim.
Bis zu seinem Tod 1916
blieb Otto als Versuchsmensch
und „Einsiedler“ verwahrt.
Der junge Prinz Otto (links) neben seinem Bruder Ludwig II. bei dessen Thronbesteigung.
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