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Begehren und Wert erscheinen auf den ersten Blick als Gegensätze. Während Ersteres auf das Persönliche und Intime abzielt, beschreibt Letzteres die abstrakte Beurteilung. Doch der Gegensatz wird brüchig, sobald wir im Begehren das beständige Auf- und Abwerten anderer entdecken, und im Wert das unablässige, affektgeladene Spiel der Bewertungen. Jule Govrins fulminanter Essay Begehrenswert fragt danach, wie Begehren die wirtschaftlichen Wertordnungen durchdringt und sich ökonomische Bewertungsmuster feinstofflich in soziale Beziehungen und Selbstwahrnehmungen einschreiben - in Semantiken des…mehr

Produktbeschreibung
Begehren und Wert erscheinen auf den ersten Blick als Gegensätze. Während Ersteres auf das Persönliche und Intime abzielt, beschreibt Letzteres die abstrakte Beurteilung. Doch der Gegensatz wird brüchig, sobald wir im Begehren das beständige Auf- und Abwerten anderer entdecken, und im Wert das unablässige, affektgeladene Spiel der Bewertungen. Jule Govrins fulminanter Essay Begehrenswert fragt danach, wie Begehren die wirtschaftlichen Wertordnungen durchdringt und sich ökonomische Bewertungsmuster feinstofflich in soziale Beziehungen und Selbstwahrnehmungen einschreiben - in Semantiken des Selbstwerts, auf der Suche nach Alleinstellungsmerkmalen und unique selling points, um sich von anderen abzuheben. Der Streifzug durch die Gegenwart geht mit Abstechern in die Kapitalismus- und Sexualitätsgeschichte einher, um aufzuzeigen, wie sich Begehren an Waren, Menschen und Werte bindet. Im Dreieck von Wert, Begehren und Authentizität ergründet Begehrenswert die Matrix unserer Gegenwart -und weist zugleich im alle verbindenden Begehren nach anders gelagerten, solidarischen Beziehungsweisen den Fluchtpunkt einer emanzipatorischen Perspektive auf.
Autorenporträt
Jule Govrin ist politische Philosoph*in und forscht an der Schnittstelle von Feministischer Philosophie, Politischer Theorie, Sozialphilosophie und Ästhetik zur politischen Dimension von Körpern und Begehren als transformativer Kraft.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Über weite Strecken interessiert liest Rezensentin Marianna Lieder Jule Govrins Studie über die Ökonomisierung des Begehrens. Deren Grundthese ist laut Lieder, dass der Kapitalismus auch Intimität und Begehren in Waren verwandelt hat. Ganz neu ist diese Idee nicht, so die Rezensentin, die allerdings anmerkt, dass Govrin sich, im Gegensatz etwa zu Eva Illouz, eher auf Michel Foucault und seine Diskursanalyse beruft als auf die Frankfurter Schule, was sich unter anderem in interessanten Gedanken zur Beicht- und Geständnisseligkeit der Gegenwartskultur niederschlägt: wir sehen uns ständig dazu gezwungen, über uns selbst zu reden, um die beste - das heißt paradoxerweise: die authentischste - Version unseres Selbst zu werden. Nicht nachvollziehen kann Lieder hingegen Govrins pauschale Kapitalismuskritik. Dass dessen Abschaffung in unser aller Glück resultieren würde, nimmt die Rezensentin der Autorin nicht ab.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 14.10.2023

Schöner,
jünger, heiler
Manager waren früher
dick und sind heute topfit.
Zufall ist das nicht
Im zu Unrecht verkannten Filmgenre High-School-Komödie aus den Nullerjahren gab es häufig diese Schlüsselszene: Das hässliche Entlein der Schule, schlau, aber nicht sexy, öffnet seinen Pferdeschwanz, setzt die Brille ab, schüttelt das Haar – und plötzlich erkennen alle: Hinter der grauen Maus verbirgt sich eine Grazie. Die Cheerleader schauen erstaunt und neidisch, die Footballer erstaunt und angetörnt.
Man müsste sein ganzes Leben nicht darüber sprechen, kein Buch lesen und keinen Vortrag hören, um es zu wissen. Manche Menschen sind attraktiver als andere, begehrenswerter, und haben dadurch Vorteile. So naheliegend es ist, so komplex ist dann das, was Jule Govrin den „Begehrenswert“ nennt. Govrin forscht zu Feministischer Philosophie und Politischer Theorie und betrachtet den Begehrenswert in seinem Zusammenspiel mit Märkten, buchstäblichen wie sozialen Märkten, in Bars oder Dating-Apps. Sie führt das „Erotische Kapital“ mit dem nur scheinbar tiefgründigeren Wert der Authentizität zusammen. Beide dienen der Auf- und Abwertung im sozialen Gefüge, schreiben sich „als Bewertungslogik in Beziehungen“ ein.
Govrins Überlegungen stehen in einer Tradition, die in den allermeisten menschlichen Tätigkeiten und Interaktionen eine Form von Arbeit und in der Konsequenz dann auch von Ausbeutung sieht. Und so schreibt sie von Liebesarbeit am Liebesmarkt, von „unbezahlter Reproduktionsarbeit“, von der Arbeit am eigenen Körper und vom Begehren als Kraft, die antreibt. Die „libidinöse Ökonomie“, aber auch die Warenwelten mit ihrem „sakralen Schimmer“, der von Konsumgütern ausgeht, vom „Warenfetisch“, wie ihn Marx nannte. Auch die Monogamie, „die Lüste verknappt und Körper warenlogisch in begehrenswert und nicht begehrenswert teilt“, nimmt hier ihre Rolle ein. Nur im sozialen Mit- oder auch Gegeneinander erhält das Begehrenswerte in Form von Schönheit und Sympathie, Aussehen und Auftreten seine Macht. „Wer begehrenswert wirkt, besitzt Begehrenswert, weil er ihn von anderen zugewiesen bekommt.“ In Bewerbungsgesprächen, in Nachtclubs, auf Schulfluren und erst recht auf Tinder und Instagram lässt sich der Begehrenswert in Vorteile umtauschen. Govrin widersteht der Versuchung, hier in eine kulturpessimistische Klage über die Oberflächlichkeit der Gegenwart zu verfallen. Schon Rousseau bedauerte eine „allgemeine Gier nach Ansehen, Ehre und Auszeichnungen, die uns alle verzehrt“, die auch „alle Menschen zu Konkurrenten, Rivalen, vielmehr zu Feinden macht“.
Dem Lauf der Zeit unterlegen ist, was genau nun das Begehrenswerte ausmacht. Vor 15 Jahren war ein dicker Po noch ein Grund zum Schämen, nur um wenige Modesaisons später Frauen zu vergrößernden Eingriffen mit so respekteinflößenden Namen wie dem „Brazilian Butt Lift“ zu bewegen. Nicht nur die steinreichen Kardashians können Schönheitsideale etablieren, sie unterliegen ihrerseits Wirtschaftsform und Zeitgeist. Das erklärt, weshalb CEOs heute topfit aussehen wollen, nicht mehr dickbäuchig mit Zylinder und Gehstock. Der gegenwärtige Begehrenswert sei „von Gesundheitsnormen geprägt, die von einem fitten Körper auf Leistungsfähigkeit schließen“. Auch normalen Angestellten bieten der Yogakurs, die gesunde Ernährung und das morgendliche Jogging Distinktionsmöglichkeiten, versprechen gar spirituelle Erweckungserlebnisse. Govrin erinnert an den Titel von Joschka Fischers Autobiografie: „Mein langer Lauf zu mir selbst“.
Mit dem Selbst wäre man bei der viel beschworenen Authentizität angekommen. Hier wird ein Satz von Heidi Klum aus der Sendung „Germany’s Next Topmodel“ zum „Sinnspruch spätkapitalistischer Subjektivierung“ für Govrin. Klum nämlich einst zu ihren Mädchen: „Du warst da nicht ganz authentisch, das musst du noch weiter einstudieren.“ Nicht nur im Privatfernsehen ist man inzwischen permanent dazu aufgerufen, seine „Authentizität performativ hervorzubringen“. Und wieder geht es ums Durchsetzen gegen andere. Aktuell angesagt im Wettbewerb der Realness: die „emotionale Authentizität“, das Zurschaustellen der eigenen Gefühlswelten.
Was Govrin in ihrer an Referenzen reichen Analyse, die von der deutschen Romantik bis zu den Realityshows reicht, ein wenig außen vor lässt, ist, dass der Begehrenswert auch innerhalb einer Gesellschaft gruppenabhängig höchst unterschiedliche Attribute fordert. Auf die allerwenigsten können sich alle einigen, und die sind in den Texten von Ballermann-Songs hinlänglich beschrieben.
AURELIE VON BLAZEKOVIC
Jule Govrin:
Begehrenswert: Erotisches Kapital und Authentizität als Ware. Matthes & Seitz, Berlin 2023. 190 Seiten,
16 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 25.11.2023

Authentisches Auftreten muss man zu inszenieren wissen

Wo der Gebrauchswert sein Recht verloren hat: Jule Govrin sondiert, wie sich Pekuniäres und Affektives miteinander verschränken.

Von Marianna Lieder

Von Don Draper, dem Kreativdirektor einer New Yorker Werbeagentur und charismatischen Hauptcharakter des Serienklassikers "Mad Man", stammen die Worte: "Was die Leute Liebe nennen, wurde von Typen wie mir erfunden, um Nylonstrümpfe zu verkaufen." Der Satz lässt sich als zynisch überspitzte Offenbarung eines Zusammenhangs lesen, mit dem es Jule Govrin in ihrem Essay "Begehrenswert" aufnimmt. Der Titel ist substantivisch zu verstehen. Der 1984 geborenen Philosophin geht es darum, mit diesem Ausdruck eine neue Kategorie zur Analyse kapitalistischer Wirkweisen zu etablieren, die sie mit den Begriffen der klassischen Ökonomie nur unzureichend beschrieben sieht. Demnach greift zu kurz, wer den Markt als rein zweckrational vorangetriebenes Geschehen betrachtet. Vielmehr müsse der Kapitalismus als von Emotionen und Passionen durchwirkte "Begehrensökonomie" verstanden werden, deren Bewertungsmuster sich auch dort fortsetzten, wo keine offensichtlichen Preisschilder hängen - in zwischenmenschlichen Beziehungen, bei der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Entsprechend verschränken sich in dem Begehrenswert pekuniäre und affektive Wertigkeiten, soziale und merkantile Dimensionen, Privates und Politisches, Intimität und Öffentlichkeit, Sein und Haben.

Zur Illustration werden zahlreiche Gegenwartsphänomene aus Alltags-, Netz-und Popkultur herangezogen. Es geht um den Begehrenswert eines unanständig teuren Verlobungsrings, der - so will es uns eine alte Meistererzählung weismachen - auf die Frau übergeht, die ihn am Finger trägt. Um wertvolle Gemälde, die zugleich das kulturelle Kapital ihres Besitzers aufwerten. Um den warenförmigen Erlebnishunger, mit dem die Tourismusindustrie spekuliert. Ausführlich befasst sich Govrin mit dem Jahrmarkt der Eitelkeiten und Anerkennungssehnsüchten, wie er in sozialen Medien, Dating-Apps, Casting-Shows und durch die seit Jahrzehnten boomende Selbstfindungsindustrie am Laufen gehalten wird.

Vieles davon hat man so ähnlich schon einmal gelesen, vor allem bei Eva Illouz. Die israelisch-französische Soziologin buchstabiert in ihren Büchern seit mindestens zwei Jahrzehnten bis in die feinsten Verästelungen den Gedanken aus, dass der Konsumkapitalismus das Bewusstsein formt, dass Waren Gefühle intensivieren und produzieren und umgekehrt Gefühle zu Waren werden.

Während Illouz den Prämissen der Frankfurter Schule treu bleibt, sieht Govrin, die Illouz ausführlich zitiert, ihre eigenen Ausführungen schwerpunktmäßig der genealogisch-diskursanalytischen Methode Michel Foucaults verpflichtet. Originelle Beobachtungen gelingen Govrin vor allem dort, wo sie Foucaults "Pastoralmacht"-These in die Gegenwart verlängert. So beschrieb der Verfasser von "Der Wille zum Wissen" (1976) den Menschen als "Bekenntnistier": Ständig sei er damit beschäftigt, etwas zu offenbaren, zu beichten und zu gestehen, der Ärztin, dem Priester, dem Therapeuten, der Partnerin. Dies geschehe in der Hoffnung, den geheimsten Wünschen, dem innersten Begehren und damit dem "wahren Ich" Ausdruck zu verleihen. Tatsächlich jedoch sei das, was sich hier als Authentizität präsentiere, der Effekt einer diskursiven Lenkung, eine sozial und kulturell bedingte Authentizitätskonstruktion.

Folgt man Govrin, ist inzwischen an die Stelle der Talking Cure die Performance getreten. Das Subjekt darf nicht mehr nur über sich reden, es ist zu permanenter affektiver und ästhetischer Arbeit am eigenen Ich aufgerufen, um die beste und damit die "eigentliche" Version dieses Ichs hervorzubringen. "Die Annahme eines essenzialistisch gegebenen Selbst wird ersetzt durch eine essenzialisierende Selbstgestaltung", schreibt Govrin. In den medialen und digitalen Personality-Vermarktungsplattformen besteht demnach kein Widerspruch mehr zwischen Authentizität und ihrer Inszenierung. Exemplarisch wird hier auf die Junge-Frauen-Quälshow "Germany's Next Topmodel" verwiesen, in der Heidi Klum die Kandidatinnen regelmäßig mit den Worten ermahnt: "Da warst du noch nicht authentisch genug, das musst du noch weiter einstudieren."

Soviel man den Analysen Govrins im Einzelnen auch abgewinnen kann, so sehr befremdet die Undifferenziertheit ihrer Kapitalismuskritik, die besonders im Nachwort pathetisch Fahrt aufnimmt. Wenn ein schneidernder Mittdreißiger auf Instagram "sein Business als Sinnerfüllung beschreibt", ist es zwar naheliegend, anzunehmen, dass er damit primär werbliche Zwecke verfolgt. Allerdings schließt die geschäftstüchtige Selbstinszenierung keineswegs aus, dass der Schneider seine Tätigkeit abseits der Kameras als sinnstiftend empfindet. Auch muss man kein Margaret-Thatcher-Fan sein, um folgende Behauptung unsinnig zu finden: "Bei allen Unterschieden ist das, was die Menschen miteinander teilen, das Leiden, das Leben im Kapitalismus erzeugt." Dieser Satz steht ganz am Ende des schmalen, ansonsten elegant und anregend geschriebenen Buchs. Hier scheint die Autorin jener vergeblichen Authentizitätssehnsucht zu frönen, die sie zuvor als spezifisch spätkapitalistische Pathologie beschrieben hat. Es gibt kein richtiges Bewusstsein im falschen, auch nicht außerhalb des Kapitalismus.

Jule Govrin: "Begehrenswert". Erotisches Kapital und Authentizität als Ware.

Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2023. 191 S., br., 16,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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