"Wir sind die Kinder der Sonne, des Mondes und eines noch unentdeckten Planeten, auf dem nur wir drei Platz haben." Großmutter Laura, die älteste Fersehzuschauerin Europas, tyrannisiert ihren kleinen Familienkosmos. Sie sitzt im Rollstuhl vor dem Fernseher, zankt mit ihrer Tochter Danica und redet pausenlos. Weisheit und Unsinn ihrer Kommentare und Reminiszenzen, arrangiert von ihrem Enkel Bora Cosic, ergeben nichts Geringeres als eine "Enzyklopädie des Alltags" im 20. Jahrhundert.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.01.1999Großmamas Jahrhundertknäuel
Hundert Jahre Biederkeit: Bora Cosícs Familienpanorama
Es ist nicht das erste Mal, daß Bora Cosic, Jahrgang 1932, von seiner Familie erzählt. Diese unheilbar kleinbürgerliche und beschränkte, dabei äußerst redselige Sippschaft hat schon in der Weltrevolution eine entscheidende Rolle gespielt - in dem Roman "Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution" von 1969. Nun stellt sich heraus, daß ihr überlebendes Oberhaupt, Großmutter Laura, auch den Überblick über dieses Jahrhundert besitzt. Das mag an ihrem Alter liegen; sie ist sechsundneunzig. Es liegt aber auch daran, daß sie zu allem und jedem ein Urteil abzugeben hat, völlig unbeeindruckt von Political correctness, gehobenem ästhetischem Empfinden, Weltrevolution oder Leuten wie einem gewissen Himmler.
In einem endlosen Monolog breitet die alte Laura dieses Jahrhundert vor einer Leserschaft aus, die dem mäandernden Redefluß zuhört wie ein höflicher Besucher: fasziniert und genervt zugleich und immer wieder kurz davor, der Oma ein kurzes und wohlerzogenes Auf Wiederschaun hinzuwerfen und das Buch endgültig zuzuklappen. Ohne Kapitelunterteilungen, ohne Absatz, wenn auch mit Punkt und Komma, wie es sich nach Oma Laura wohl geziemt, wickelt sich das Jahrhundert weiter ab vom Knäuel der großmütterlichen Erinnerungsfäden. Und man kann, ohne durcheinanderzugeraten, jederzeit wieder weiterlesen, wo man aufgehört hat, oder auch woanders - einen Anschluß findet man leicht, das Jahrhundert nach Oma Laura aus Belgrad unterliegt keiner chronologischen Ordnung.
Eine Inventarliste, die als Ersatz für Kapitelüberschriften dient, zeigt im Überblick, worauf man auf den 384 Seiten gefaßt sein darf: "Schweizer Banken vorm Bankrott - Alben der Erinnerung, der Geschichte - Der gute arme Dusan - Die Antwort eines simplen Passanten - Die Theorie vom Rührei - Ich schreibe Bücher und er schießt - Riesenspritze gegen Wahnsinn" und so weiter, und so fort. Mit ironischem Understatement hat Bora Cosic den buchfüllenden Bewußtseinsstrom der kleinbürgerlichen Oma zum "Jahrhundertroman" ernannt. Das hat insofern seine Berechtigung, als kaum eines der "Jahrhundertthemen" - vom Wetter bis zum Völkermord, vom Totalitarismus bis zum Kaffeetrinken, vom Wandel der Frauenrolle wie des Turnvereins - unerwähnt bleibt. Die von Oma empfohlene Riesenspritze gegen Wahnsinn könnte man im Lauf der Lektüre manchmal ganz gut vertragen. Vor allem dann, wenn sich ob des raschen Themenwechsels ein hartnäckiger Schwindel bemerkbar macht. Die alte Dame sitzt unerschütterlich in ihrem Rollstuhl, dem stets laufenden Fernseher gegenüber, und kommentiert mit gleichem Nachdruck die Verfehlungen des Flittchens der Seifenoper wie die in ihren Augen erfreuliche Tatsache, daß sie selbst keine Jüdin ist. Zwar hat sie schon einiges hinter sich gebracht im Leben, ihren Mann und alle ihre Kinder bis auf die putzwütige Danica begraben. Aber: "Jeder ist im Bett gestorben, ordentlich, wenn auch unter Qualen, doch wenn ich mir vorstelle, ihre Gräber wären unbekannt oder sie wären vor dem ganzen Dorf aufgehängt oder noch als Tote angespuckt worden, dann ist's mir so viel lieber, und es geziemt sich auch mehr." Hinter der egoistischen Rechtschaffenheit und dem zynischen Optimismus einer Alten, die bisher noch alles überstanden hat, verbirgt sich noch etwas anderes: Denn Bora Cosics petite histoire dieses Jahrhunderts, mit solch umwerfend grotesker Konsequenz dargeboten, bietet überraschende Analysen und scharfe Einsichten von nur vordergründiger Komik: "Keine leichte Sache, im Gleichschritt zu marschieren, die kompliziertesten Lieder zu singen und die Fensterscheiben von Leuten einzuschlagen, die gegen dich sind. Dazu braucht's eine starke Hand, eine gute Stimme, stämmige Beine. Und einen Stein."
Der manchmal derbe, manchmal gezierte Ton und die mit beinahe hörbar klapperndem Gebiß vorgetragenen Tiraden gegen schlechte Manieren führen immer wieder in das Milieu zurück, das hier als Rahmen dient. Die ergebene, den Fußboden polierende Tochter, Witwe des charmanten Säufers Cosic, übernimmt hin und wieder das Wort, in eher seufzender und weniger optimistischer Tonlage - aber in derselben Atmosphäre von guter Stube, Nippes und Küchengeruch. Auch in dieser Variante funktioniert die Rollenprosa. So erfährt man in diesem Buch ebensoviel über das Jahrhundert wie über die darin redenden, fernsehenden, putzenden und quasselnden Gestalten: Laura und Danica führt der selbst gelegentlich in das Buch hereinschneiende Enkel Bora als exemplarische Figuren dieses Jahrhunderts vor - exemplarisch zumindest für die Kleinbürger, die Masse, das Volk.
"Liebe Kinder und Genossen, liebe Völker und liebste Nationen, allerliebste Mütter und Schwestern, unvergleichlicher Pöbel, steht stramm und rührt euch, bis euch erklärt wird, was Sache ist . . ." Ist dies ein Befehl oder eine Empfehlung zum Überleben? Ist es das Volk, das hier verspottet wird, oder gilt der Spott jenen, die es verachten? Oder verachtet es sich selbst? Dann wohl in Gestalt der ewigen Oma, die da sagt: "Ein Glück, daß wir überlebt haben und nicht die anderen, die uns nie erwähnen würden." KATHARINA DÖBLER
Bora Cosic: "Bel tempo". Jahrhundertroman. Aus dem Serbischen übersetzt von Irene Vrkljan und Benno Meyer-Wehlack. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 1998. 384 S., geb., 39,80 DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hundert Jahre Biederkeit: Bora Cosícs Familienpanorama
Es ist nicht das erste Mal, daß Bora Cosic, Jahrgang 1932, von seiner Familie erzählt. Diese unheilbar kleinbürgerliche und beschränkte, dabei äußerst redselige Sippschaft hat schon in der Weltrevolution eine entscheidende Rolle gespielt - in dem Roman "Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution" von 1969. Nun stellt sich heraus, daß ihr überlebendes Oberhaupt, Großmutter Laura, auch den Überblick über dieses Jahrhundert besitzt. Das mag an ihrem Alter liegen; sie ist sechsundneunzig. Es liegt aber auch daran, daß sie zu allem und jedem ein Urteil abzugeben hat, völlig unbeeindruckt von Political correctness, gehobenem ästhetischem Empfinden, Weltrevolution oder Leuten wie einem gewissen Himmler.
In einem endlosen Monolog breitet die alte Laura dieses Jahrhundert vor einer Leserschaft aus, die dem mäandernden Redefluß zuhört wie ein höflicher Besucher: fasziniert und genervt zugleich und immer wieder kurz davor, der Oma ein kurzes und wohlerzogenes Auf Wiederschaun hinzuwerfen und das Buch endgültig zuzuklappen. Ohne Kapitelunterteilungen, ohne Absatz, wenn auch mit Punkt und Komma, wie es sich nach Oma Laura wohl geziemt, wickelt sich das Jahrhundert weiter ab vom Knäuel der großmütterlichen Erinnerungsfäden. Und man kann, ohne durcheinanderzugeraten, jederzeit wieder weiterlesen, wo man aufgehört hat, oder auch woanders - einen Anschluß findet man leicht, das Jahrhundert nach Oma Laura aus Belgrad unterliegt keiner chronologischen Ordnung.
Eine Inventarliste, die als Ersatz für Kapitelüberschriften dient, zeigt im Überblick, worauf man auf den 384 Seiten gefaßt sein darf: "Schweizer Banken vorm Bankrott - Alben der Erinnerung, der Geschichte - Der gute arme Dusan - Die Antwort eines simplen Passanten - Die Theorie vom Rührei - Ich schreibe Bücher und er schießt - Riesenspritze gegen Wahnsinn" und so weiter, und so fort. Mit ironischem Understatement hat Bora Cosic den buchfüllenden Bewußtseinsstrom der kleinbürgerlichen Oma zum "Jahrhundertroman" ernannt. Das hat insofern seine Berechtigung, als kaum eines der "Jahrhundertthemen" - vom Wetter bis zum Völkermord, vom Totalitarismus bis zum Kaffeetrinken, vom Wandel der Frauenrolle wie des Turnvereins - unerwähnt bleibt. Die von Oma empfohlene Riesenspritze gegen Wahnsinn könnte man im Lauf der Lektüre manchmal ganz gut vertragen. Vor allem dann, wenn sich ob des raschen Themenwechsels ein hartnäckiger Schwindel bemerkbar macht. Die alte Dame sitzt unerschütterlich in ihrem Rollstuhl, dem stets laufenden Fernseher gegenüber, und kommentiert mit gleichem Nachdruck die Verfehlungen des Flittchens der Seifenoper wie die in ihren Augen erfreuliche Tatsache, daß sie selbst keine Jüdin ist. Zwar hat sie schon einiges hinter sich gebracht im Leben, ihren Mann und alle ihre Kinder bis auf die putzwütige Danica begraben. Aber: "Jeder ist im Bett gestorben, ordentlich, wenn auch unter Qualen, doch wenn ich mir vorstelle, ihre Gräber wären unbekannt oder sie wären vor dem ganzen Dorf aufgehängt oder noch als Tote angespuckt worden, dann ist's mir so viel lieber, und es geziemt sich auch mehr." Hinter der egoistischen Rechtschaffenheit und dem zynischen Optimismus einer Alten, die bisher noch alles überstanden hat, verbirgt sich noch etwas anderes: Denn Bora Cosics petite histoire dieses Jahrhunderts, mit solch umwerfend grotesker Konsequenz dargeboten, bietet überraschende Analysen und scharfe Einsichten von nur vordergründiger Komik: "Keine leichte Sache, im Gleichschritt zu marschieren, die kompliziertesten Lieder zu singen und die Fensterscheiben von Leuten einzuschlagen, die gegen dich sind. Dazu braucht's eine starke Hand, eine gute Stimme, stämmige Beine. Und einen Stein."
Der manchmal derbe, manchmal gezierte Ton und die mit beinahe hörbar klapperndem Gebiß vorgetragenen Tiraden gegen schlechte Manieren führen immer wieder in das Milieu zurück, das hier als Rahmen dient. Die ergebene, den Fußboden polierende Tochter, Witwe des charmanten Säufers Cosic, übernimmt hin und wieder das Wort, in eher seufzender und weniger optimistischer Tonlage - aber in derselben Atmosphäre von guter Stube, Nippes und Küchengeruch. Auch in dieser Variante funktioniert die Rollenprosa. So erfährt man in diesem Buch ebensoviel über das Jahrhundert wie über die darin redenden, fernsehenden, putzenden und quasselnden Gestalten: Laura und Danica führt der selbst gelegentlich in das Buch hereinschneiende Enkel Bora als exemplarische Figuren dieses Jahrhunderts vor - exemplarisch zumindest für die Kleinbürger, die Masse, das Volk.
"Liebe Kinder und Genossen, liebe Völker und liebste Nationen, allerliebste Mütter und Schwestern, unvergleichlicher Pöbel, steht stramm und rührt euch, bis euch erklärt wird, was Sache ist . . ." Ist dies ein Befehl oder eine Empfehlung zum Überleben? Ist es das Volk, das hier verspottet wird, oder gilt der Spott jenen, die es verachten? Oder verachtet es sich selbst? Dann wohl in Gestalt der ewigen Oma, die da sagt: "Ein Glück, daß wir überlebt haben und nicht die anderen, die uns nie erwähnen würden." KATHARINA DÖBLER
Bora Cosic: "Bel tempo". Jahrhundertroman. Aus dem Serbischen übersetzt von Irene Vrkljan und Benno Meyer-Wehlack. Verlag Rowohlt Berlin, Berlin 1998. 384 S., geb., 39,80 DM.
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