Produktdetails
- Verlag: Steidl
- Seitenzahl: 143
- Englisch, Französisch
- Abmessung: 275mm x 285mm
- Gewicht: 1642g
- ISBN-13: 9783882436464
- ISBN-10: 3882436468
- Artikelnr.: 08590100
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.2000Blicke trinken Sonnenmilch
Der Wähler als Strandurlauber: Ein Bildband von Massimo Vitali
Die Menschen auf seinen Bildern sehen Massimo Vitali nicht an, obwohl der italienische Fotograf mitten über ihnen ist. An den Stränden der Adria oder des Gardasees, in den Diskotheken der Badeorte oder Metropolen baut er ein Gerüst auf, von dem herab er aus fünf Meter Höhe seine Aufnahmen macht. In der Renaissance, erläutert Vitali, haben die Maler ihre Motive aus der Untersicht gestaltet; er arbeite mit Übersicht - beides diene der Theatralisierung der Motive. Seine Bildausschnitte sind festgelegt wie auf einer Guckkastenbühne, doch sie haben, vor allem in den Diptychen, die Weite einer Cinemascope-Aufnahme. Sobald sich vor ihm ein Tableau arrangiert, das sein Interesse findet, betätigt Vitali den Auslöser.
Es sind Massenbilder, Spiegel der italienischen Bevölkerung. Von einem "Punktum" im Sinne Roland Barthes' kann keine Rede sein. Selbst Augen, die den Kaiser gesehen hätten, gingen unter im Gewimmel dieser Strände und Clubs. Oder doch nicht ganz? Auf einer Aufnahme aus dem Nachtclub "Le Plaisir" in Desenzano steht ein junger Mann in der tanzenden Menge, absichtslos isoliert, seine Augen weit aufgerissen. Was hat er gesehen? Wir jedenfalls sehen vor allem ihn, er ist der Blickfang in diesem Tableau der eingefrorenen Bewegung, ein Punktum, wie es im Buche "Die helle Kammer" steht. Und Vitali weiß das, denn auf einem Detailausschnitt der Aufnahme setzt er diese Augen in den Mittelpunkt.
In "Beach & Disco", einem wundervoll gedruckten Band, sind etwa dreißig der großformatigen Ansichten reproduziert, ergänzt um noch einmal fünfundzwanzig Ausschnitte. Nur selten wählt Vitali bei den Detailaufnahmen derart nachvollziehbar aus wie im Falle des Mannes aus "Le Plaisir". Vielmehr dienen die Vergrößerungen der Umgewichtung. Da stehen einsame Badende, die im ursprünglichen Panorama kaum zu entdecken waren, plötzlich im Zentrum eines neuen Arrangements. Und der fotografische Bademeister auf seinem Hochsitz rettet nicht nur die schönen Mädchen, sondern auch die Glatzköpfigen und Schmerbäuchigen vorm Ertrinken in der Menschenflut. Das gleicht der Erfahrung beim intensiven Studium alter Meister, der Hilflosigkeit des Betrachters vor den Engelsstürzen und Jüngsten Gerichten, deren Personenvielfalt man im Sog der Gesamtkomposition kaum noch bewältigen kann. Dann hilft bisweilen nur der Blick auf die einzelnen Figuren. Vitali bietet nicht weniger an als Hilfe beim Studium des Lebens.
Eines Lebens aber, das sich unbeeindruckt vom Beobachter entfaltet, tagsüber an den Stränden in den ausgebleichten Farben des Sommers, nachts in den Clubs unter den Lichtblitzen der Stroboskopen. Eines Lebens, das Vitali ergründen wollte, als er 1994 - unmittelbar nach Berlusconis Wahlsieg - mit seiner Serie begann. Wo sind die Wähler Berlusconis auf den Bildern? Vitali weiß es nicht, und die Wähler wissen nichts von ihm.
Nur einmal im ganzen Buch glaubt man, dass der Fotograf entdeckt worden ist: am Strand von Viareggio. Da steht auf dem großformatigen Bild eine junge Frau an der Scheidelinie zwischen Wasser und Sand, winzig klein, und schaut scheinbar dem Spiel der Badenden zu. In der Detailvergrößerung aber sieht man, dass sie über die Schulter, von der sich gerade der Bikiniträger gelöst hat, einen Blick zurückwirft: auf Vitali, auf uns als Betrachter. Die gesamte Komposition bekommt einen neuen Inhalt, die Masse unterwirft sich einer Einzelnen, die stellvertretend für sie den Beobachter entdeckt hat. Nur für diesen Blick wird Vitali das Bild fotografiert haben.
ANDREAS PLATTHAUS
Massimo Vitali: "Beach & Disco". Steidl Verlag, Göttingen 2000. 144 S., 57 Abb., geb., 88 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Wähler als Strandurlauber: Ein Bildband von Massimo Vitali
Die Menschen auf seinen Bildern sehen Massimo Vitali nicht an, obwohl der italienische Fotograf mitten über ihnen ist. An den Stränden der Adria oder des Gardasees, in den Diskotheken der Badeorte oder Metropolen baut er ein Gerüst auf, von dem herab er aus fünf Meter Höhe seine Aufnahmen macht. In der Renaissance, erläutert Vitali, haben die Maler ihre Motive aus der Untersicht gestaltet; er arbeite mit Übersicht - beides diene der Theatralisierung der Motive. Seine Bildausschnitte sind festgelegt wie auf einer Guckkastenbühne, doch sie haben, vor allem in den Diptychen, die Weite einer Cinemascope-Aufnahme. Sobald sich vor ihm ein Tableau arrangiert, das sein Interesse findet, betätigt Vitali den Auslöser.
Es sind Massenbilder, Spiegel der italienischen Bevölkerung. Von einem "Punktum" im Sinne Roland Barthes' kann keine Rede sein. Selbst Augen, die den Kaiser gesehen hätten, gingen unter im Gewimmel dieser Strände und Clubs. Oder doch nicht ganz? Auf einer Aufnahme aus dem Nachtclub "Le Plaisir" in Desenzano steht ein junger Mann in der tanzenden Menge, absichtslos isoliert, seine Augen weit aufgerissen. Was hat er gesehen? Wir jedenfalls sehen vor allem ihn, er ist der Blickfang in diesem Tableau der eingefrorenen Bewegung, ein Punktum, wie es im Buche "Die helle Kammer" steht. Und Vitali weiß das, denn auf einem Detailausschnitt der Aufnahme setzt er diese Augen in den Mittelpunkt.
In "Beach & Disco", einem wundervoll gedruckten Band, sind etwa dreißig der großformatigen Ansichten reproduziert, ergänzt um noch einmal fünfundzwanzig Ausschnitte. Nur selten wählt Vitali bei den Detailaufnahmen derart nachvollziehbar aus wie im Falle des Mannes aus "Le Plaisir". Vielmehr dienen die Vergrößerungen der Umgewichtung. Da stehen einsame Badende, die im ursprünglichen Panorama kaum zu entdecken waren, plötzlich im Zentrum eines neuen Arrangements. Und der fotografische Bademeister auf seinem Hochsitz rettet nicht nur die schönen Mädchen, sondern auch die Glatzköpfigen und Schmerbäuchigen vorm Ertrinken in der Menschenflut. Das gleicht der Erfahrung beim intensiven Studium alter Meister, der Hilflosigkeit des Betrachters vor den Engelsstürzen und Jüngsten Gerichten, deren Personenvielfalt man im Sog der Gesamtkomposition kaum noch bewältigen kann. Dann hilft bisweilen nur der Blick auf die einzelnen Figuren. Vitali bietet nicht weniger an als Hilfe beim Studium des Lebens.
Eines Lebens aber, das sich unbeeindruckt vom Beobachter entfaltet, tagsüber an den Stränden in den ausgebleichten Farben des Sommers, nachts in den Clubs unter den Lichtblitzen der Stroboskopen. Eines Lebens, das Vitali ergründen wollte, als er 1994 - unmittelbar nach Berlusconis Wahlsieg - mit seiner Serie begann. Wo sind die Wähler Berlusconis auf den Bildern? Vitali weiß es nicht, und die Wähler wissen nichts von ihm.
Nur einmal im ganzen Buch glaubt man, dass der Fotograf entdeckt worden ist: am Strand von Viareggio. Da steht auf dem großformatigen Bild eine junge Frau an der Scheidelinie zwischen Wasser und Sand, winzig klein, und schaut scheinbar dem Spiel der Badenden zu. In der Detailvergrößerung aber sieht man, dass sie über die Schulter, von der sich gerade der Bikiniträger gelöst hat, einen Blick zurückwirft: auf Vitali, auf uns als Betrachter. Die gesamte Komposition bekommt einen neuen Inhalt, die Masse unterwirft sich einer Einzelnen, die stellvertretend für sie den Beobachter entdeckt hat. Nur für diesen Blick wird Vitali das Bild fotografiert haben.
ANDREAS PLATTHAUS
Massimo Vitali: "Beach & Disco". Steidl Verlag, Göttingen 2000. 144 S., 57 Abb., geb., 88 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Während man im Geiste noch mit Andreas Platthaus auf die fünf Meter hohe Leiter klettert, von der aus Massimo Vitali seine Disco- und Strandpanoramen zu fotografieren pflegt, entsteht in der Vorstellung schon das Gewimmel, die Hitze am Strand oder "die Lichtblitze der Stroboskope" in den Discotheken " so anschaulich schildert der Rezensent die großformatigen Massenbilder des "fotografischen Bademeisters", der die Leute vorm "Ertrinken in der Menschenflut" rettet. Zwischendurch tauchen einzelne Gesichter auf, am Strand oder in der Disco, die man ebenfalls beinahe plastisch vor dem inneren Auge auftauchen sieht. Nicht nur "wundervoll gedruckt" findet Platthaus den üppigen Fotoband, sondern auch sonst sehr beeindruckend. Und man glaubt ihm das unbesehen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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