Eine Gesamtschau des dichterischen Werks. Gedichte und Nachdichtungen in der Zusammenstellung des Autors.Johann P. Tammen veröffentlicht seit Anfang der siebziger Jahre Gedichte, er hat ein ausgesprochen umfangreiches und vielgestaltiges Werk vorgelegt. Als Herausgeber der Zeitschrift »die horen« und Nachdichter von wichtigen europäischen Lyrikern ist er eine Legende. Zum 75. Geburtstag erscheint jetzt diese Auswahl aus seinem Gesamtwerk, vom Autor selbst kritisch durchgesehen daraufhin, was »gültig« ist, was Bestand hat und was für das Ganze steht, das Tammen in seinen Texten poetisch in den Blick nimmt. Herausgekommen ist eine bezwingende Auswahl, geordnet nicht nach der Chronologie, sondern nach inneren Korrespondenzen: Bekanntes, in neuem Kontext neu zu Entdeckendes und Unveröffentlichtes aus den letzten Jahren.Und dazu ein zweiter Band mit Nachdichtungen aus vielen Jahren, in denen die Stimmen von bedeutenden fremdsprachigen Dichtern von Guillaume Apollinaire bis Valentino Zeichen ebenso vernehmbar sind wie die Stimme von Johann P. Tammen, der ihnen im Deutschen eine poetische Gestalt gibt.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.03.2019Gedächtnis im Ebbstrom
Zu entdecken: Lyrik von Johann P. Tammen, dem Herausgeber der „Horen“
In seiner Parabel „Der Städtebauer“ erzählt Bertolt Brecht von einem Wettbewerb im Häuserbau, bei dem die Jury unter den Teilnehmern schließlich auf einen stößt, der lediglich einen Türstock vorweisen kann, prächtig geschnitzt zwar, aber eben bloß ein Türstock. Es stellt sich heraus, dass ihm keine Zeit für seinen Hausbau geblieben war, denn er hatte allen anderen geholfen: hier die Pläne gezeichnet, dort die Statik geprüft, diesem die Fenster, jenem das Dach gezimmert. Am Ende wird ihm der Preis zuerkannt.
Die Geschichte, von Brecht 1945 dem exilierten großen Theatermann Berthold Viertel geschenkt, könnte auch auf den Dichter Johann P. Tammen passen, der von 1994 bis 2011 die interessanteste deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur, Kunst und Kritik, die Horen, herausgegeben und damit ein mehrfach preisgekröntes Arbeitsleben in den Dienst der Dichtung, ihrer transnationalen Verbindungen, zeitgenössischen Strömungen und historischen Texträume gestellt hat. Nicht zu zählen, wem er da zum ersten Mal ans Licht half, wie viele er aus dem Schatten des Vergessens hob, wie oft er uns, als Wegweiser und Nachdichter, mit fremden Literaturen vertraut gemacht hat.
In diesem sorgfältigen, liebevollen Dienst für die anderen lebte der Lyriker Tammen fast wie im eigenen Schatten. Seine Gedichte und Prosastücke erschienen in loser Folge als bibliophile Kostbarkeiten, und wer sie wahrnahm, kannte auch den hohen Rang, den Tammen in der deutschen Poesie einnimmt. Freilich ist er keiner, der in den Parlando-Salons des Litera-turbetriebs auf sich deutet; lieber läuft er mit Freunden über die Deiche seiner friesischen Heimat. Der Poet, nun 75 Jahre alt, hat sich stets leise abgewandt und hinter sein ironisches Lächeln verzogen, wenn andere an die Rampe traten. Dabei wohnt er durchaus in der Welt, bevorzugt aber ihre poetische Gestalt und zieht seine Schlüsse: „Wir werden es schwer haben / weil wirs / nicht leicht nehmen können.“
Nun hat der Wallstein-Verlag den Lyriker mit einem Doppelschlag aus der Raritätennische gehoben und in zwei schönen Bänden Tammens Gedichte und seine Nachdichtungen vorgelegt. Endlich, möchte man ausrufen und diese oft dunkel grundierten Dichtungen nicht paraphrasieren, sondern Wort für Wort vorstellen, die expressiven Verse, von melancholischem Humor gefärbt, von Rhythmen und ihren Brüchen getrieben, die man beim lauten Lesen entdeckt. Fast immer ist die Natur, sind Land, Himmel und Meer die Sicht-Anker, Wind, Wolken und Watt.
Die See ist für Tammen das große Metaphernfass, sie ist das „zum Himmel schreiende Großmaul“, ein „Geklapper windschief kauender Kammwellenzähne“. Das Meer ist „die salzige Liebeslippe“, trägt „Brüllkleider“, soll „nicht so laut sein“. Wenn es sich zurückzieht, „schaukelt im Ebbstrom ein umgestülptes Gedächtnis“.
„Hast du die Furchen des Meeres kartiert“, fragt sich der Dichter, als wäre eben dies seine Pflicht, und tatsächlich lebt seine Poesie von der Intensität des Registrierens, Beobachtens, Ordnens, während zugleich mit dem Schauen die Verwandlung in poetische Erinnerung einsetzt. Erfahrungen von Außen und Innen sind so miteinander verschnitten, dass jener höhere Grad an Genauigkeit des Blicks entsteht, den Tammens Gedichte uns zumuten und schenken.
Natürlich schreibt er nicht vorbehaltlos, weiß, worauf er anspielt, denn er ist ein Lyrik-Kenner, sieht sich im Gespräch mit zeitgenössischen Poeten, auch mit denen, die vorausgingen und nachleben. Im autobiografischen Text, der dankenswerter Weise in den Band mit aufgenommen wurde, steht klar und deutlich: „Er las und wurde der, der er wirklich war.“ Rastlos suchte er sich als junger Mann und fand sich in der Literatur. Mit dem Schreiben kam dann die Sprachskepsis: „Was wissen wir kleinlauten Wortwunderwerker von der Beschaffenheit der Wörter, solange sie noch rohköstlich und unbehandelt wie das Dotter im Ei ohne Kenntnis der Schale (...) vor sich hinschlummern?“
Die Reflektion des poetischen Tuns und der Aufenthalt in der einzigen gemeinsamen Weltsprache, der Poesie, haben Tammen unvermeidlich auch zu einem bedeutenden Nachdichter werden lassen, der bei aller Bemühung um fremdsprachige Gedichte weiß, „dass Blessuren beim Übersetzen (...) von Lyrik unvermeidlich sind“. Im zweiten Band seiner Werkausgabe, den Gedicht-Übertragungen, lässt sich lesen, wie sensibel und sprachmächtig er solche Blessuren minimiert. Sein luzider Essay im Anhang sei jedem, der sich an Nachdichtungen wagt, als Pflichtlektüre empfohlen.
Mit Brechts Häuser-Parabel gesagt: Johann P. Tammen hat trotz all seiner Hilfe für so viele andere nicht nur einen schönen Türstock gefertigt, sondern ein weitläufiges Haus aus Poesie errichtet, Zimmer mit Meereshorizont, Korridore ins Marschland, Kammern voll Schilf und Wald, Salons, in denen sich Vergangenheit zu Gegenwart wandelt; und in den hellsten Räu-men stehen die Türen offen – da gehen seine Dichterfreunde ein und aus.
GERT HEIDENREICH
Johann P. Tammen: Stock und Laterne. Ausgewählte Gedichte 1969–2019 (Band 1). 256 Seiten. Wind und Windporzellan. Nachdichtungen (Band 2). 231 Seiten. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 30 Euro.
Johann P. Tammen wusste, dass
Blessuren unvermeidlich sind
beim Übersetzen von Lyrik
Kundig auch als Dichter und Nach-Dichter: Johann P. Tammen.
Foto: Manto Sillack
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Zu entdecken: Lyrik von Johann P. Tammen, dem Herausgeber der „Horen“
In seiner Parabel „Der Städtebauer“ erzählt Bertolt Brecht von einem Wettbewerb im Häuserbau, bei dem die Jury unter den Teilnehmern schließlich auf einen stößt, der lediglich einen Türstock vorweisen kann, prächtig geschnitzt zwar, aber eben bloß ein Türstock. Es stellt sich heraus, dass ihm keine Zeit für seinen Hausbau geblieben war, denn er hatte allen anderen geholfen: hier die Pläne gezeichnet, dort die Statik geprüft, diesem die Fenster, jenem das Dach gezimmert. Am Ende wird ihm der Preis zuerkannt.
Die Geschichte, von Brecht 1945 dem exilierten großen Theatermann Berthold Viertel geschenkt, könnte auch auf den Dichter Johann P. Tammen passen, der von 1994 bis 2011 die interessanteste deutsche Vierteljahrsschrift für Literatur, Kunst und Kritik, die Horen, herausgegeben und damit ein mehrfach preisgekröntes Arbeitsleben in den Dienst der Dichtung, ihrer transnationalen Verbindungen, zeitgenössischen Strömungen und historischen Texträume gestellt hat. Nicht zu zählen, wem er da zum ersten Mal ans Licht half, wie viele er aus dem Schatten des Vergessens hob, wie oft er uns, als Wegweiser und Nachdichter, mit fremden Literaturen vertraut gemacht hat.
In diesem sorgfältigen, liebevollen Dienst für die anderen lebte der Lyriker Tammen fast wie im eigenen Schatten. Seine Gedichte und Prosastücke erschienen in loser Folge als bibliophile Kostbarkeiten, und wer sie wahrnahm, kannte auch den hohen Rang, den Tammen in der deutschen Poesie einnimmt. Freilich ist er keiner, der in den Parlando-Salons des Litera-turbetriebs auf sich deutet; lieber läuft er mit Freunden über die Deiche seiner friesischen Heimat. Der Poet, nun 75 Jahre alt, hat sich stets leise abgewandt und hinter sein ironisches Lächeln verzogen, wenn andere an die Rampe traten. Dabei wohnt er durchaus in der Welt, bevorzugt aber ihre poetische Gestalt und zieht seine Schlüsse: „Wir werden es schwer haben / weil wirs / nicht leicht nehmen können.“
Nun hat der Wallstein-Verlag den Lyriker mit einem Doppelschlag aus der Raritätennische gehoben und in zwei schönen Bänden Tammens Gedichte und seine Nachdichtungen vorgelegt. Endlich, möchte man ausrufen und diese oft dunkel grundierten Dichtungen nicht paraphrasieren, sondern Wort für Wort vorstellen, die expressiven Verse, von melancholischem Humor gefärbt, von Rhythmen und ihren Brüchen getrieben, die man beim lauten Lesen entdeckt. Fast immer ist die Natur, sind Land, Himmel und Meer die Sicht-Anker, Wind, Wolken und Watt.
Die See ist für Tammen das große Metaphernfass, sie ist das „zum Himmel schreiende Großmaul“, ein „Geklapper windschief kauender Kammwellenzähne“. Das Meer ist „die salzige Liebeslippe“, trägt „Brüllkleider“, soll „nicht so laut sein“. Wenn es sich zurückzieht, „schaukelt im Ebbstrom ein umgestülptes Gedächtnis“.
„Hast du die Furchen des Meeres kartiert“, fragt sich der Dichter, als wäre eben dies seine Pflicht, und tatsächlich lebt seine Poesie von der Intensität des Registrierens, Beobachtens, Ordnens, während zugleich mit dem Schauen die Verwandlung in poetische Erinnerung einsetzt. Erfahrungen von Außen und Innen sind so miteinander verschnitten, dass jener höhere Grad an Genauigkeit des Blicks entsteht, den Tammens Gedichte uns zumuten und schenken.
Natürlich schreibt er nicht vorbehaltlos, weiß, worauf er anspielt, denn er ist ein Lyrik-Kenner, sieht sich im Gespräch mit zeitgenössischen Poeten, auch mit denen, die vorausgingen und nachleben. Im autobiografischen Text, der dankenswerter Weise in den Band mit aufgenommen wurde, steht klar und deutlich: „Er las und wurde der, der er wirklich war.“ Rastlos suchte er sich als junger Mann und fand sich in der Literatur. Mit dem Schreiben kam dann die Sprachskepsis: „Was wissen wir kleinlauten Wortwunderwerker von der Beschaffenheit der Wörter, solange sie noch rohköstlich und unbehandelt wie das Dotter im Ei ohne Kenntnis der Schale (...) vor sich hinschlummern?“
Die Reflektion des poetischen Tuns und der Aufenthalt in der einzigen gemeinsamen Weltsprache, der Poesie, haben Tammen unvermeidlich auch zu einem bedeutenden Nachdichter werden lassen, der bei aller Bemühung um fremdsprachige Gedichte weiß, „dass Blessuren beim Übersetzen (...) von Lyrik unvermeidlich sind“. Im zweiten Band seiner Werkausgabe, den Gedicht-Übertragungen, lässt sich lesen, wie sensibel und sprachmächtig er solche Blessuren minimiert. Sein luzider Essay im Anhang sei jedem, der sich an Nachdichtungen wagt, als Pflichtlektüre empfohlen.
Mit Brechts Häuser-Parabel gesagt: Johann P. Tammen hat trotz all seiner Hilfe für so viele andere nicht nur einen schönen Türstock gefertigt, sondern ein weitläufiges Haus aus Poesie errichtet, Zimmer mit Meereshorizont, Korridore ins Marschland, Kammern voll Schilf und Wald, Salons, in denen sich Vergangenheit zu Gegenwart wandelt; und in den hellsten Räu-men stehen die Türen offen – da gehen seine Dichterfreunde ein und aus.
GERT HEIDENREICH
Johann P. Tammen: Stock und Laterne. Ausgewählte Gedichte 1969–2019 (Band 1). 256 Seiten. Wind und Windporzellan. Nachdichtungen (Band 2). 231 Seiten. Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 30 Euro.
Johann P. Tammen wusste, dass
Blessuren unvermeidlich sind
beim Übersetzen von Lyrik
Kundig auch als Dichter und Nach-Dichter: Johann P. Tammen.
Foto: Manto Sillack
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.08.2019Das Wörterglück des Leuchtturmwächters
Er wirft den Blick zur kruseligen Schlickfangbank: Nachdichtungen und Gedichte von Johann P. Tammen
Nordlichter sind am deutschen Nachthimmel nur selten zu sehen. Dann aber gelten diese vielfarbig leuchtenden Himmelserscheinungen als besonders beachtenswert, ja als schön. Ein solches Nordlicht im Land der Lyrik ist der Dichter Johann Peter Tammen, dessen Werk, bestehend aus Gedichten, kleiner Prosa und Nachdichtungen, nun in zwei gediegenen Bänden vorliegt. Es ist das erste Mal, dass Tammen in diesem Umfang als Lyriker öffentlich sichtbar wird. Er hat zwar seit 1979 eine ansehnliche Reihe kleinerer Bändchen und Hefte mit seinen Gedichten publiziert, doch handelte es sich dabei überwiegend um bibliophile Drucke, die, von namhaften Künstlern illustriert, in kleinen und kleinsten Auflagen erschienen, so dass Tammen als Lyriker von Freunden und Sammlern wahrgenommen wurde, aber von der Literaturkritik noch längst nicht gebührend.
Tammens Leben ist mit dem Norden verbunden. In Hohenkirchen im friesländischen Wangerland wurde er 1944 geboren, an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg hat er Germanistik, Geschichte und Sozialwissenschaft studiert, in Schiffdorf-Spaden lebt und arbeitet er als freier Schriftsteller. Sein Werk und seine Bedeutung sind aufs engste mit der exzellenten Zeitschrift "Die Horen" verbunden, deren Redakteur und findiger Herausgeber er über viele Jahre hinweg war. Er hat, mit dem Vorgänger Kurt Morawietz und dem kürzlich verstorbenen Nachfolger Jürgen Krätzer, das ebenso leser- wie text- und autorenzugewandte Gesicht dieser Zeitschrift entscheidend geprägt. "Die Horen" stehen der deutschen und europäischen Literatur der Gegenwart unter allen deutschen Literaturzeitschriften am nächsten.
Daran hat Johann P. Tammen maßgeblichen Anteil. Als er sechzig wurde, hat die Schriftstellerin Katja Langen-Müller seine redaktionelle und herausgeberische Tätigkeit treffend und anspielungsreich in Bildern der Nordsee-Landschaft beschrieben: Er sei, sagt sie, ein "rundumleselichtbewehrter Leuchtturmwärter, der so manche Flaschenpost als erster sichtete".
Eine solche Flaschenpost kam von dem Lyriker und Literaturwissenschaftler Gregor Laschen aus Utrecht. Die Botschaft, die sie enthielt, führte zu einer engen und andauernden Zusammenarbeit am Werkstatt-Übersetzungsprojekt "Poesie der Nachbarn - Dichter übersetzen Dichter", an dem sich Tammen mit eigenen Übersetzungen begeistert beteiligte. Er richtete als Ergänzung der "Horen" die von Gregor Laschen herausgegebene Publikationsreihe "edition der horen" ein, in der seit 1989 mehr als dreißig zweisprachige Bände mit Gedichtübersetzungen aus jeweils einem europäischen Nachbarland erschienen sind. Auf der Basis von Interlinearübersetzungen hatten deutsche Autoren während alljährlicher Tagungen im Künstlerhaus Edenkoben zusammen mit Lyrikern des jeweiligen Gastlandes die Nachdichtungen erarbeitet.
Tammen betrachtet die eignenen Nachdichtungen, die der Band "Wind und Windporzellan" versammelt, offensichtlich als Teil seines lyrischen Werks. Vielleicht deshalb müssen sie ohne den fremdsprachigen Text auskommen, dem sie ihre Existenz verdanken. In seinem Nachwort unter dem von Friedhelm Kemp entlehnten Titel "Da müssen Sternputzer her . . ." favorisiert Tammen solche "Draufsichten auf eine nicht ganz wetterfeste Landschaft unterschiedlichster Problemlagen", die der Übersetzung einen poetischen Eigenwert, ja sogar einen Mehrwert zuschreiben. Er beruft sich dabei auf Novalis, Paul Celan, Erwin von Koppenfels, Gregor Laschen oder Kerstin Hensel, die gefordert hat: "Ein übertragenes Gedicht muß ein gutes Gedicht sein, vielleicht sogar besser als das Original"; jedenfalls müsse der Übersetzer dem "Sklavengewand der adäquaten Wiedergabepflicht entsagen". Friedhelm Kemp formuliert es nicht weniger rigoros, wenn er sagt, was seine "Sternputzer" tun und was sie nicht tun dürfen: "sie dürfen gewalttätig sein, wo Schutthalden wegzuräumen sind; sie dürfen eigenmächtig verfahren, weil nur Eigenart Eigenart hervorholt; sie dürfen Verstöße begehen . . . Nur eines dürfen sie nicht sein: brav, trocken, glatt, glanzlos."
Solche sympathischen Postulate resultieren aus der Auffassung, wonach Lyrik eigentlich unübersetzbar ist. Niemand erfährt und weiß das besser als die Gedicht-Übersetzer selbst. Aber lässt sich so rechtfertigen, dass die Vorlagen zu den Nachdichtungen gänzlich verschwiegen und gewissermaßen zum Verschwinden gebracht werden? Sollte nicht doch das "Original", das also, wovon der Nachdichter ausgeht und was ihn inspiriert hat, erkennbar und nachlesbar bleiben, selbst wenn man noch so "gewalttätig" mit ihm umgeht? Nur so kann doch das ganze Ausmaß der Übereinstimmung und der produktiven Abweichung zwischen dem Original und der Nachdichtung sichtbar werden!
In seinem Nachwort zitiert Tammen als Beispiel für die "Spannweite" der Übersetzungen das Gedicht "Le Boulanger est un Homme en bleu" des französischen Dichters Henri Deluy, zusammen mit fünf Übersetzungen - pardon: fünf Nachdichtungen - in deutscher Sprache. Das ist nicht nur vergnüglich, sondern geradezu spannend zu lesen: Man blättert zwischen dem Original und den Nachdichtungen hin und her, erwägt, wie treffend die eine oder die andere Formulierung und wie gelungen das Gedicht ist. Leider bleibt es bei diesem einen Beispiel. Sonst muss man entweder das entsprechende Buch aus der Reihe "Poesie der Nachbarn - Dichter übersetzen Dichter" heranziehen, in dem die gesuchte Vorlage möglicherweise zu finden ist, oder anderweitig umständlich recherchieren. Im Gedicht "Göttin mit verbundenen Augen" des italienischen Dichters Valentino Zeichen beispielsweise wird die Exekution einer Delinquentin in dem Augenblick ausgesetzt, als jemand in der Verurteilten die Göttin Fortuna erkennt. Ob hier im Original nicht zugleich auch die Göttin Justitia ("mit verbundenen Augen") angesprochen wird, könnte ein Blick in die italienische Vorlage zeigen.
Was Tammens eigene Gedichte mit seinen Nachdichtungen verbindet, ist das "Wörterglück", die beglückende Freude an der Kunst-Arbeit mit der Sprache. In dem Gedicht "Fensterblick Klosterstraße 181", Ingo Wilhelm gewidmet, dem "langjährigen Fährmann und Leiter des Künstlerhauses Edenkoben", zeigt sich Tammen beschäftigt mit "den noch unverfugten / Wörtern aus den Sprachschobern Europas". Das gilt für die Übersetzungen ebenso wie für die eigenen Gedichte: Wortarbeit generiert das Wörterglück.
Viele seiner Gedichte sind bildenden Künstlern und Schriftstellerkollegen gewidmet, und manche von ihnen kann man geradezu als Porträts bezeichnen, beispielsweise das Gedicht "Laut und leise & 'n bisken winken" mit der Widmung "Jesse Thoor bedenkend", in dem es heißt: "Dichter Sonettist Psalmist / Weltbeschauer Barrikadenbauer . . . Trauer stapelnd auf das Angstgewicht der Welt". Tammens adressierte Gedichtsprache leistet zugleich präzise Beschreibung des jeweiligen Gegenstands und bekenntnishaftes "Selbstbild". Sie steckt voller Anspielungen, die für Außenstehende nicht immer zu entziffern sind, voller kühner Wortneuschöpfungen, entlegener Begriffe, buntschillernder Adjektive und wuchtiger zusammengesetzter Substantive - eine Kunstsprache, die ihresgleichen in der deutschen Lyrik nicht hat.
"Statt eines Nachworts" steht am Ende eine zugleich poetologische und autobiographische Prosa: "Als einmal der junge Mann sich ans Ufer des Priels hockte und Halt suchte, nachdem ein Wunsch in ihm aufkam". Er wünscht sich ein Leben in und mit der Literatur, lesend und schreibend. "Schreiben - duldsam den Augen trauen, wenn sie das Knistern der Wörter bezeugen" lautet das Motto zu diesem Text. Dass sich dieser Wunsch rückblickend für ihn erfüllt hat, belegt ein Selbstzitat Tammens aus dem Gedicht "Aale greifen", mit dem er zurückkommt auf die in seinen Gedichten wiederkehrenden Beschreibungen der nordischen Meerlandschaft als Ereignis und als Prozess: "Wind und Wellen haben im grausamtenen Watt vor der Küste Larven geschichtet / schwere Wellungen auch im Brandungsgebiet nicht weit von der brüllenden See / die bei Ebbe den Wattboden freigibt / dessen vom Sturm metallisch hart gestampften Boden. // Windwasser formt das Watt / Sand schichtet sich über Sand bis hin zur kruseligen Schlickfangbank . . . // Dann wetterwendisches Rumoren. / Höhnisches Glucksen. Ein schuppiger silbrig weißer Wolkenklops über den Muschelbänken an der Telje. // Jemand hat davon erzählt. Dann wieder Stille."
WULF SEGEBRECHT
Johann P. Tammen: "Stock und Laterne". Ausgewählte Gedichte 1969-2019".
Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 256 S., geb., 30,- [Euro].
Johann P. Tammen: "Wind und Windporzellan". Nachdichtungen von Guillaume Apollinaire bis Valentino Zeichen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 231 S., geb., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Er wirft den Blick zur kruseligen Schlickfangbank: Nachdichtungen und Gedichte von Johann P. Tammen
Nordlichter sind am deutschen Nachthimmel nur selten zu sehen. Dann aber gelten diese vielfarbig leuchtenden Himmelserscheinungen als besonders beachtenswert, ja als schön. Ein solches Nordlicht im Land der Lyrik ist der Dichter Johann Peter Tammen, dessen Werk, bestehend aus Gedichten, kleiner Prosa und Nachdichtungen, nun in zwei gediegenen Bänden vorliegt. Es ist das erste Mal, dass Tammen in diesem Umfang als Lyriker öffentlich sichtbar wird. Er hat zwar seit 1979 eine ansehnliche Reihe kleinerer Bändchen und Hefte mit seinen Gedichten publiziert, doch handelte es sich dabei überwiegend um bibliophile Drucke, die, von namhaften Künstlern illustriert, in kleinen und kleinsten Auflagen erschienen, so dass Tammen als Lyriker von Freunden und Sammlern wahrgenommen wurde, aber von der Literaturkritik noch längst nicht gebührend.
Tammens Leben ist mit dem Norden verbunden. In Hohenkirchen im friesländischen Wangerland wurde er 1944 geboren, an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg hat er Germanistik, Geschichte und Sozialwissenschaft studiert, in Schiffdorf-Spaden lebt und arbeitet er als freier Schriftsteller. Sein Werk und seine Bedeutung sind aufs engste mit der exzellenten Zeitschrift "Die Horen" verbunden, deren Redakteur und findiger Herausgeber er über viele Jahre hinweg war. Er hat, mit dem Vorgänger Kurt Morawietz und dem kürzlich verstorbenen Nachfolger Jürgen Krätzer, das ebenso leser- wie text- und autorenzugewandte Gesicht dieser Zeitschrift entscheidend geprägt. "Die Horen" stehen der deutschen und europäischen Literatur der Gegenwart unter allen deutschen Literaturzeitschriften am nächsten.
Daran hat Johann P. Tammen maßgeblichen Anteil. Als er sechzig wurde, hat die Schriftstellerin Katja Langen-Müller seine redaktionelle und herausgeberische Tätigkeit treffend und anspielungsreich in Bildern der Nordsee-Landschaft beschrieben: Er sei, sagt sie, ein "rundumleselichtbewehrter Leuchtturmwärter, der so manche Flaschenpost als erster sichtete".
Eine solche Flaschenpost kam von dem Lyriker und Literaturwissenschaftler Gregor Laschen aus Utrecht. Die Botschaft, die sie enthielt, führte zu einer engen und andauernden Zusammenarbeit am Werkstatt-Übersetzungsprojekt "Poesie der Nachbarn - Dichter übersetzen Dichter", an dem sich Tammen mit eigenen Übersetzungen begeistert beteiligte. Er richtete als Ergänzung der "Horen" die von Gregor Laschen herausgegebene Publikationsreihe "edition der horen" ein, in der seit 1989 mehr als dreißig zweisprachige Bände mit Gedichtübersetzungen aus jeweils einem europäischen Nachbarland erschienen sind. Auf der Basis von Interlinearübersetzungen hatten deutsche Autoren während alljährlicher Tagungen im Künstlerhaus Edenkoben zusammen mit Lyrikern des jeweiligen Gastlandes die Nachdichtungen erarbeitet.
Tammen betrachtet die eignenen Nachdichtungen, die der Band "Wind und Windporzellan" versammelt, offensichtlich als Teil seines lyrischen Werks. Vielleicht deshalb müssen sie ohne den fremdsprachigen Text auskommen, dem sie ihre Existenz verdanken. In seinem Nachwort unter dem von Friedhelm Kemp entlehnten Titel "Da müssen Sternputzer her . . ." favorisiert Tammen solche "Draufsichten auf eine nicht ganz wetterfeste Landschaft unterschiedlichster Problemlagen", die der Übersetzung einen poetischen Eigenwert, ja sogar einen Mehrwert zuschreiben. Er beruft sich dabei auf Novalis, Paul Celan, Erwin von Koppenfels, Gregor Laschen oder Kerstin Hensel, die gefordert hat: "Ein übertragenes Gedicht muß ein gutes Gedicht sein, vielleicht sogar besser als das Original"; jedenfalls müsse der Übersetzer dem "Sklavengewand der adäquaten Wiedergabepflicht entsagen". Friedhelm Kemp formuliert es nicht weniger rigoros, wenn er sagt, was seine "Sternputzer" tun und was sie nicht tun dürfen: "sie dürfen gewalttätig sein, wo Schutthalden wegzuräumen sind; sie dürfen eigenmächtig verfahren, weil nur Eigenart Eigenart hervorholt; sie dürfen Verstöße begehen . . . Nur eines dürfen sie nicht sein: brav, trocken, glatt, glanzlos."
Solche sympathischen Postulate resultieren aus der Auffassung, wonach Lyrik eigentlich unübersetzbar ist. Niemand erfährt und weiß das besser als die Gedicht-Übersetzer selbst. Aber lässt sich so rechtfertigen, dass die Vorlagen zu den Nachdichtungen gänzlich verschwiegen und gewissermaßen zum Verschwinden gebracht werden? Sollte nicht doch das "Original", das also, wovon der Nachdichter ausgeht und was ihn inspiriert hat, erkennbar und nachlesbar bleiben, selbst wenn man noch so "gewalttätig" mit ihm umgeht? Nur so kann doch das ganze Ausmaß der Übereinstimmung und der produktiven Abweichung zwischen dem Original und der Nachdichtung sichtbar werden!
In seinem Nachwort zitiert Tammen als Beispiel für die "Spannweite" der Übersetzungen das Gedicht "Le Boulanger est un Homme en bleu" des französischen Dichters Henri Deluy, zusammen mit fünf Übersetzungen - pardon: fünf Nachdichtungen - in deutscher Sprache. Das ist nicht nur vergnüglich, sondern geradezu spannend zu lesen: Man blättert zwischen dem Original und den Nachdichtungen hin und her, erwägt, wie treffend die eine oder die andere Formulierung und wie gelungen das Gedicht ist. Leider bleibt es bei diesem einen Beispiel. Sonst muss man entweder das entsprechende Buch aus der Reihe "Poesie der Nachbarn - Dichter übersetzen Dichter" heranziehen, in dem die gesuchte Vorlage möglicherweise zu finden ist, oder anderweitig umständlich recherchieren. Im Gedicht "Göttin mit verbundenen Augen" des italienischen Dichters Valentino Zeichen beispielsweise wird die Exekution einer Delinquentin in dem Augenblick ausgesetzt, als jemand in der Verurteilten die Göttin Fortuna erkennt. Ob hier im Original nicht zugleich auch die Göttin Justitia ("mit verbundenen Augen") angesprochen wird, könnte ein Blick in die italienische Vorlage zeigen.
Was Tammens eigene Gedichte mit seinen Nachdichtungen verbindet, ist das "Wörterglück", die beglückende Freude an der Kunst-Arbeit mit der Sprache. In dem Gedicht "Fensterblick Klosterstraße 181", Ingo Wilhelm gewidmet, dem "langjährigen Fährmann und Leiter des Künstlerhauses Edenkoben", zeigt sich Tammen beschäftigt mit "den noch unverfugten / Wörtern aus den Sprachschobern Europas". Das gilt für die Übersetzungen ebenso wie für die eigenen Gedichte: Wortarbeit generiert das Wörterglück.
Viele seiner Gedichte sind bildenden Künstlern und Schriftstellerkollegen gewidmet, und manche von ihnen kann man geradezu als Porträts bezeichnen, beispielsweise das Gedicht "Laut und leise & 'n bisken winken" mit der Widmung "Jesse Thoor bedenkend", in dem es heißt: "Dichter Sonettist Psalmist / Weltbeschauer Barrikadenbauer . . . Trauer stapelnd auf das Angstgewicht der Welt". Tammens adressierte Gedichtsprache leistet zugleich präzise Beschreibung des jeweiligen Gegenstands und bekenntnishaftes "Selbstbild". Sie steckt voller Anspielungen, die für Außenstehende nicht immer zu entziffern sind, voller kühner Wortneuschöpfungen, entlegener Begriffe, buntschillernder Adjektive und wuchtiger zusammengesetzter Substantive - eine Kunstsprache, die ihresgleichen in der deutschen Lyrik nicht hat.
"Statt eines Nachworts" steht am Ende eine zugleich poetologische und autobiographische Prosa: "Als einmal der junge Mann sich ans Ufer des Priels hockte und Halt suchte, nachdem ein Wunsch in ihm aufkam". Er wünscht sich ein Leben in und mit der Literatur, lesend und schreibend. "Schreiben - duldsam den Augen trauen, wenn sie das Knistern der Wörter bezeugen" lautet das Motto zu diesem Text. Dass sich dieser Wunsch rückblickend für ihn erfüllt hat, belegt ein Selbstzitat Tammens aus dem Gedicht "Aale greifen", mit dem er zurückkommt auf die in seinen Gedichten wiederkehrenden Beschreibungen der nordischen Meerlandschaft als Ereignis und als Prozess: "Wind und Wellen haben im grausamtenen Watt vor der Küste Larven geschichtet / schwere Wellungen auch im Brandungsgebiet nicht weit von der brüllenden See / die bei Ebbe den Wattboden freigibt / dessen vom Sturm metallisch hart gestampften Boden. // Windwasser formt das Watt / Sand schichtet sich über Sand bis hin zur kruseligen Schlickfangbank . . . // Dann wetterwendisches Rumoren. / Höhnisches Glucksen. Ein schuppiger silbrig weißer Wolkenklops über den Muschelbänken an der Telje. // Jemand hat davon erzählt. Dann wieder Stille."
WULF SEGEBRECHT
Johann P. Tammen: "Stock und Laterne". Ausgewählte Gedichte 1969-2019".
Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 256 S., geb., 30,- [Euro].
Johann P. Tammen: "Wind und Windporzellan". Nachdichtungen von Guillaume Apollinaire bis Valentino Zeichen.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019. 231 S., geb., 30,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Endlich, möchte man ausrufen und diese oft dunkel grundierten Dichtungen nicht paraphrasieren, sondern Wort für Wort vorstellen.« (Gert Heidenreich, Süddeutsche Zeitung, 22.03.2019) »Was Tammens eigene Gedichte mit seinen Nachdichtungen verbindet, ist das 'Wörterglück', die beglückende Freude an der Kunst-Arbeit mit der Sprache.« (Wulf Segebrecht, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.08.2019) »Die Dichtung des Johann P. Tammen ist nicht durch Deutung abzukürzen, abzumildern, oder abzubremsen, alles sperrt gegen Extraktion und gegen Bilanz.« (Jürgen Verdofsky, Frankfurter Rundschau, 09.07.2019) »Das ist Lyrik wie ein impressionistisches Gemälde oder Musikstück. Ganz dicht hinterm Deich entstanden.« (Sebastian Loskant, Nordsee-Zeitung, 31.01.2019) »Ein Lesegenuss allererster Güte.« (Nils Jensen, Buchkultur 1/2019) »So kluge und schöne Zeilen finden sich in diesem lesenswerten Band.« (Reinhard Tschapke, Nordwest Zeitung, 18.04.2019) »Mit diesen Büchern kann man ein lyrisches Werk von herausragender Qualität entdecken.« (Heiko Buhr, Lebensart im Norden, August 2019) »Tammens Gedichte überraschen durch originelle Bilder und Metaphern, (...) sie sind hellsichtig, hellhörig, bei scharfem Verstand und Aufmerksamkeit fürs Detail« (Jürgen Brôcan, fixpoetry.com, 11.08.2019)