Von den Bergen Idahos nach Cambridge - der unwahrscheinliche "Bildungsweg" der Tara Westover.
Tara Westover ist 17 Jahre alt, als sie zum ersten Mal eine Schulklasse betritt. Zehn Jahre später kann sie eine beeindruckende akademische Laufbahn vorweisen. Aufgewachsen im ländlichen Amerika, befreit sie sich aus einer ärmlichen, archaischen und von Paranoia und Gewalt geprägten Welt durch - Bildung, durch die Aneignung von Wissen, das ihr so lange vorenthalten worden war. Die Berge Idahos sind Taras Heimat, sie lebt als Kind im Einklang mit der grandiosen Natur, mit dem Wechsel der Jahreszeiten - und mit den Gesetzen, die ihr Vater aufstellt. Er ist ein fundamentalistischer Mormone, vom baldigen Ende der Welt überzeugt und voller Misstrauen gegenüber dem Staat, von dem er sich verfolgt sieht. Tara und ihre Geschwister gehen nicht zur Schule, sie haben keine Geburtsurkunden, und ein Arzt wird selbst bei fürchterlichsten Verletzungen nicht gerufen. Und die kommen häufig vor, denn die Kinder müssen bei der schweren Arbeit auf Vaters Schrottplatz helfen, um über die Runden zu kommen. Taras Mutter, die einzige Hebamme in der Gegend, heilt die Wunden mit ihren Kräutern. Nichts ist dieser Welt ferner als Bildung. Und doch findet Tara die Kraft, sich auf die Aufnahmeprüfung fürs College vorzubereiten, auch wenn sie quasi bei null anfangen muss ... Wie Tara Westover sich aus dieser Welt befreit, überhaupt erst einmal ein Bewusstsein von sich selbst entwickelt, um den schmerzhaften Abnabelungsprozess von ihrer Familie bewältigen zu können, das beschreibt sie in diesem ergreifenden und wunderbar poetischen Buch.
" Befreit wirft ein Licht auf einen Teil unseres Landes, den wir zu oft übersehen. Tara Westovers eindringliche Erzählung - davon, einen Platz für sich selbst in der Welt zu finden, ohne die Verbindung zu ihrer Familie und ihrer geliebten Heimat zu verlieren - verdient es, weithin gelesen zu werden." J.D. Vance Autor der "Hillbilly-Elegie"
Tara Westover ist 17 Jahre alt, als sie zum ersten Mal eine Schulklasse betritt. Zehn Jahre später kann sie eine beeindruckende akademische Laufbahn vorweisen. Aufgewachsen im ländlichen Amerika, befreit sie sich aus einer ärmlichen, archaischen und von Paranoia und Gewalt geprägten Welt durch - Bildung, durch die Aneignung von Wissen, das ihr so lange vorenthalten worden war. Die Berge Idahos sind Taras Heimat, sie lebt als Kind im Einklang mit der grandiosen Natur, mit dem Wechsel der Jahreszeiten - und mit den Gesetzen, die ihr Vater aufstellt. Er ist ein fundamentalistischer Mormone, vom baldigen Ende der Welt überzeugt und voller Misstrauen gegenüber dem Staat, von dem er sich verfolgt sieht. Tara und ihre Geschwister gehen nicht zur Schule, sie haben keine Geburtsurkunden, und ein Arzt wird selbst bei fürchterlichsten Verletzungen nicht gerufen. Und die kommen häufig vor, denn die Kinder müssen bei der schweren Arbeit auf Vaters Schrottplatz helfen, um über die Runden zu kommen. Taras Mutter, die einzige Hebamme in der Gegend, heilt die Wunden mit ihren Kräutern. Nichts ist dieser Welt ferner als Bildung. Und doch findet Tara die Kraft, sich auf die Aufnahmeprüfung fürs College vorzubereiten, auch wenn sie quasi bei null anfangen muss ... Wie Tara Westover sich aus dieser Welt befreit, überhaupt erst einmal ein Bewusstsein von sich selbst entwickelt, um den schmerzhaften Abnabelungsprozess von ihrer Familie bewältigen zu können, das beschreibt sie in diesem ergreifenden und wunderbar poetischen Buch.
" Befreit wirft ein Licht auf einen Teil unseres Landes, den wir zu oft übersehen. Tara Westovers eindringliche Erzählung - davon, einen Platz für sich selbst in der Welt zu finden, ohne die Verbindung zu ihrer Familie und ihrer geliebten Heimat zu verlieren - verdient es, weithin gelesen zu werden." J.D. Vance Autor der "Hillbilly-Elegie"
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.10.2018Sie glaubte nicht ans Ende der Welt
Tara Westover wuchs in einer Familie in Iowa auf, die sie von Andersdenkenden fernhielt. Ihr Vater, ein religiöser Fanatiker, erwartete die Apokalypse. Wie fand seine Tochter den Weg in die Freiheit?
Eine junge Frau entwindet sich dem Klammergriff einer von religiös extremen Vorstellungen geprägten Familie - wer dachte, dass Deborah Feldman mit ihrem Bestseller "Unorthodox" das definitive Erinnerungsbuch über das Drama einer solchen Selbstbefreiung geschrieben hat, sollte neu lesen. Denn das Leben, das diese in eine ultraorthodoxe chassidische Gemeinde in Williamsburg, New York, hineingeborene Autorin bis ins frühe Erwachsenenalter führte und eindringlich schilderte, erscheint geradezu liberal und reich an Möglichkeiten der Weltaneignung im Vergleich zu dem, was die Amerikanerin Tara Westover in ihren Memoiren "Befreit" beschreibt.
Für Tara Westover standen die Zeichen von Beginn auf maximale Abgrenzung: Wann genau sie zur Welt kam, ist unklar. Nur dass es irgendwann im Jahr 1986 bei einer Hausgeburt im Bundesstaat Iowa gewesen sein muss, steht ziemlich sicher fest. Ihre Existenz wurde keiner staatlichen Stelle gemeldet. Als jüngstes von sieben Kindern eines Prepper-Ehepaars streng mormonischen Glaubens wächst Tara abgeschieden auf einer Farm am Fuße des Buck Peak auf und erwartet, wie die gesamte Familie, praktisch stündlich den Zusammenbruch der Zivilisation nach göttlichem Ratschluss.
Der Vater lässt seine Kinder mit ihm auf dem Schrottplatz schuften oder setzt sie beim Bau von Scheunen ein; die Mutter unterminiert das Gesundheitssystem als nicht ausgebildete Hebamme und Kräuterfrau. Immer wieder zerreißen schreckliche Unfälle den Alltag der Familie, Verbrennungen, Schnittwunden, Hirntraumata, aber einen Arzt zu rufen oder ins Krankenhaus zu fahren wäre Verrat an den Offenbarungen, die der Vater zu empfangen glaubt. Außerdem würde es mutmaßlich das FBI auf den Plan rufen, das Aussteiger angeblich kaltblütig erschießt.
Eine Schule sieht Tara nicht von innen, weil ihre Eltern den teuflischen Einfluss der "Illuminaten" fürchten. Dass sie zu Hause unterrichtet wird, ist mehr frommer Wunsch als Wirklichkeit. Tatsache ist, dass selbst eingekochte Pfirsiche, Konserven, Waffen und Munition im Keller gebunkert werden und der unterirdisch verborgene Treibstofftank mit Sprit befüllt ist. Neben den Kinderbetten stehen Rucksäcke mit Überlebensausrüstungen für die Flucht in die Berge bereit. Das Ende ist vermeintlich nah. Als es an Silvester 1999 nicht hereinbricht und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wieder nicht, ist der Vater am Boden zerstört. Noah hat seine Arche gebaut, doch Gott hält die Flut zurück.
Ihre Geschichte handele nicht vom Mormonentum oder von Religiosität, schickt Tara Westover allem voran. Tatsächlich überwölbt und legitimiert der Glaube Verhaltensweisen des als Patriarchen herrschenden Vaters, die seine Tochter später als Ausprägung einer Psychose deutet. Doch auch darum geht es nur mittelbar. Vor allem handelt "Befreit" - im Original "Educated", gebildet - vom Ausgang eines Menschen aus seiner nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit.
In ihrer Erinnerung schreitet die Autorin den Weg zwischen familiärem Konformitätsdruck, Eigensinn und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu anderen ab. Immer weiter entfernt sie sich von ihrer Herkunft, bis an die Universität von Cambridge und darüber hinaus, bis zum Bruch mit den Eltern. Sie stützt sich auf ihre eigenen Jugendtagebücher und Gespräche mit den Geschwistern, die noch Kontakt zu ihr halten, wägt unterschiedliche Versionen derselben Geschehnisse gegeneinander ab und legt offen, wo sie ihren Erinnerungen misstraut. Oder wo sie kindliche Vorstellungsräume jenseits der Realität betritt, in denen freilich Echos der Paranoia anderer widerhallen.
Dass Tara Westovers Eltern, denen der schwunghafte Handel mit Heilölen und Tinkturen inzwischen Wohlstand gebracht hat, den Bericht ihrer Tochter als Verleumdung zurückweisen, versteht sich von selbst. Zwei der Westover-Kinder, die ihre Namen nicht öffentlich machten, haben vernichtende Rezensionen auf Amazon hinterlassen; ein weiterer Bruder hat dortselbst bestimmte Passagen des Buchs relativiert. In welcher Familie hätte nicht jeder Einzelne seine eigene Lesart der Vergangenheit zu erzählen? Die Autorin lässt in ihren Memoiren nie einen Zweifel daran aufkommen, dass sie keine letztgültige Wahrheit anzubieten hat, aber sie zeigt sich entschlossen, ihre eigene Fassung der Geschichte festzuhalten - einer Geschichte aus dem Herzen Amerikas. Bei aller Härte schreibt sie keine Abrechnung, sondern unterstreicht, dass auch wer Schaden anrichtet, oft nur das Beste will.
Die Komplizenschaft von Mutter und Tochter, als es um die Teilnahme an einer nach der Familiendoktrin als nicht sittsam eingestuften Tanzgruppe für Jugendliche geht, und der liebevolle Stolz im Blick des Vaters, wann immer seine Tochter in der Kirche oder in einem Konzert singt, stehen für Momente der Eintracht, die auch von der geduldeten Gewalttätigkeit eines Bruders nicht annulliert werden. Die Kernfrage ist weniger, warum die Eltern über die psychische und physische Erniedrigung des Bruders gegenüber Tara hinwegsehen, sondern: Warum wurde ihr von ihnen das Recht auf Bildung verweigert? Die Antwort gibt sie implizit auf jeder Seite: weil Wissen einen Menschen befreien und alles in Frage stellen lassen kann. Hochmut nennt das der Vater.
Wie sie sich selbst aneignete, was es braucht, um die Aufnahmeprüfung für ein (mormonisches) College zu bestehen, was es bedeutet, als Tölpel des eigenen Bildungsromans wie ein Kaspar Hauser des amerikanischen Nordwestens im Kunstgeschichtsunterricht zu fragen, was denn dieser Holocaust sei, lässt Tara Westover ihre Leser nachempfinden. Ihre Sprache ist klar und zuweilen - vielleicht der exzessiven Lektüre religiöser Texte in den frühen Jahren geschuldet - spröde. Mit einem sicheren Gespür für Cliffhanger treibt sie den Leser von Episode zu Episode, hinein in die Einsamkeit, die der Preis für die Befreiung war - und wieder hinaus ins Offene. Das lebenslange Lernen hat gerade erst begonnen.
URSULA SCHEER
Tara Westover: "Befreit". Wie Bildung mir die Welt erschloss.
Aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2018. 448 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Tara Westover wuchs in einer Familie in Iowa auf, die sie von Andersdenkenden fernhielt. Ihr Vater, ein religiöser Fanatiker, erwartete die Apokalypse. Wie fand seine Tochter den Weg in die Freiheit?
Eine junge Frau entwindet sich dem Klammergriff einer von religiös extremen Vorstellungen geprägten Familie - wer dachte, dass Deborah Feldman mit ihrem Bestseller "Unorthodox" das definitive Erinnerungsbuch über das Drama einer solchen Selbstbefreiung geschrieben hat, sollte neu lesen. Denn das Leben, das diese in eine ultraorthodoxe chassidische Gemeinde in Williamsburg, New York, hineingeborene Autorin bis ins frühe Erwachsenenalter führte und eindringlich schilderte, erscheint geradezu liberal und reich an Möglichkeiten der Weltaneignung im Vergleich zu dem, was die Amerikanerin Tara Westover in ihren Memoiren "Befreit" beschreibt.
Für Tara Westover standen die Zeichen von Beginn auf maximale Abgrenzung: Wann genau sie zur Welt kam, ist unklar. Nur dass es irgendwann im Jahr 1986 bei einer Hausgeburt im Bundesstaat Iowa gewesen sein muss, steht ziemlich sicher fest. Ihre Existenz wurde keiner staatlichen Stelle gemeldet. Als jüngstes von sieben Kindern eines Prepper-Ehepaars streng mormonischen Glaubens wächst Tara abgeschieden auf einer Farm am Fuße des Buck Peak auf und erwartet, wie die gesamte Familie, praktisch stündlich den Zusammenbruch der Zivilisation nach göttlichem Ratschluss.
Der Vater lässt seine Kinder mit ihm auf dem Schrottplatz schuften oder setzt sie beim Bau von Scheunen ein; die Mutter unterminiert das Gesundheitssystem als nicht ausgebildete Hebamme und Kräuterfrau. Immer wieder zerreißen schreckliche Unfälle den Alltag der Familie, Verbrennungen, Schnittwunden, Hirntraumata, aber einen Arzt zu rufen oder ins Krankenhaus zu fahren wäre Verrat an den Offenbarungen, die der Vater zu empfangen glaubt. Außerdem würde es mutmaßlich das FBI auf den Plan rufen, das Aussteiger angeblich kaltblütig erschießt.
Eine Schule sieht Tara nicht von innen, weil ihre Eltern den teuflischen Einfluss der "Illuminaten" fürchten. Dass sie zu Hause unterrichtet wird, ist mehr frommer Wunsch als Wirklichkeit. Tatsache ist, dass selbst eingekochte Pfirsiche, Konserven, Waffen und Munition im Keller gebunkert werden und der unterirdisch verborgene Treibstofftank mit Sprit befüllt ist. Neben den Kinderbetten stehen Rucksäcke mit Überlebensausrüstungen für die Flucht in die Berge bereit. Das Ende ist vermeintlich nah. Als es an Silvester 1999 nicht hereinbricht und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wieder nicht, ist der Vater am Boden zerstört. Noah hat seine Arche gebaut, doch Gott hält die Flut zurück.
Ihre Geschichte handele nicht vom Mormonentum oder von Religiosität, schickt Tara Westover allem voran. Tatsächlich überwölbt und legitimiert der Glaube Verhaltensweisen des als Patriarchen herrschenden Vaters, die seine Tochter später als Ausprägung einer Psychose deutet. Doch auch darum geht es nur mittelbar. Vor allem handelt "Befreit" - im Original "Educated", gebildet - vom Ausgang eines Menschen aus seiner nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit.
In ihrer Erinnerung schreitet die Autorin den Weg zwischen familiärem Konformitätsdruck, Eigensinn und der Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu anderen ab. Immer weiter entfernt sie sich von ihrer Herkunft, bis an die Universität von Cambridge und darüber hinaus, bis zum Bruch mit den Eltern. Sie stützt sich auf ihre eigenen Jugendtagebücher und Gespräche mit den Geschwistern, die noch Kontakt zu ihr halten, wägt unterschiedliche Versionen derselben Geschehnisse gegeneinander ab und legt offen, wo sie ihren Erinnerungen misstraut. Oder wo sie kindliche Vorstellungsräume jenseits der Realität betritt, in denen freilich Echos der Paranoia anderer widerhallen.
Dass Tara Westovers Eltern, denen der schwunghafte Handel mit Heilölen und Tinkturen inzwischen Wohlstand gebracht hat, den Bericht ihrer Tochter als Verleumdung zurückweisen, versteht sich von selbst. Zwei der Westover-Kinder, die ihre Namen nicht öffentlich machten, haben vernichtende Rezensionen auf Amazon hinterlassen; ein weiterer Bruder hat dortselbst bestimmte Passagen des Buchs relativiert. In welcher Familie hätte nicht jeder Einzelne seine eigene Lesart der Vergangenheit zu erzählen? Die Autorin lässt in ihren Memoiren nie einen Zweifel daran aufkommen, dass sie keine letztgültige Wahrheit anzubieten hat, aber sie zeigt sich entschlossen, ihre eigene Fassung der Geschichte festzuhalten - einer Geschichte aus dem Herzen Amerikas. Bei aller Härte schreibt sie keine Abrechnung, sondern unterstreicht, dass auch wer Schaden anrichtet, oft nur das Beste will.
Die Komplizenschaft von Mutter und Tochter, als es um die Teilnahme an einer nach der Familiendoktrin als nicht sittsam eingestuften Tanzgruppe für Jugendliche geht, und der liebevolle Stolz im Blick des Vaters, wann immer seine Tochter in der Kirche oder in einem Konzert singt, stehen für Momente der Eintracht, die auch von der geduldeten Gewalttätigkeit eines Bruders nicht annulliert werden. Die Kernfrage ist weniger, warum die Eltern über die psychische und physische Erniedrigung des Bruders gegenüber Tara hinwegsehen, sondern: Warum wurde ihr von ihnen das Recht auf Bildung verweigert? Die Antwort gibt sie implizit auf jeder Seite: weil Wissen einen Menschen befreien und alles in Frage stellen lassen kann. Hochmut nennt das der Vater.
Wie sie sich selbst aneignete, was es braucht, um die Aufnahmeprüfung für ein (mormonisches) College zu bestehen, was es bedeutet, als Tölpel des eigenen Bildungsromans wie ein Kaspar Hauser des amerikanischen Nordwestens im Kunstgeschichtsunterricht zu fragen, was denn dieser Holocaust sei, lässt Tara Westover ihre Leser nachempfinden. Ihre Sprache ist klar und zuweilen - vielleicht der exzessiven Lektüre religiöser Texte in den frühen Jahren geschuldet - spröde. Mit einem sicheren Gespür für Cliffhanger treibt sie den Leser von Episode zu Episode, hinein in die Einsamkeit, die der Preis für die Befreiung war - und wieder hinaus ins Offene. Das lebenslange Lernen hat gerade erst begonnen.
URSULA SCHEER
Tara Westover: "Befreit". Wie Bildung mir die Welt erschloss.
Aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln 2018. 448 S., geb., 23,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensentin Ursula Scheer kann kaum fassen, wie die Autorin Tara Westover in Iowa aufgewachsen ist: Als Kind streng religiöser Mormonen und sogenannter Prepper, die jederzeit die Apokalypse erwarten und sich darauf ihr Leben lang vorbereiten, wurde sie weder je behördlich registriert, noch hat sie eine Schule besucht, staunt Scheer. Wie sie es dennoch geschafft hat, sich von den Glaubenssätzen der Eltern zu emanzipieren, findet die Rezensentin nicht nur äußerst spannend und anrührend; die Memoiren der Autorin sind für sie vor allem ein Plädoyer für Bildung, die den Menschen auch "aus seiner nicht selbst verschuldeten Unmündigkeit" befreien kann, so Scheer. Was es sie gekostet hat, von der unbedarften Schülerin, die im Kunstunterricht fragt, was Holocaust sei, bis nach Cambridge zu kommen, kann man nur ahnen. Dass der Bruch mit Herkunft und Eltern Einsamkeit, aber letztlich auch Befreiung bedeutete, macht sie laut Rezensentin ganz klar.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.10.2018Lesen lernen
Dramatischer kann man sich einen Bildungsweg kaum vorstellen: Tara Westovers Buch
über ihre Flucht aus einer fanatisch-religiösen Familie nach Harvard
VON CHRISTOPH BARTMANN
Zwei Bewohner des 300-Seelen-Nests Clifton im südöstlichen Idaho haben sich einen Namen in der Welt gemacht: Harold B. Lee, der es zum elften Präsidenten der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage brachte. Und Tara Westover, die 1986 als eines von sieben Kindern eines fundamentalistischen Mormonen und Schrottplatzbesitzers ebendort geboren wurde. Ihr packendes Memoir mit dem Originaltitel „Educated“, auf Deutsch „Befreit“, erzählt ihren unwahrscheinlichen Bildungsweg von gar keiner Schule (ihr Vater hatte seinen Kindern den Schulbesuch verwehrt) zu den allerbesten Schulen, denen in Harvard und Cambridge, wo sie 2014 in Geschichte promovierte.
Im Titel „Educated“ klingt an, was die deutsche Übersetzung nicht wiedergeben kann: die Herausführung aus der Dunkelheit des Unwissens und der Dummheit. Tara Westovers Edukation vollzieht sich als Flucht vor der elterlichen Erziehung, die ihr den Zugang zu Bildung untersagte.
Der Vater, ein wahrer Reichsbürger Gottes, hat sich und die Seinen auf dem Berg nahe Clifton gegen die feindliche Welt verschanzt. Er ist ein „Survivalist“, dem daran gelegen ist, dass er für den Tag eins nach dem Ende der Welt auch genug Benzin gehortet hat. Taras Mutter, milder gestimmt, doch ihrem Mann treu ergeben, vermag es allenfalls, die väterliche Gewaltherrschaft ein wenig zu besänftigen.
Im Glaubensprogramm des so charismatischen wie manischen Mannes, das ihn selbst unter Mormonen zum Extremisten stempelt, steht die totale Ablehnung des Staates im Mittelpunkt. Von anmaßenden Experten verseuchte Schulen und Krankenhäuser sind ebenso zu meiden wie etwa Polizei und Meldeämter, denn überall dort haben Sozialisten und „Illuminaten“ das Sagen. Mit dem Ergebnis, dass Dads Kinder nicht zur Schule gehen, auch keine Geburtsurkunden besitzen und die Familie im Auto ohne Führerschein und Zulassung durch die Gegend rast.
Wenn es ein wiederkehrendes Motiv dieses Buches gibt, dann ist es der Unfall, nicht irgendeiner, sondern drastische, krasse, fürchterliche Unfälle, mit dem Auto oder bei einer der tollkühnen Metallzerkleinerungsaktionen auf Vaters Schrottplatz. Die Wunden werden dann daheim mit Arzneien aus „Gottes Apotheke“ geheilt. Taras Mutter stellt pflanzliche Salben und Öle her, mit denen sich alles kurieren lässt, und sie wird es mit ihrer alternativen Heilkunst bis zur Unternehmerin bringen.
Aus dieser bizarren, weltfeindlichen, aber anscheinend auch nicht dauernd nur unerträglichen Familienkonstellation hat sich Tara Westover befreit. Das geschieht nicht über Nacht und nicht in einem Akt der Rebellion, sondern eher in einem langen Tauziehen zwischen zwei etwa gleich starken Parteien. So groß wie einerseits die Attraktion von Bildung, Schule, Lesen und Lernen ist nämlich auf der anderen Seite die Bindekraft der Herkunft, des Glaubens, der Familie und des heimatlichen Bergs. Die Feldstärke dieser Familienwelt bleibt bis zum Schluss, als Tara längst studiert, derart mächtig, dass auf ihre Befreiung noch immer die finale Unterwerfung folgen könnte. In einer der eindrücklichsten Szenen des Buches erscheinen Vater und Mutter zu Besuch in Harvard, und zwar in der erklärten Absicht, die Tochter zu retten. „,Der Herr hat mir aufgetragen, Zeugnis abzulegen‘, sagte mein Vater. ‚Sie kann immer noch dem Herrn zugeführt werden.‘“ Und zwar mittels des „Priestersegens“. Nimmt die Tochter vom Vater den Priestersegen an, „würde er mich reinigen. Er würde mir die Hände auf den Kopf legen und das Böse austreiben, das mich veranlasst hatte, das zu sagen, was ich gesagt und was mich in meiner Familie unwillkommen gemacht hatte. Ich brauchte mich nur zu fügen, und fünf Minuten später wäre es vorbei gewesen.“
Das Fläschchen mit dem geweihten Öl schon in der Hand, widersteht die Tochter dem väterlichen Angebot, sie ein für alle Mal von der Macht des Bösen zu befreien. Ein amerikanischer Showdown, zu dem in jedem Hollywood-Drama die Musik anschwellen müsste. Bildung besiegt die Dämonen vom Berg, die sich nach ihrer Schlappe schnell verkrümeln. Aber für Tara Westover, die Ich-Figur des Buches und die Frau, die es geschrieben hat, liegen die Dinge komplizierter. Der Kampf der zwei Welten hat sie selbst gespalten, und sie ist sich nicht sicher, ob und wie sich die beiden Hälften wieder zusammenfügen lassen sollen. Am Ende meint sie ein „neues Ichsein“ zu verspüren, das man „Umwandlung“ nennen könnte, oder „Metamorphose. Falschheit. Verrat“. Sie nennt es „Bildung“, oder eher „Education“.
Dramatischer als diesen kann man sich einen sogenannten Bildungsweg nicht vorstellen: eine abenteuerliche Flucht, eine Verfolgungsjagd, bei der sich die Verfolger einfach nicht abschütteln lassen. Ist Taras erste Bildungsanstalt, die Brigham Young Universität, die selbst eine Einrichtung der Mormonen ist, nun ein Schritt hinaus in die freie Bildung, oder wird sie die väterlichen Wahnvorstellungen nur akademisch absichern? Tara Westover hütet sich davor, schlecht über Mormonen und über Religion insgesamt zu sprechen. Ein antimormonisches Manifest ist ihr Buch bestimmt nicht geworden.
Tara Westovers Bildungsbiografie muss das Exemplarische ihres Verlaufs nicht groß unterstreichen. Es liegt auch so auf der Hand. Nachdem sich alle Welt fragt, warum in den USA und anderswo die Gesellschaft in verfeindete Stämme zerfällt, sind Erzählungen gefragt, die von Auswegen, Übergängen und Konversionen berichten. J. D. Vances „Hillbilly Elegy“ war ein frühes Beispiel für solche Narrative, „Befreit“ ist nun ein nächstes. Das Überraschende an ihnen ist nicht, dass irgendwo in Idaho oder Kentucky Leute leben, die dem städtisch-liberalen Amerika derart den Rücken gekehrt haben, dass sie nicht mal Trump wählen würden. Das Überraschende ist auch nicht, dass es ab und zu jemanden gibt, der oder die den Weg aus einem Mormonenkaff nach Harvard schafft. Überraschend oder vielleicht auch nur ernüchternd ist nur der Umstand, dass solche Bildungswege so selten sind, dass diejenigen, denen sie gelungen sind, darüber Bücher schreiben. Tara Westover ist zwar kein „Survivalist“, aber ein „Survivor“, nämlich des väterlichen Schreckensregimes, und wenn ihr gutes Beispiel andere zur Nachahmung anregte, wäre das keine schlechte Sache.
Tara Westover: Befreit. Wie Bildung mir die Welt erschloss. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 444 Seiten, 23 Euro.
Der Vater ist ein wahrer
Reichsbürger Gottes,
verschanzt gegen die Außenwelt
Seit die USA in zwei Stämme
zerfällt, sind Geschichten gefragt,
die vom Übergang erzählen
Symptomatisch, dass ihre Karriere so selten ist, dass sie gleich ein Buch darüber schreibt: Autorin Tara Westover.
Foto: imago / Italy Photo Press
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Dramatischer kann man sich einen Bildungsweg kaum vorstellen: Tara Westovers Buch
über ihre Flucht aus einer fanatisch-religiösen Familie nach Harvard
VON CHRISTOPH BARTMANN
Zwei Bewohner des 300-Seelen-Nests Clifton im südöstlichen Idaho haben sich einen Namen in der Welt gemacht: Harold B. Lee, der es zum elften Präsidenten der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage brachte. Und Tara Westover, die 1986 als eines von sieben Kindern eines fundamentalistischen Mormonen und Schrottplatzbesitzers ebendort geboren wurde. Ihr packendes Memoir mit dem Originaltitel „Educated“, auf Deutsch „Befreit“, erzählt ihren unwahrscheinlichen Bildungsweg von gar keiner Schule (ihr Vater hatte seinen Kindern den Schulbesuch verwehrt) zu den allerbesten Schulen, denen in Harvard und Cambridge, wo sie 2014 in Geschichte promovierte.
Im Titel „Educated“ klingt an, was die deutsche Übersetzung nicht wiedergeben kann: die Herausführung aus der Dunkelheit des Unwissens und der Dummheit. Tara Westovers Edukation vollzieht sich als Flucht vor der elterlichen Erziehung, die ihr den Zugang zu Bildung untersagte.
Der Vater, ein wahrer Reichsbürger Gottes, hat sich und die Seinen auf dem Berg nahe Clifton gegen die feindliche Welt verschanzt. Er ist ein „Survivalist“, dem daran gelegen ist, dass er für den Tag eins nach dem Ende der Welt auch genug Benzin gehortet hat. Taras Mutter, milder gestimmt, doch ihrem Mann treu ergeben, vermag es allenfalls, die väterliche Gewaltherrschaft ein wenig zu besänftigen.
Im Glaubensprogramm des so charismatischen wie manischen Mannes, das ihn selbst unter Mormonen zum Extremisten stempelt, steht die totale Ablehnung des Staates im Mittelpunkt. Von anmaßenden Experten verseuchte Schulen und Krankenhäuser sind ebenso zu meiden wie etwa Polizei und Meldeämter, denn überall dort haben Sozialisten und „Illuminaten“ das Sagen. Mit dem Ergebnis, dass Dads Kinder nicht zur Schule gehen, auch keine Geburtsurkunden besitzen und die Familie im Auto ohne Führerschein und Zulassung durch die Gegend rast.
Wenn es ein wiederkehrendes Motiv dieses Buches gibt, dann ist es der Unfall, nicht irgendeiner, sondern drastische, krasse, fürchterliche Unfälle, mit dem Auto oder bei einer der tollkühnen Metallzerkleinerungsaktionen auf Vaters Schrottplatz. Die Wunden werden dann daheim mit Arzneien aus „Gottes Apotheke“ geheilt. Taras Mutter stellt pflanzliche Salben und Öle her, mit denen sich alles kurieren lässt, und sie wird es mit ihrer alternativen Heilkunst bis zur Unternehmerin bringen.
Aus dieser bizarren, weltfeindlichen, aber anscheinend auch nicht dauernd nur unerträglichen Familienkonstellation hat sich Tara Westover befreit. Das geschieht nicht über Nacht und nicht in einem Akt der Rebellion, sondern eher in einem langen Tauziehen zwischen zwei etwa gleich starken Parteien. So groß wie einerseits die Attraktion von Bildung, Schule, Lesen und Lernen ist nämlich auf der anderen Seite die Bindekraft der Herkunft, des Glaubens, der Familie und des heimatlichen Bergs. Die Feldstärke dieser Familienwelt bleibt bis zum Schluss, als Tara längst studiert, derart mächtig, dass auf ihre Befreiung noch immer die finale Unterwerfung folgen könnte. In einer der eindrücklichsten Szenen des Buches erscheinen Vater und Mutter zu Besuch in Harvard, und zwar in der erklärten Absicht, die Tochter zu retten. „,Der Herr hat mir aufgetragen, Zeugnis abzulegen‘, sagte mein Vater. ‚Sie kann immer noch dem Herrn zugeführt werden.‘“ Und zwar mittels des „Priestersegens“. Nimmt die Tochter vom Vater den Priestersegen an, „würde er mich reinigen. Er würde mir die Hände auf den Kopf legen und das Böse austreiben, das mich veranlasst hatte, das zu sagen, was ich gesagt und was mich in meiner Familie unwillkommen gemacht hatte. Ich brauchte mich nur zu fügen, und fünf Minuten später wäre es vorbei gewesen.“
Das Fläschchen mit dem geweihten Öl schon in der Hand, widersteht die Tochter dem väterlichen Angebot, sie ein für alle Mal von der Macht des Bösen zu befreien. Ein amerikanischer Showdown, zu dem in jedem Hollywood-Drama die Musik anschwellen müsste. Bildung besiegt die Dämonen vom Berg, die sich nach ihrer Schlappe schnell verkrümeln. Aber für Tara Westover, die Ich-Figur des Buches und die Frau, die es geschrieben hat, liegen die Dinge komplizierter. Der Kampf der zwei Welten hat sie selbst gespalten, und sie ist sich nicht sicher, ob und wie sich die beiden Hälften wieder zusammenfügen lassen sollen. Am Ende meint sie ein „neues Ichsein“ zu verspüren, das man „Umwandlung“ nennen könnte, oder „Metamorphose. Falschheit. Verrat“. Sie nennt es „Bildung“, oder eher „Education“.
Dramatischer als diesen kann man sich einen sogenannten Bildungsweg nicht vorstellen: eine abenteuerliche Flucht, eine Verfolgungsjagd, bei der sich die Verfolger einfach nicht abschütteln lassen. Ist Taras erste Bildungsanstalt, die Brigham Young Universität, die selbst eine Einrichtung der Mormonen ist, nun ein Schritt hinaus in die freie Bildung, oder wird sie die väterlichen Wahnvorstellungen nur akademisch absichern? Tara Westover hütet sich davor, schlecht über Mormonen und über Religion insgesamt zu sprechen. Ein antimormonisches Manifest ist ihr Buch bestimmt nicht geworden.
Tara Westovers Bildungsbiografie muss das Exemplarische ihres Verlaufs nicht groß unterstreichen. Es liegt auch so auf der Hand. Nachdem sich alle Welt fragt, warum in den USA und anderswo die Gesellschaft in verfeindete Stämme zerfällt, sind Erzählungen gefragt, die von Auswegen, Übergängen und Konversionen berichten. J. D. Vances „Hillbilly Elegy“ war ein frühes Beispiel für solche Narrative, „Befreit“ ist nun ein nächstes. Das Überraschende an ihnen ist nicht, dass irgendwo in Idaho oder Kentucky Leute leben, die dem städtisch-liberalen Amerika derart den Rücken gekehrt haben, dass sie nicht mal Trump wählen würden. Das Überraschende ist auch nicht, dass es ab und zu jemanden gibt, der oder die den Weg aus einem Mormonenkaff nach Harvard schafft. Überraschend oder vielleicht auch nur ernüchternd ist nur der Umstand, dass solche Bildungswege so selten sind, dass diejenigen, denen sie gelungen sind, darüber Bücher schreiben. Tara Westover ist zwar kein „Survivalist“, aber ein „Survivor“, nämlich des väterlichen Schreckensregimes, und wenn ihr gutes Beispiel andere zur Nachahmung anregte, wäre das keine schlechte Sache.
Tara Westover: Befreit. Wie Bildung mir die Welt erschloss. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2018. 444 Seiten, 23 Euro.
Der Vater ist ein wahrer
Reichsbürger Gottes,
verschanzt gegen die Außenwelt
Seit die USA in zwei Stämme
zerfällt, sind Geschichten gefragt,
die vom Übergang erzählen
Symptomatisch, dass ihre Karriere so selten ist, dass sie gleich ein Buch darüber schreibt: Autorin Tara Westover.
Foto: imago / Italy Photo Press
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"kraftvoll, mitreißend und sprachlich stilsicher [...] eines der besten Bücher des letzten Jahres" Gabi Rudolph fastforward-magazine.de 20190116
»Toll geschrieben, wahnsinnig interessant, eine unglaubliche Heldengeschichte - und aus dem echten Leben.« Lauren Ramoser RTL 20201218