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Der bekannte Publizist Johannes Gross beschäftigt sich mit dem Deutschland nach der Wiedervereinigung. Zunächst porträtiert er Helmut Kohl und seine Ära, dann fragt er nach der "Zukunft der Marktwirtschaft", nach den Chancen Deutschlands gegenüber den europäischen, amerikanischen und asiatischen Wirtschaftsmächten. Ironisch geschrieben ist der anschließende "Nachruf" auf "Ossis" und "Wessis", und vergnüglich liest sich die Analyse der "Verdrußspirale" in der deutschen "Kulturkritik".

Produktbeschreibung
Der bekannte Publizist Johannes Gross beschäftigt sich mit dem Deutschland nach der Wiedervereinigung. Zunächst porträtiert er Helmut Kohl und seine Ära, dann fragt er nach der "Zukunft der Marktwirtschaft", nach den Chancen Deutschlands gegenüber den europäischen, amerikanischen und asiatischen Wirtschaftsmächten. Ironisch geschrieben ist der anschließende "Nachruf" auf "Ossis" und "Wessis", und vergnüglich liest sich die Analyse der "Verdrußspirale" in der deutschen "Kulturkritik".
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.10.1995

Mann und Hund, ungebissen
Wie in Berlin zusammenkommt, was sich in Bonn nie gefunden hätte

Johannes Gross: Begründung der Berliner Republik. Deutschland am Ende des 20. Jahrhunderts. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1995. 176 Seiten, 29,80 Mark.

Jeder Volontär weiß: "Hund beißt Mann!" ist nichts, was des Lesens und also des Druckens wert wäre, allenfalls "Mann beißt Hund!". Noch weniger berichtenswert ist es, wenn zwei Menschen einander beißen, weil sie regelmäßig gegensätzlicher Meinung sind. Wer die Frankfurter Allgemeine der letzten Jahrzehnte aufmerksam gelesen hat, wird weder: "Johannes Gross beißt Erhard Eppler" für eine Nachricht halten, noch umgekehrt: "Eppler beißt Gross". Eine Nachricht wäre: "Gross und Eppler einig!"

Wer etwas wissen will über das neue Buch von Johannes Gross zur "Begründung der Berliner Republik", ist also nicht scharf darauf zu erfahren, daß der Rezensent von der Reformfähigkeit der Gewerkschaften mehr, von Helmut Kohl weniger hält als Gross, daß Gross die FDP unentbehrlich, der Rezensent dagegen sie ganz und gar entbehrlich findet, daß der Eindruck von Gross, der Sozialstaat ufere weiter aus, vom Rezensenten nicht geteilt wird, ja, daß der Rezensent zum selben Thema ein ganz anderes Buch geschrieben hätte. Aufmerken dürfte der informierte Leser, wenn sich herausstellt, daß Autor und Rezensent viel häufiger übereinstimmen, als es Männer gibt, die Hunde beißen.

Das gilt schon von der Hauptthese, die Gross in Form eines Heine-Zitats dem Buch vorangestellt hat:

"Deutschland hat ewigen Bestand, es ist ein kerngesundes Land."

Natürlich nimmt Gross seinen Heine nicht wörtlich. Pathetische Ausbrüche liegen ihm ohnehin nicht, im Gegenteil, wo immer er Pathos wittert, sucht er nach einer Stecknadel, mit der er den Luftballon zum Platzen bringen kann. Nein, nicht vom ewigen Deutschland handelt das Buch, wohl aber davon, daß dieses vereinigte Deutschland, dessen nationale Geschichte "im genauen und engen Sinne . . . mit der Wiedervereinigung zu Ende gekommen" ist, als Teil Europas ein ziemlich zähes Leben haben wird, sagen wir: wie der Freistaat Bayern in Deutschland. Das heißt natürlich auch, daß der nun folgende Teil deutscher Geschichte "in, mit und für Europa" sein wird. Dies wiederum kann gelingen, wenn das Verhältnis zu Frankreich keinen Schaden leidet. Darin unterscheidet sich die Berliner Republik nicht von der Bonner und der Rezensent nicht vom Autor, es sei denn, daß der Rezensent sogar fürchtet, ohne enge Partnerschaft zwischen Berlin und Paris wären in Europa alle nationalistischen Teufel los.

Gross widerspricht der These, diese Berliner Republik sei "östlicher" und "protestantischer" geworden. Zum einen, weil die östlichen Nachbarn inzwischen auch zum Westen gehören wollen, zum anderen, weil Gross den evangelischen Kirchen noch weniger zutraut als den katholischen, und das ist schon sehr wenig.

Nein, neu sei, daß die drei Säulen, auf denen die alte Bundesrepublik ruhte, alle drei brüchig würden: die Säule der großen Parteien, die der großen Kirchen und die der mächtigen Einheitsgewerkschaften. Man mag einwenden, daß Gross deren Abbröckeln gelegentlich überzeichnet, etwa wenn er die künftige Rolle der Kirchen als "marginal" bezeichnet, sonst läßt sich schwer widersprechen.

Zustimmen möchte der Rezensent auch, wenn Gross meint, der Nationalismus sei "eine Sache der Zurückgebliebenen geworden". Der rechte Extremismus hat in Deutschland auf absehbare Zeit keine Mehrheitschance. Dazu war die Impfung durch Hitler zu gründlich und zu nachhaltig. Und inzwischen stehen die Ultrarechten mehr für Brandstiftung als für Ordnung.

Erstaunliche Übereinstimmung auch, was die Hauptstädte Bonn und Berlin angeht. "Die Politik", so Gross, "lebte wie eine Einquartierung in Bonn, isoliert vom altstädtischen Treiben." Hinzuzufügen wäre: auch isoliert von der Universität, von welcher der Rezensent in 15 Jahren eine einzige Einladung erhielt. Es gibt nicht zwei Bonns, sondern drei. Gross prophezeit: "Berlin wird ebenso Hauptstadt werden, wie es Paris und London sind." Wieder ein wenig apodiktisch, aber Gross hat seine Gründe: "Im hauptstädtischen Dialog der Führenden und Einflußnehmenden in Politik, Wirtschaft und Medien . . . werden auch einige Malaisen verschwinden . . ." Sicher, wer als Bonner Politiker in den Erinnerungen des Grafen Kessler aus dem Berlin der zwanziger Jahre voller Neid gelesen hat, wer da mit wem bei Kessler zu Mittag gegessen oder ein privates Konzert besucht hat - auch die Literatur, die Kunst, ja die Philosophie war dabei, Herr Gross! -, kann nur inständig hoffen, daß in Berlin wieder etwas zusammenkommt, was sich in Bonn nie gefunden hätte. Aber sicher ist das leider nicht.

Was der Rezensent zuletzt erwartet hätte: Johannes Gross wirbt, wie er, für das Plebiszit als neue Säule der Demokratie. Er räumt mit einer Legende auf: "Die Weimarer Republik war jedoch keineswegs an Volksabstimmungen oder an der Direktwahl des Reichspräsidenten gescheitert, eher im Gegenteil." Gross kann sich die Einführung bundesweiter Plebiszite sogar ohne Änderung des Grundgesetzes vorstellen. Aber es könne sich empfehlen, "im GG-Text solche Feststellungen von Volkswillen ausdrücklich vorzusehen".

Schließlich findet der Rezensent das Plädoyer für einen gestärkten Föderalismus sympathisch, wenn ihn auch die Beispiele, die Gross dafür gibt, nicht ganz überzeugen: Die Definition und Gefährlichkeit der Pornographie, die Höhe des erlaubten Alkoholspiegels, der Schwangerschaftsabbruch. Soll in Sachen Abtreibung in Mainz anderes Recht gelten als in Wiesbaden, in Ulm anderes als in Neu-Ulm? Und wer könnte dann das unterschiedliche Recht noch durchsetzen? Wenn Gross die "innere Einheit", um die viele seit der staatlichen Vereinigung sich sorgen, einfach für überflüssig erklärt - wo ist die innere Einheit in Italien oder Großbritannien? -, dann sticht er wohl nicht nur in einen Luftballon.

Da der Eindruck allzu heiterer Harmonie dem Autor eher schaden als nützen dürfte, schließlich noch ein paar Punkte, über die ein Streit sich lohnt, weil er sich nicht notwendig aus den gegensätzlichen Grundpositionen ergibt.

Der erste betrifft die Sozialdemokratie, ihre gegenwärtige Misere. Gross führt sie vor allem zurück auf das "ideologische und intellektuelle Vakuum". Er unterscheidet sich dabei kaum von anderen Beobachtern, mit denen er auch gemein hat, daß sie nie gelesen haben, was die Sozialdemokraten im Dezember 1989 als neues (Berliner) Grundsatzprogramm beschlossen haben. Immerhin haben daran zwei hochkarätige Kommissionen fünf Jahre lang gearbeitet, die erste unter dem Vorsitz von Willy Brandt. Ausgerechnet 1989, als es dringlich wurde, neu zu definieren, was demokratischer Sozialismus denn sei, hat ein Programm genau dies getan. Es wurde nie in öffentlicher Diskussion abgewertet, es wurde einfach verdrängt von der postmodernen Beliebigkeit selbstverliebter Medienstars, die, wie sich inzwischen zeigt, auch eine solide Volkspartei ruinieren können.

Zweifel sind auch angebracht an der - keineswegs überraschenden - Meinung, die Polarität von rechts und links werde wohl nur in der parlamentarischen Sitzordnung - woher sie kommt - überleben. Ich fürchte wie der italienische Politologe Roberto Bobbio, hinter dieser Unterscheidung steckt doch mehr. Es wird immer Menschen geben, die, bei Milliarden gleicher und doch auch verschiedener Menschen, den Akzent mehr auf die Gleichheit, andere, die ihn mehr auf die Unterschiede legen. Es wird - und muß - Kräfte geben, die hart, vielleicht auch zynisch auf die Notwendigkeiten der Kapitalverwertung pochen. Und andere, die ebenso zäh die Gegenfrage stellen, was denn dabei aus den Menschen, ihren Leiden, ihren Bedürfnissen und ihrem Glücksstreben werde. Von dieser Spannung lebt die westliche Demokratie.

Jedenfalls scheint mir die Unterscheidung zwischen links und rechts treffender und zeitloser zu sein als die zwischen "bürgerlich" und "antibürgerlich". In Rot-Grün fürchtet Gross eine "antibürgerliche Parlamentsmehrheit". Das klingt nach 1920, allenfalls nach 1965. Meint man mit Bürger den Citoyen, so gibt es in Deutschland nur bürgerliche Mehrheiten, meint er den (Groß-)Bourgeois, also den Kapitalbesitzer, so gibt es niemals bürgerliche Mehrheiten, weil in diesem Sinne auch die Union nicht "bürgerlich" ist. Und meint Gross den Petit Bourgeois im Gegensatz zum Proletarier, so gibt es heute, abgesehen vielleicht von der PDS, keine antibürgerliche Partei mehr. Welche Vorstellung vom "Bürger" steckt wohl dahinter, wenn Gross in der Bezeichnung "Bürger in Uniform" eine "Diskriminierung des Soldaten" sieht, der doch "recht verstanden, gerade das Gegenstück des Bürgers ist". Wirklich? Schon die Soldaten der Französischen Revolution, die ganze Söldnerheere vor sich hertrieben, empfanden sich als Citoyens in Uniform. Der Bourgeois in Uniform wäre in der Tat ein Witz. Aber den hat Graf Baudissin auch nicht gemeint.

Damit wären wir bei einer Stelle des Buches (Seite 163), wo der Rezensent am Rande vermerkt hat: "Starker Tabak!" Gross konstatiert, zu Recht, daß "der Respekt vor Eigentum und Leibesunversehrtheit anderer nachgelassen hat". Und fährt fort:

"Es wundert sich auch niemand darüber, weil der Staat als Definierer und Wahrer des Rechts selbst es ist, der etwa in seiner Steuerpolitik das wohlerworbene Eigentum seiner Bürger nicht mehr respektiert und der an dem Gewalt verhindernden Selbsthilfeverbot für die Bürger zwar rhetorisch und justizförmig festhält, aber seine Entsprechung, nämlich die Bewahrung des öffentlichen Rechtsfriedens, nicht mehr garantieren kann."

Wirklich? Nehmen Ladendiebstahl und Einbrüche zu, weil Edzard Reuter oder auch Johannes Gross und Erhard Eppler zu viel Steuern zahlen müssen? Oder haben die Untersuchungen recht, die nachweisen, daß es die alten und vor allem die neuen Armen sind, die sich auf diese Weise durchschlagen wollen? Was denn nun? Wenn der Staat das Geld haben will, eine wirksame Polizei zu finanzieren, dann muß er es auch und vor allem von denen holen, die ihren Besitz geschützt sehen wollen. Oder will Johannes Gross eine Gesellschaft, in der, wie in manchen Staaten der Vereinigten Staaten, inzwischen auch bei uns, die Reichen so reich geworden sind, daß sie - im Gegensatz zu allen anderen - ihren Besitz und ihre Unversehrtheit selbst schützen lassen können?

Das ist so ein Punkt, wo rechts und links sich raufen müssen, in der Berliner Republik wohl noch heftiger als in der Bonner. Damit dies möglichst zivilisiert vor sich gehe, wünsche ich einem der Gescheitesten unter den demokratischen Rechten viele Leser. ERHARD EPPLER

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