Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.09.2010Fragen an das Tier in dir
Fast zehn Jahre ließ Yann Martel sich nach "Tiger mit Schiffbruch" Zeit für seinen nächsten Roman. "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts" ist der gewagte Versuch einer Holocaust-Parabel.
Yann Martel ist ein Schriftsteller, den man leicht unterschätzen kann. Denn der 1963 geborene Sohn eines Diplomaten schreibt auf den ersten Blick eingängig und schlicht, wenngleich mit zeichenhafter Doppelbödigkeit. Inhaltlich aber geht es Martel, der sich selbst einmal als "unzeitgemäß" bezeichnet hat, immer ums große Ganze. Um existentielle Abgründe und tiefste menschliche Verzweiflung. So schickte er schon in seinem Erfolgsroman "Schiffbruch mit Tiger", im Original "Life of Pi", mit dem er, aus dem Nichts kommend, 2002 überraschend den Booker-Preis gewann, einen Sechzehnjährigen in die Hölle, indem er den Teenager Pi nach einem Schiffsunglück auf einem Rettungsboot mit einem Bengalischen Tiger zusammenpferchte. 227 Tage lang musste der Junge das hungrige Raubtier mitten im Ozean bei Laune halten, um zu überleben - ein aussichtslos anmutendes Himmelfahrtskommando.
Auch in Martels neuem, lange erwartetem Roman geht es nun wieder um die Bannung eines ungeheuerlichen Schreckens. Diesmal allerdings um den ungeheuerlichsten Schrecken, der historisch überhaupt verbürgt ist: um den Holocaust. Oder präziser: "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts", der im Englischen treffender "Beatrice and Virgil" heißt, stellt die Frage, ob wir Nachgeborenen angesichts der Monstrosität des millionenfachen Judenmords womöglich erstarrt sind in der immergleichen Gedenk-Routine, den immergleichen Rede- und Mahn-Ritualen.
Henry jedenfalls, der Protagonist des Romans, ein Schriftsteller, wünscht sich mehr "dichterische Freiheit" bei diesem Thema. Denn, so seine Überlegung: "Warum dieses Misstrauen gegenüber der Phantasie, warum dieser Widerstand gegen die künstlerische Metapher?" Henry wünscht sich eine Kunst, die wie ein "Koffer" funktioniert, der, leicht tragbar und aufs Wesentliche konzentriert, "die größte Tragödie von allen" beinhaltet.
Das sind zwar keine neuen, aber natürlich auch keine unproblematischen Überlegungen. Zumal Martel abermals einen Tiervergleich findet. Statt eines Tigers stehen jetzt eine Eselin und ein Affe im Mittelpunkt der Geschichte - zweifellos zwei gewagte Symbolgestalten für verfolgte Juden, auf die amerikanische Kritiker bereits mit dem Vorwurf der "Verharmlosung" reagiert haben. Vielleicht etwas allzu voreilig, denn Yann Martel macht sich die Sache keineswegs leicht, sondern wählt eine raffinierte Erzählkonstruktion, die gleich drei Handlungsstränge miteinander verknüpft. Dadurch eröffnen sich ganz unterschiedliche, durchaus gegensätzliche Sichtweisen auf die heutige Kultur der Erinnerung.
Da ist zunächst die Rahmengeschichte von Henrys Scheitern als Schriftsteller. Nachdem er, auch darin Martels Alter Ego, mit seinem letzten Roman einen Bestseller gelandet hatte, wird sein neues Manuskript - halb ein Essay, halb ein Roman über den Holocaust - vom Verleger abgelehnt; ein solches Buch sei unverkäuflich. Daraufhin zweifelt auch Henry an seinem Projekt. Warum sollte ausgerechnet er über den Holocaust schreiben? Er sei ja "nicht mal Jude, was ging ihn das denn überhaupt an?" Eine Haltung, die jener oft kritisierten Musealisierung Vorschub leistet, die Auschwitz auf ein Ausflugsziel reduziert. Dieser Art von Erinnerungskultur setzt Martel das Bild eines Totenkults entgegen, der gerade in seiner Unheimlichkeit fasziniert.
Nachdem Henry alle seine Schreibpläne aufgegeben und mit seiner schwangeren Frau Sarah die Stadt gewechselt hat, begegnet er einem alten, grimmigen Tierpräparator. Dieser Kauz bittet ihn um professionelle Hilfe bei seinem Theaterstück, an dem er angeblich schon sein Leben lang schreibt. Henry besucht den Alten regelmäßig in seinem Laden, in dem die ausgestopften Tiere bezeichnenderweise derart lebendig wirken, als wäre "die Zeit stehengeblieben". Es ist der Ort einer Vergangenheit, die nicht vergeht.
Wieder und wieder lässt sich Henry vom Präparator aus dessen Bühnenstück vorlesen. So kommen die Symboltiere ins Spiel - die Eselin Beatrice und der Brüllaffe Vergil. Natürlich sind es nicht zufällig die Namen von Dantes Höllenbesuchern aus der "Göttlichen Komödie". Eselin und Affe sind im Drama des Alten gequälte Tiere in einem Albtraum-Land, das in der dichterischen Phantasie das surreale Aussehen eines Sträflingshemds hat. Beide sind verzweifelt und leiden unter jener spezifischen Sprachlosigkeit, die auch viele Holocaust-Überlebende beklagen. Deswegen gibt es kaum Handlung im Stück, und die Unterhaltungen der Tiere kreisen immer wieder um denselben Punkt: Kann es eine Sprache geben, in der sich ihre Leidenserfahrungen ausdrücken und damit begreifen lassen? Eine Sprache, die den Schmerz weder kleinredet noch pathetisch überhöht.
Es ist die altbekannte Problematik, die Elie Wiesel zu der Überzeugung führte, dass Auschwitz sich jeder Fiktionalisierung verweigere. Die traumatisierten Tiere kommen aber so nicht weiter. Um sich überhaupt über ihren Schmerz verständigen zu können, sprengen sie sprachliche Konventionen und schaffen sich ihr eigenes Zeichensystem, therapeutisch wirksame Codes. Diese Troststrategie geht sogar so weit, dass beide Tiere sich höchst makabere "Spiele für Gustav" ausdenken. "Gustav" ist ein toter Mann, der gleich neben ihnen an der Straße liegt. Ein Szenarium wie von Beckett.
Lange scheint es so, dass das Theaterstück des Präparators tatsächlich die ästhetische Lösung für eine zeitgemäße Holocaust-Darstellung bereithält, nach der Henry als Schriftsteller erfolglos gesucht hat. Umso verstörender wirkt die Pointe des Buches. Sie zeigt, wie schwer, ja, vielleicht unmöglich es nach wie vor ist, die Schrecken zu bannen. Man kann dem Roman allegorische Überfrachtung vorwerfen. Auch ein Übermaß an literarischen Verweisen und geistesgeschichtlichen Anspielungen. Doch eins ist er bestimmt nicht: verharmlosend. Im Gegenteil könnte man Yann Martels Parabel als einen originellen und durchaus überzeugenden Versuch lesen, wie man den Holocaust heute und trotz aller berechtigter Zweifel literarisieren kann.
GISA FUNCK
Yann Martel: "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts". Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 206 S., geb., 18,95 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Fast zehn Jahre ließ Yann Martel sich nach "Tiger mit Schiffbruch" Zeit für seinen nächsten Roman. "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts" ist der gewagte Versuch einer Holocaust-Parabel.
Yann Martel ist ein Schriftsteller, den man leicht unterschätzen kann. Denn der 1963 geborene Sohn eines Diplomaten schreibt auf den ersten Blick eingängig und schlicht, wenngleich mit zeichenhafter Doppelbödigkeit. Inhaltlich aber geht es Martel, der sich selbst einmal als "unzeitgemäß" bezeichnet hat, immer ums große Ganze. Um existentielle Abgründe und tiefste menschliche Verzweiflung. So schickte er schon in seinem Erfolgsroman "Schiffbruch mit Tiger", im Original "Life of Pi", mit dem er, aus dem Nichts kommend, 2002 überraschend den Booker-Preis gewann, einen Sechzehnjährigen in die Hölle, indem er den Teenager Pi nach einem Schiffsunglück auf einem Rettungsboot mit einem Bengalischen Tiger zusammenpferchte. 227 Tage lang musste der Junge das hungrige Raubtier mitten im Ozean bei Laune halten, um zu überleben - ein aussichtslos anmutendes Himmelfahrtskommando.
Auch in Martels neuem, lange erwartetem Roman geht es nun wieder um die Bannung eines ungeheuerlichen Schreckens. Diesmal allerdings um den ungeheuerlichsten Schrecken, der historisch überhaupt verbürgt ist: um den Holocaust. Oder präziser: "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts", der im Englischen treffender "Beatrice and Virgil" heißt, stellt die Frage, ob wir Nachgeborenen angesichts der Monstrosität des millionenfachen Judenmords womöglich erstarrt sind in der immergleichen Gedenk-Routine, den immergleichen Rede- und Mahn-Ritualen.
Henry jedenfalls, der Protagonist des Romans, ein Schriftsteller, wünscht sich mehr "dichterische Freiheit" bei diesem Thema. Denn, so seine Überlegung: "Warum dieses Misstrauen gegenüber der Phantasie, warum dieser Widerstand gegen die künstlerische Metapher?" Henry wünscht sich eine Kunst, die wie ein "Koffer" funktioniert, der, leicht tragbar und aufs Wesentliche konzentriert, "die größte Tragödie von allen" beinhaltet.
Das sind zwar keine neuen, aber natürlich auch keine unproblematischen Überlegungen. Zumal Martel abermals einen Tiervergleich findet. Statt eines Tigers stehen jetzt eine Eselin und ein Affe im Mittelpunkt der Geschichte - zweifellos zwei gewagte Symbolgestalten für verfolgte Juden, auf die amerikanische Kritiker bereits mit dem Vorwurf der "Verharmlosung" reagiert haben. Vielleicht etwas allzu voreilig, denn Yann Martel macht sich die Sache keineswegs leicht, sondern wählt eine raffinierte Erzählkonstruktion, die gleich drei Handlungsstränge miteinander verknüpft. Dadurch eröffnen sich ganz unterschiedliche, durchaus gegensätzliche Sichtweisen auf die heutige Kultur der Erinnerung.
Da ist zunächst die Rahmengeschichte von Henrys Scheitern als Schriftsteller. Nachdem er, auch darin Martels Alter Ego, mit seinem letzten Roman einen Bestseller gelandet hatte, wird sein neues Manuskript - halb ein Essay, halb ein Roman über den Holocaust - vom Verleger abgelehnt; ein solches Buch sei unverkäuflich. Daraufhin zweifelt auch Henry an seinem Projekt. Warum sollte ausgerechnet er über den Holocaust schreiben? Er sei ja "nicht mal Jude, was ging ihn das denn überhaupt an?" Eine Haltung, die jener oft kritisierten Musealisierung Vorschub leistet, die Auschwitz auf ein Ausflugsziel reduziert. Dieser Art von Erinnerungskultur setzt Martel das Bild eines Totenkults entgegen, der gerade in seiner Unheimlichkeit fasziniert.
Nachdem Henry alle seine Schreibpläne aufgegeben und mit seiner schwangeren Frau Sarah die Stadt gewechselt hat, begegnet er einem alten, grimmigen Tierpräparator. Dieser Kauz bittet ihn um professionelle Hilfe bei seinem Theaterstück, an dem er angeblich schon sein Leben lang schreibt. Henry besucht den Alten regelmäßig in seinem Laden, in dem die ausgestopften Tiere bezeichnenderweise derart lebendig wirken, als wäre "die Zeit stehengeblieben". Es ist der Ort einer Vergangenheit, die nicht vergeht.
Wieder und wieder lässt sich Henry vom Präparator aus dessen Bühnenstück vorlesen. So kommen die Symboltiere ins Spiel - die Eselin Beatrice und der Brüllaffe Vergil. Natürlich sind es nicht zufällig die Namen von Dantes Höllenbesuchern aus der "Göttlichen Komödie". Eselin und Affe sind im Drama des Alten gequälte Tiere in einem Albtraum-Land, das in der dichterischen Phantasie das surreale Aussehen eines Sträflingshemds hat. Beide sind verzweifelt und leiden unter jener spezifischen Sprachlosigkeit, die auch viele Holocaust-Überlebende beklagen. Deswegen gibt es kaum Handlung im Stück, und die Unterhaltungen der Tiere kreisen immer wieder um denselben Punkt: Kann es eine Sprache geben, in der sich ihre Leidenserfahrungen ausdrücken und damit begreifen lassen? Eine Sprache, die den Schmerz weder kleinredet noch pathetisch überhöht.
Es ist die altbekannte Problematik, die Elie Wiesel zu der Überzeugung führte, dass Auschwitz sich jeder Fiktionalisierung verweigere. Die traumatisierten Tiere kommen aber so nicht weiter. Um sich überhaupt über ihren Schmerz verständigen zu können, sprengen sie sprachliche Konventionen und schaffen sich ihr eigenes Zeichensystem, therapeutisch wirksame Codes. Diese Troststrategie geht sogar so weit, dass beide Tiere sich höchst makabere "Spiele für Gustav" ausdenken. "Gustav" ist ein toter Mann, der gleich neben ihnen an der Straße liegt. Ein Szenarium wie von Beckett.
Lange scheint es so, dass das Theaterstück des Präparators tatsächlich die ästhetische Lösung für eine zeitgemäße Holocaust-Darstellung bereithält, nach der Henry als Schriftsteller erfolglos gesucht hat. Umso verstörender wirkt die Pointe des Buches. Sie zeigt, wie schwer, ja, vielleicht unmöglich es nach wie vor ist, die Schrecken zu bannen. Man kann dem Roman allegorische Überfrachtung vorwerfen. Auch ein Übermaß an literarischen Verweisen und geistesgeschichtlichen Anspielungen. Doch eins ist er bestimmt nicht: verharmlosend. Im Gegenteil könnte man Yann Martels Parabel als einen originellen und durchaus überzeugenden Versuch lesen, wie man den Holocaust heute und trotz aller berechtigter Zweifel literarisieren kann.
GISA FUNCK
Yann Martel: "Ein Hemd des 20. Jahrhunderts". Roman. Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2010. 206 S., geb., 18,95 [Euro].
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A provocative and fiercely brave novel. It grips the reader with teeth as sharp as a Bengal tiger's John Boyne author of The Boy in the Striped Pyjamas