Das Abseits als sicherer Ort
Reinhard, ein schlecht rasierter, promovierter Mittvierziger ohne Perspektive, hangelt sich halbherzig durchs Leben. Sonja, die Frau an seiner Seite, will nicht länger zusehen, wie er sich zunehmend vernachlässigt und ins gesellschaftliche Aus manövriert. Sie verlässt ihn und heiratet einen anderen, der fest im Leben zu stehen scheint.
Die vermeintliche Stabilität des "Normalen" allerdings bietet ihr keine Rettung, nur gähnende Langeweile. Kann es ein Happy End im sozialen Abseits geben? Mit Witz und Genauigkeit erkundet Wilhelm Genazino den schmalen Grat, der Eigenbrötelei vom Absturz trennt.
Reinhard, ein schlecht rasierter, promovierter Mittvierziger ohne Perspektive, hangelt sich halbherzig durchs Leben. Sonja, die Frau an seiner Seite, will nicht länger zusehen, wie er sich zunehmend vernachlässigt und ins gesellschaftliche Aus manövriert. Sie verlässt ihn und heiratet einen anderen, der fest im Leben zu stehen scheint.
Die vermeintliche Stabilität des "Normalen" allerdings bietet ihr keine Rettung, nur gähnende Langeweile. Kann es ein Happy End im sozialen Abseits geben? Mit Witz und Genauigkeit erkundet Wilhelm Genazino den schmalen Grat, der Eigenbrötelei vom Absturz trennt.
"Wer Genazino noch nicht kennt, dem werden die Augen fürs Leben in seiner unüberwindlichen Romanhaftigkeit geöffnet."
Volker Breidecker, Süddeutsche Zeitung 12.01.2016
Volker Breidecker, Süddeutsche Zeitung 12.01.2016
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Obschon der Typus von Wilhelm Genazinos Romanhelden konstant bleibt (Akademiker mit dauerhaft provisorischem Beruf und Hang zur distanzierten Beobachtung seiner Mitmenschen), der Autor variiert ihre jeweiligen Marotten aber immer ausreichend, um "ein tatsächlich neues Buch" entstehen lassen, findet Burkhard Müller. Reinhard, der Protagonist des neuen Romans "Bei Regen im Saal", ist ein antriebsloser Tropf, der sein problembeladenes Leben beinahe widerstandslos hinnimmt und dabei - trotz Soßenflecken auf dem Hemd - ziemlichen Erfolg bei den Frauen hat, weil er ihnen seltene Komplimente macht und sich nicht vom "Schönheitsideal der Gegenwart" beschränken lässt, fasst der Rezensent zusammen. Besonders spannend findet Müller Genazinos Beschreibung der Wirkung des Romanhaften: romanhaft betrachtet, gibt es kein eigentlich richtiges oder falsches Leben, es gibt nur "das immer fesselnde Phänomen", so der Rezensent.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.07.2014Der Schlingerkurs einer Existenz
Wieder keine Frau und kein Beruf? Wilhelm Genazinos neuer Roman siedelt auf vertrautestem Terrain. Glück spielt natürlich wieder keine Rolle. Lohnt es sich noch, so etwas zu lesen?
Kann man bei einem außergewöhnlich homogenen Romanwerk wie dem Wilhelm Genazinos von einem Altersstil sprechen? Mit 71 ist er dafür jedenfalls nicht zu jung. Die Frage ist nur, was ein Altersstil ist. Sofern man ihn landläufig versteht und damit eine gewisse Abgeklärtheit meint, vielleicht sogar Desillusionierung, dazu, in stilistischer Hinsicht, die Neigung, alles (vermeintlich) Überflüssige wegzulassen, wird man feststellen dürfen: So ist Genazino schon zu "Abschaffel"-Zeiten verfahren, vor bald vierzig Jahren also, und es hat sich seitdem nichts Wesentliches daran geändert. Gelegentlich äußern auch Genazino-Fans einen leichten Überdruss am immer recht Gleichen. Plausibler und gerechter aber will es scheinen, auch hierin, in der beharrlichen Variation und Verfeinerung des Vertrauten, eine der Stärken dieses Autors zu sehen, dessen Kunst in jüngeren Jahren im positiven Sinne altklug wirkte. Deswegen bietet seine Literatur auch kaum eine Handhabe, sie nach Lebensalter und Reifegrad zu sortieren.
Im neuen, wiederum gewohnt schlanken Roman "Bei Regen im Saal" lässt sich aber tatsächlich so etwas wie ein Altersstil ausmachen. War man in den Büchern der vergangenen fünfzehn Jahre auf (natürlich ohnehin nur ganz wenige) Passagen und Episoden gestoßen, von denen man dachte, Genazino hätte sie genauso gut auch weglassen können, so ist nun eine Verdichtung der Reflexion und - dieses Wort ist auf Genazino ja nur bedingt anwendbar - des Dramatischen erreicht, die kaum noch steigerbar sein dürfte.
Ein längeres Zitat vom Anfang des sechsten Kapitels, ziemlich in der Mitte des Buchs: "Weil es gerade regnete, konnte ich mir leichter als sonst eingestehen, dass ich als Überwinder bisher nur wenig Erfolg hatte. Während des Herumstehens im Regen gelang mir das Gefühl meiner momentanen Abtrennung von der Welt. Dabei konnte ich mir die harmlose Freude am stillen Herumtrödeln nicht länger leisten. Ich musste den Schlingerkurs meiner Existenz endgültig beenden. Gegen die Ödnisse der Tage ging ich rücksichtslos vor, aber wie beendete man das Schwanken einer Biografie? Ich ahnte, dass ein anhaltend falsches Leben im Handumdrehen in ein Schicksal umschlagen konnte. Mein Innenleben war nicht so großartig, dass ich vor ihm keine Angst hätte haben müssen."
Diese Passage besteht nur aus gebräuchlichen, an sich wenig originellen, aber, im Kontext einer Situations- und Mentalitätskennzeichnung, dann doch überraschenden Wörtern. So, in diesen noch recht vagen, aber wuchtigen Ausdrücken, schreibt heute kaum ein Romanschriftsteller; viele wären wahrscheinlich versucht, die geschilderte Szene, in der zugleich ein ganzes Psychogramm steckt, mit Adjektiven zu präzisieren. Genazino geht damit sparsam um, und die, die er verwendet, sind auch eher allgemein gehalten: "harmlos", "still", "rücksichtslos" - darunter wird jeder etwas anderes verstehen, und trotzdem wird jeder wissen, was gemeint ist. Nur so, im Verzicht auf jede weitere Ausschmückung, bleibt beim Lesen genug Raum für eigene Phantasien, ohne dass man den Eindruck hätte, es mit einem ungenauen Text zu tun zu haben.
Der obige Abschnitt enthält nämlich auch die wesentlichen Kategorien für Genazinos erzählerisches Verfahren und dessen philosophisch-ästhetische Voraussetzungen, die sich nach wie vor an Freud, Kafka und Adorno orientieren: ein generelles Fremdheits- beziehungsweise Entfremdungsgefühl, das jederzeit selbstkritisch durchdrungen wird; das von der Literaturkritik bisweilen verharmloste, scheinbar nutz- und ziellose, in Wirklichkeit nur der seelischen Entlastung dienende Flanieren; eine innere Leere, in der gleichwohl keinerlei Platz für Illusionen ist und die allenfalls in alltäglicher Beschaulichkeit ausbalanciert werden kann.
Und wenn sie nicht in der Balance ist? Genazinos Helden geraten zwar, aufgrund einer relativen Ereignislosigkeit, so gut wie nie außer sich; aber sie sind von zweierlei Mächten durchweg und sehr stark getrieben: dem Sexualtrieb, dem in immer wiederkehrender Routine abgeholfen wird, und der Erinnerung an die Kindheit, aus der heraus die elterlichen Schatten als anhaltend hemmende Prägemuster bedrohlich und doch wehmütig stimmend auftauchen.
Angesichts dieses Gefüges, das sich durch viele Genazino-Jahre hindurch als stabil erwiesen hat - den Kritikern kommt es natürlich zu starr vor -, lohnt es sich kaum, auf die Figuren und deren Erlebnisse jedes Mal groß einzugehen. Deshalb hier nur stichwortartig: ein promovierter Philosoph namens Reinhard, der in einem Hotel arbeitet und später in einem Anzeigenblatt landet; eine Freundin und Bettgenossin, die irgendwann, ermüdet von Reinhards Unentschlossenheit, einen anderen heiratet, von diesem aber wieder zurückkehrt; dazu jede Menge gleichsam anlassloser, aber in der gedanklichen Dichte, mit der sie berichtet werden, imponierende Stadt-Spaziergänge.
"Bei Regen im Saal" erinnert an "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman", eines von Genazinos besten Büchern, in dem mit großer Wahrhaftigkeit von einer Schriftsteller-Werdung erzählt wird. Dort war die bescheidene Zeitungskarriere, die der Held zuvor noch durchläuft, eines der ganz großen Glanzstücke. Hier ist es ein in erwarteter Trostlosigkeit absolviertes Familientreffen, aus dem blitzhaft die genazinohafte Entlarvungskomik aufsteigt. Reinhard erträgt die Gegenwart seines Bruders kaum: "An seiner Leutseligkeit erkannte ich, dass er mich in Kürze anpumpen würde." Mit meisterlichen Strichen werden hier Aspekte des Persönlichen und Sozialen gezeichnet und ins Typisch-Vertraute erhoben - es ist bitter, was berichtet wird, und doch zum Lachen.
Ansonsten stoßen wir auf die bestens erprobten Muster: Wieder ist es eine verkrachte, karg behauste Existenz, ein müder, kraftloser Protagonist um die vierzig mit Neigung zur Polygamie auf der Suche nach einem geregelten Leben und gleichzeitig auf der Flucht davor, der jede seelische Regung genauestens registriert, sich davon deprimieren, sich aber auch zu einem kalten, ja manchmal auch bösen Blick bestimmen lässt, der sich konsequent aufs unscheinbare, oft unterpriviligierte Leben richtet. Auf die Idee, seine Helden in die Frankfurter Goethestraße zu schicken, an der die Leute ihre Maseratis oder Porsches abstellen, um ihr Geld in den sündhaft teuren Bekleidungsgeschäften zu lassen, käme Genazino im Leben nicht - diese Art von vordergründiger, rein opportunistischer Kapitalismuskritik ist mit ihm nicht zu machen.
Im bleiernen Grau auch dieses Romans, das die heil- und hoffnungslose, aber gegen anhaltende Erschütterungen doch ganz gut gefeite Ich-Perspektive grundiert, ist allerdings eine Fülle an Sentenzen auszumachen, die einen Enzensberger eigentlich erblassen lassen müsste. Genazino schreibt wie ein Musiker, der Melodie und Rhythmus bedient; äußere Handlung und Nachdenken sind unentwirrbar miteinander verwoben. Das nahezu stillstehende Leben produziert Bilder wie von Edward Hopper. Das aufrichtige Anerkennen der Unabänderlichkeit gewisser Charaktereigenschaften mag manchen Leser dabei entmutigen. Genazinos besonderer Realismus wirft aber äußerst scharfe Blicke auf die sozialen Tatsachen.
"Mehrmals täglich durchzog mich das unabweisbare Gefühl, dass sich bei mir eine falsche Biografie an die Stelle einer nicht auffindbaren richtigen Biografie schob und dass die falsche Biographie auch noch attraktiv war, weil durch sie das Erscheinen der bloßen Romanhaftigkeit des Lebens begann." Diese tiefsinnige Poetik in eigener Sache mag, auf den Protagonisten bezogen, kein rechter Trost sein - dem Schriftsteller Wilhelm Genazino wird sie hoffentlich noch ganz viele gute böse Romane möglich machen.
EDO REENTS.
Wilhelm Genazino: "Bei Regen im Saal". Roman.
Verlag Carl Hanser, München 2014. 160 S., geb., 17,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Wieder keine Frau und kein Beruf? Wilhelm Genazinos neuer Roman siedelt auf vertrautestem Terrain. Glück spielt natürlich wieder keine Rolle. Lohnt es sich noch, so etwas zu lesen?
Kann man bei einem außergewöhnlich homogenen Romanwerk wie dem Wilhelm Genazinos von einem Altersstil sprechen? Mit 71 ist er dafür jedenfalls nicht zu jung. Die Frage ist nur, was ein Altersstil ist. Sofern man ihn landläufig versteht und damit eine gewisse Abgeklärtheit meint, vielleicht sogar Desillusionierung, dazu, in stilistischer Hinsicht, die Neigung, alles (vermeintlich) Überflüssige wegzulassen, wird man feststellen dürfen: So ist Genazino schon zu "Abschaffel"-Zeiten verfahren, vor bald vierzig Jahren also, und es hat sich seitdem nichts Wesentliches daran geändert. Gelegentlich äußern auch Genazino-Fans einen leichten Überdruss am immer recht Gleichen. Plausibler und gerechter aber will es scheinen, auch hierin, in der beharrlichen Variation und Verfeinerung des Vertrauten, eine der Stärken dieses Autors zu sehen, dessen Kunst in jüngeren Jahren im positiven Sinne altklug wirkte. Deswegen bietet seine Literatur auch kaum eine Handhabe, sie nach Lebensalter und Reifegrad zu sortieren.
Im neuen, wiederum gewohnt schlanken Roman "Bei Regen im Saal" lässt sich aber tatsächlich so etwas wie ein Altersstil ausmachen. War man in den Büchern der vergangenen fünfzehn Jahre auf (natürlich ohnehin nur ganz wenige) Passagen und Episoden gestoßen, von denen man dachte, Genazino hätte sie genauso gut auch weglassen können, so ist nun eine Verdichtung der Reflexion und - dieses Wort ist auf Genazino ja nur bedingt anwendbar - des Dramatischen erreicht, die kaum noch steigerbar sein dürfte.
Ein längeres Zitat vom Anfang des sechsten Kapitels, ziemlich in der Mitte des Buchs: "Weil es gerade regnete, konnte ich mir leichter als sonst eingestehen, dass ich als Überwinder bisher nur wenig Erfolg hatte. Während des Herumstehens im Regen gelang mir das Gefühl meiner momentanen Abtrennung von der Welt. Dabei konnte ich mir die harmlose Freude am stillen Herumtrödeln nicht länger leisten. Ich musste den Schlingerkurs meiner Existenz endgültig beenden. Gegen die Ödnisse der Tage ging ich rücksichtslos vor, aber wie beendete man das Schwanken einer Biografie? Ich ahnte, dass ein anhaltend falsches Leben im Handumdrehen in ein Schicksal umschlagen konnte. Mein Innenleben war nicht so großartig, dass ich vor ihm keine Angst hätte haben müssen."
Diese Passage besteht nur aus gebräuchlichen, an sich wenig originellen, aber, im Kontext einer Situations- und Mentalitätskennzeichnung, dann doch überraschenden Wörtern. So, in diesen noch recht vagen, aber wuchtigen Ausdrücken, schreibt heute kaum ein Romanschriftsteller; viele wären wahrscheinlich versucht, die geschilderte Szene, in der zugleich ein ganzes Psychogramm steckt, mit Adjektiven zu präzisieren. Genazino geht damit sparsam um, und die, die er verwendet, sind auch eher allgemein gehalten: "harmlos", "still", "rücksichtslos" - darunter wird jeder etwas anderes verstehen, und trotzdem wird jeder wissen, was gemeint ist. Nur so, im Verzicht auf jede weitere Ausschmückung, bleibt beim Lesen genug Raum für eigene Phantasien, ohne dass man den Eindruck hätte, es mit einem ungenauen Text zu tun zu haben.
Der obige Abschnitt enthält nämlich auch die wesentlichen Kategorien für Genazinos erzählerisches Verfahren und dessen philosophisch-ästhetische Voraussetzungen, die sich nach wie vor an Freud, Kafka und Adorno orientieren: ein generelles Fremdheits- beziehungsweise Entfremdungsgefühl, das jederzeit selbstkritisch durchdrungen wird; das von der Literaturkritik bisweilen verharmloste, scheinbar nutz- und ziellose, in Wirklichkeit nur der seelischen Entlastung dienende Flanieren; eine innere Leere, in der gleichwohl keinerlei Platz für Illusionen ist und die allenfalls in alltäglicher Beschaulichkeit ausbalanciert werden kann.
Und wenn sie nicht in der Balance ist? Genazinos Helden geraten zwar, aufgrund einer relativen Ereignislosigkeit, so gut wie nie außer sich; aber sie sind von zweierlei Mächten durchweg und sehr stark getrieben: dem Sexualtrieb, dem in immer wiederkehrender Routine abgeholfen wird, und der Erinnerung an die Kindheit, aus der heraus die elterlichen Schatten als anhaltend hemmende Prägemuster bedrohlich und doch wehmütig stimmend auftauchen.
Angesichts dieses Gefüges, das sich durch viele Genazino-Jahre hindurch als stabil erwiesen hat - den Kritikern kommt es natürlich zu starr vor -, lohnt es sich kaum, auf die Figuren und deren Erlebnisse jedes Mal groß einzugehen. Deshalb hier nur stichwortartig: ein promovierter Philosoph namens Reinhard, der in einem Hotel arbeitet und später in einem Anzeigenblatt landet; eine Freundin und Bettgenossin, die irgendwann, ermüdet von Reinhards Unentschlossenheit, einen anderen heiratet, von diesem aber wieder zurückkehrt; dazu jede Menge gleichsam anlassloser, aber in der gedanklichen Dichte, mit der sie berichtet werden, imponierende Stadt-Spaziergänge.
"Bei Regen im Saal" erinnert an "Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman", eines von Genazinos besten Büchern, in dem mit großer Wahrhaftigkeit von einer Schriftsteller-Werdung erzählt wird. Dort war die bescheidene Zeitungskarriere, die der Held zuvor noch durchläuft, eines der ganz großen Glanzstücke. Hier ist es ein in erwarteter Trostlosigkeit absolviertes Familientreffen, aus dem blitzhaft die genazinohafte Entlarvungskomik aufsteigt. Reinhard erträgt die Gegenwart seines Bruders kaum: "An seiner Leutseligkeit erkannte ich, dass er mich in Kürze anpumpen würde." Mit meisterlichen Strichen werden hier Aspekte des Persönlichen und Sozialen gezeichnet und ins Typisch-Vertraute erhoben - es ist bitter, was berichtet wird, und doch zum Lachen.
Ansonsten stoßen wir auf die bestens erprobten Muster: Wieder ist es eine verkrachte, karg behauste Existenz, ein müder, kraftloser Protagonist um die vierzig mit Neigung zur Polygamie auf der Suche nach einem geregelten Leben und gleichzeitig auf der Flucht davor, der jede seelische Regung genauestens registriert, sich davon deprimieren, sich aber auch zu einem kalten, ja manchmal auch bösen Blick bestimmen lässt, der sich konsequent aufs unscheinbare, oft unterpriviligierte Leben richtet. Auf die Idee, seine Helden in die Frankfurter Goethestraße zu schicken, an der die Leute ihre Maseratis oder Porsches abstellen, um ihr Geld in den sündhaft teuren Bekleidungsgeschäften zu lassen, käme Genazino im Leben nicht - diese Art von vordergründiger, rein opportunistischer Kapitalismuskritik ist mit ihm nicht zu machen.
Im bleiernen Grau auch dieses Romans, das die heil- und hoffnungslose, aber gegen anhaltende Erschütterungen doch ganz gut gefeite Ich-Perspektive grundiert, ist allerdings eine Fülle an Sentenzen auszumachen, die einen Enzensberger eigentlich erblassen lassen müsste. Genazino schreibt wie ein Musiker, der Melodie und Rhythmus bedient; äußere Handlung und Nachdenken sind unentwirrbar miteinander verwoben. Das nahezu stillstehende Leben produziert Bilder wie von Edward Hopper. Das aufrichtige Anerkennen der Unabänderlichkeit gewisser Charaktereigenschaften mag manchen Leser dabei entmutigen. Genazinos besonderer Realismus wirft aber äußerst scharfe Blicke auf die sozialen Tatsachen.
"Mehrmals täglich durchzog mich das unabweisbare Gefühl, dass sich bei mir eine falsche Biografie an die Stelle einer nicht auffindbaren richtigen Biografie schob und dass die falsche Biographie auch noch attraktiv war, weil durch sie das Erscheinen der bloßen Romanhaftigkeit des Lebens begann." Diese tiefsinnige Poetik in eigener Sache mag, auf den Protagonisten bezogen, kein rechter Trost sein - dem Schriftsteller Wilhelm Genazino wird sie hoffentlich noch ganz viele gute böse Romane möglich machen.
EDO REENTS.
Wilhelm Genazino: "Bei Regen im Saal". Roman.
Verlag Carl Hanser, München 2014. 160 S., geb., 17,90 [Euro].
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