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Die absolute Beginnlosigkeit
Vom ungeschaffenen, immerwährenden Kosmos schreibt Strauß in flüchtigen, sich stets wiederholenden Reflexionen. Er versucht einen Kosmos zu denken, der ohne Anfang und Ende auskommt.

Produktbeschreibung
Die absolute Beginnlosigkeit

Vom ungeschaffenen, immerwährenden Kosmos schreibt Strauß in flüchtigen, sich stets wiederholenden Reflexionen. Er versucht einen Kosmos zu denken, der ohne Anfang und Ende auskommt.
Autorenporträt
Botho Strauß wurde am 2. Dezember 1944 in Naumburg/Saale als Sohn eines Lebensmittelberaters geboren. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Remscheid und Bad Ems studierte er 5 Semester Germanistik, Theatergeschichte und Soziologie in Köln und München. 1967-1970 Redakteur und Kritiker der Zeitschrift "Theater heute". 1970-1975 dramaturgischer Mitarbeiter an der Schaubühne am Halleschen Ufer in Berlin. Botho Strauß ist Mitglied des PEN-Zentrums und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Sein schriftstellerisches Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet; 1987 wurde ihm der Jean-Paul-Preis und 1989 der Georg-Büchner-Preis verliehen. Seine Theaterstücke gehören zu den meistgespielten an deutschen Bühnen.

Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.12.2018

Es gibt nicht die Frau, es gibt die Linie

Seine Sprache hält den nötigen Abstand: Botho Strauß denkt sich in die Modelle von Henri Matisse hinein. Worte und Bilder berühren sich in einem sehr schönen Buch.

Der Titel, den Botho Strauß seinen kurzen Prosastücken gibt - "Non-finito, Ausgespartes, leere Stellen" -, meint seine eigenen Reflexionen so gut wie den Gegenstand, den sie umkreisen, im selben Atemzug. Die geschriebenen Sätze und die gezeichneten Blätter kommen einander in den besten Momenten ganz nah.

Anlass für diesen Pas de deux in edler Aufmachung ist ein Konvolut mit 121 graphischen Arbeiten von Henri Matisse, das als Dauerleihgabe im Kunstmuseum Pablo Picasso in Münster bewahrt wird. Zu 76 dieser "Estampes" - Holzschnitte, Lithographien, Radierungen, Linolschnitte und Aquatinten, die im Buch sorgfältig reproduziert sind bis in feine Nuancen - hat Botho Strauß anspielungsreiche Bemerkungen verfasst, freischwebend in höchster Aufmerksamkeit, manchmal Kameo, manchmal kleine Passage. Es sind nicht Bildbeschreibungen, "Berührungen" hat sie der Autor seinem Verleger gegenüber genannt, eine "Erotologie" auch, der sehr individuellen Machart. Und es geht Strauß gar nicht um den französischen Meister der Odalisken und Farbenpracht, sondern um Matisse als den Beherrscher der perfekten Linien, der Gesichter, als den ihn seine Zeichnungen und Graphiken offenbaren.

Im ersten Teil des Buchs schweifen die Gedanken, lösen sich ab vom Anlass, hin zum künstlerischen Momentum, zur ewigen Frage des Schaffens und der Aufgabe des Betrachtens, der menschlichen Kondition überhaupt: "Geduld destilliert man aus viel Erduldetem. Man wartet geduldig, man erkrankt geduldig, man erzählt geduldig, ja man weint sogar geduldig." Im Mittelteil sind manche von Strauß' Überlegungen neben einige der Blätter von Matisse gesetzt, in zartem Grau, als trauten sie sich da etwas, schüchtern und selbstbewusst zugleich.

Dies sind die Seiten für Liebhaber, für Liebhaberinnen zumal. Denn den Frauen, als Sujets im doppelten Wortsinn des Künstlers wie des Schriftstellers, gilt da alle Zuwendung, im Wechselspiel der Blicke: "Der Maler fragte sich mehrmals: Sitzt vor mir eine Frau, von der ich ein Modell für viele andere entwerfen soll? Oder sitzt dort jenes Modell, von dem ich eine unbekannte, unnachahmliche Frau erschaffen soll?" So steht es neben einem wie gemeißelt radierten, doch weichen Akt. Hat sich der Maler das wirklich gefragt? Es spielt keine Rolle, ob er, Henri Matisse, diesen Gedanken je hegte. Der Schreiber, der Schriftsteller und Dichter Botho Strauß, hat sich die Frage gestellt; sie durchmisst das Feld zwischen den animierten Gedanken des einen und den genialischen Linien des anderen.

Es gibt auch Stellen, bei denen sich der sinnierende Schreiber in das Modell vor dem zeichnenden Maler hineinversetzt - in die Frau, die von dessen Blick erfasst wird. Sie haben den Charme einer gleichsam enthüllenden Evidenz für den Betrachter, einmal mehr speziell für die Betrachterin: "Nach der zwanzigsten Sitzung bemerkte sie seine Sicht kaum noch, sie erschien ihr gewöhnlich, veraltet und klein. Inzwischen war sie überzeugt: Er hat mich nie gesehen." Nicht einmal je gesehen, angesehen nicht, erkannt schon gar nicht. Und wie mag es ihr, dem geduldigen Modell, noch vorher zumute gewesen sein? "Sie, sein Modell, dachte zuvor noch siegesgewiß: seine Sicht! Wie er mich sieht, darin werd' ich ihn beherrschen! Wie er mich sieht, darin werde ich zu seinem Meister." Zu seiner Meisterin freilich, eher.

An solchen Stellen bringt Strauß das herrschende Machtverhältnis für Momente zum Schwingen, mit Absicht oder weil er sich buchstäblich versehen hat. Vielleicht hätte er es sogar lieber so, wie hier folgt: ",Was heißt: Du gehst deinen Weg?', fragte der Maler sein Modell. ,Was sagst du zu dem Weg, den du nun nicht mehr gehen wirst? Jetzt gehe ich den Ring um dich. Und er hindert dich. Er schließt sich um dich. Du gehst nicht mehr. Du wirst umgangen.'" Aber die gezeichneten Frauen insistieren, ihre Abbilder nisten im Gedächtnis, nicht bloß als imaginierte Leiber, viel stärker als Antlitze, in ihrer äußersten Reduktion. "Da er nun begriff, daß unser Auge die Scherbe umschließt", schreibt Strauß: "Der Splitter sei zuerst gewesen, das Auge umwachse ihn mit der Zeit." Da ist sie, die leere Stelle, der alle Sehnsucht immer gilt.

Markus Müller, der Direktor des Münsteraner Museums, hat Botho Strauß' Reflexionen einen klugen Essay hinzugefügt, eine inspirierte Ergänzung, in der er "Die Essenz der Dinge - Die Sprache der Linie bei Henri Matisse" erforscht. Das Non-finito, wie es Strauß aus der Kunst entlehnt, das vorsätzlich Unfertige eigentlich, fällt auf wundersame Art mit der Schönheit der Linien des Malers zusammen, die doch ganz dem "fa'presto" geschuldet scheinen. Dieses schnelle Schaffen ist, darauf verweist Müller, "seit der italienischen Renaissance Ausweis höchsten Virtuosentums". Nicht nur bei Matisse geht dem Anschein des künstlerisch Schnellgemachten die Arbeit der unablässigen Übung voraus. Und das gilt auch für Strauß' so leichtfüßige wie gedankengesättigte Betrachtungen.

"Es darf keine sinnlosen Linien geben, jede Linie muss ihre Bedeutung haben", zitiert Müller den noch nicht vierzigjährigen Matisse. Dabei gilt ihm die Arabeske, das asymmetrische Ornament nicht als schmückendes Beiwerk, sondern als essentieller Teil des Werks; dafür und für die darin eingebetteten Odalisken wird er Weltruhm erlangen. Die Idee der Arabeske des Malers lässt sich spielerisch auf die Reflexionen des Schriftstellers übertragen; vielleicht hatte er sie, als eine Art Stilmittel, sogar im Sinn. Entsprechend bilden das Herzstück des Buchs die Begegnungen zwischen der Sprache und den Bildern, auf den einander gegenüberliegenden Seiten. So reizvoll sind diese "Berührungen", gerade weil Botho Strauß die einzig angemessene Distanz einhält: "Man bewegt sich schaffend auf immer neue Verwandtschaften zu und geht Verbindungen ein, wenn diese auch instabil sind und sein müssen. Es gibt unendlich mehr Ähnliches auf der Welt als Unvergleichliches."

ROSE-MARIA GROPP

Botho Strauß: "Reflexionen". Henri Matisse: "Estampes".

Mit einem Essay von Markus Müller. Kleinheinrich Verlag, Münster 2018. 186 S., Abb., geb., 49,- [Euro].

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