Produktdetails
- Verlag: Vorwerk 8
- Seitenzahl: 430
- Deutsch
- Abmessung: 240mm
- Gewicht: 784g
- ISBN-13: 9783930916535
- ISBN-10: 3930916533
- Artikelnr.: 10482012
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.12.2003Sehnsucht nach dem sichtbaren Menschen
Hanno Loewy schreibt die intellektuelle Breitwand-Biographie des Filmtheoretikers Béla Balázs
Unter jedem Grabstein liege eine Weltgeschichte, hat Heinrich Heine gedichtet. Mancher Mensch wird im nachhinein freilich für anderes gerühmt als die Eigenschaften, die ihn im Alltag ausmachten. Was wissen wir über das Menschsein der hellsten und finstersten Gestalten dieser Welt? Im besten Fall erteilt uns ein Tagebuch Auskunft.
Die Existenz eines Filmkritikers, eines Filmtheoretikers oder Drehbuchautors an sich ist marginal genug, um außerhalb des gedruckten Werkes nicht zu überleben. Sie verschwindet in dem Schatten, den auf eine Leinwand geworfenes Licht erzeugt. In Deutschland haben kaum ein Dutzend einschlägige Namen die Zeiten überstanden. Ganze drei Filmtheoretiker wurden so bekannt, daß man sie angelegentlich zum "ABK" ihrer Profession ernannt hat: Rudolf Arnheim, Béla Balázs und Siegfried Kracauer. Aus dem assimilierten Judentum stammend, eint sie der Bruch mit der "altertümelnden Neuromantik" der Vorväter - so Kracauer in seiner Kritik der Bibelübersetzung von Buber und Rosenzweig. Gemeinsam und doch jeder auf seine Weise vertrieben sie den unbedingten Glauben an das gedruckte Wort. "Bekundungen wirklichen Lebens" hielten sie nicht länger als uneigentlich von sich fern. Damit ist die Essenz der Moderne berührt: Die mediale Erfahrung, ein gesehenes und gehörtes, doch nicht mehr gelebtes Leben hatte sich im Alltag raumgreifend niedergelassen.
Neben die Diagnostik Kracauers und die Orientierung auf die Form bei Arnheim wird zur dritten Säule der deutschsprachigen Filmtheorie das Werk von Béla Balázs. Bei ihm trifft man auf eine expressive und assoziierende, dem Film angenäherte Sprache, ein Denken in Bildern. Dadurch erscheint es ohne Voraussetzungen. Doch Balázs kam bereits als Dichter nach Wien und Berlin, um Autor für und über den Film erst noch zu werden. Woher er kam - dieser Frage geht Hanno Loewy in einer Dissertation nach, die als intellektuelle Biographie im guten Sinn gelten darf. Nicht die über drei Bücher verteilte (und bei Suhrkamp unlängst wieder zugänglich gemachte) Filmtheorie steht im Mittelpunkt dieser Exegese, sondern tatsächlich Leben und Werk des 1884 im ungarischen Szeged Geborenen. In zahlreichen Exkursen finden sich die Jahre der intellektuellen Formierung beschrieben. Und das Herumexperimentieren, wie einer leben soll, der tausend Talente hat: Balázs war in seiner ungarischen Zeit Romanautor, Novellist, Dichter und Dramatiker, dazu hatte er erheblichen Erfolg als Verfasser von Märchen. Vieles davon wird durch Loewys Recherche erstmals aufgedeckt. Die Sicht des Betroffenen selbst findet sich in der Übersetzung eines Tagebuchs, das konstant bis 1922 berichtet.
Zu diesem Zeitpunkt hat sich Balázs von seinem engsten Freund und Weggefährten Georg Lukács bereits entfernt. Nach dem Scheitern der ungarischen Räterepublik befinden sich die beiden im Wiener Exil. Lukács ist als Protagonist der gescheiterten Bewegung daheim des neunfachen Mordes angeklagt. Das "philosophische Genie", kommentiert Balázs, eigne sich aber kein bißchen zum Politiker und Revolutionär, "einer wie er, der nicht mehr seine Sprache spricht, wenn er von mehr als zehn Menschen verstanden wird". Dies ist der unrühmliche Ausgang einer Freundschaft, die fast zwei Jahrzehnte gehalten hatte und nie auf das intellektuelle Bündnis beschränkt geblieben war. Zeitweise hatte man dieselbe Frau geliebt und mit zwei erwählten Gefährtinnen eine Landkommune geplant, um noch im Alter familiär zusammenzuleben. Die Bruchstelle ist Lukács' sich herausbildende Konzeption dessen, was Literatur und Kunst in der Gesellschaft bewirken könnten. Er wird Hegelianer. Balázs hingegen bleibt der Lebensphilosophie treu. Sie bestimmt sein Denken auf Dauer.
Die Menschen ändern sich nicht, in ihrer Bestimmung und ihrem Streben nach Ganzheit bleiben sie stets denselben vitalistischen Prinzipien verhaftet. Oder deren Negation, wie Balázs' erstes Buch, eine "Todesästhetik" von 1907, als erregender Auftakt erweist. Hatte Lukács in seinen frühen Gedanken zur Ästhetik des Kinos der neuen Kunstform noch jede gegenwärtige Metaphysik abgesprochen, wird genau sie zu Balázs' Credo, später dann auch zum Geheimnis seiner Kino-Schriften. Zunächst ist ihm die Kunst allgemein eine profane Religion, der sich das Subjekt getrost hingeben könne. Daher die Affinität zum Traum, zum Märchen, zu animistischen "Übergangsriten": Im realen Leben ein rechtes Mängelwesen, kann sich der Mensch im Kunsterlebnis selbst komplettieren. Die Erkenntnis dieses Erlebens hatte Balázs von seinem Lehrer und Anreger Georg Simmel übernommen, um sie in zentraler Funktion dann noch seinen Gedanken zum Film einzuverleiben. Bei Simmel in einem existentialistischen Zweifel endend, macht das an technischen Bildern beschriebene "Ich" das Neue und noch immer Fesselnde von Balázs' Theorie aus.
So behaupteten sich die neuen Bilder der Moderne gegen jede Interpretation, die auf einem überkommenen philosophischen System beruht. "Ob mein Judentum des Rätsels Lösung ist?" fragt sich Balázs einmal. Rasch wird der Gedanke wieder verworfen. Vielleicht zu rasch, denn mittelbar ist es das Aufbegehren gegen eine auf das Wort fixierte Exegese und das Hadern mit dem Bild, das sich als Schlüssel zum Verständnis der jungen Wilden nicht nur jener Zeit herausstellen könnte, die sich mit Wilhelm Worringer einig wissen in ihrem Glauben an eine "Verlebendigung des Anorganischen".
Die klassischen Filmtheoretiker der deutschen Sprache landeten im Exil, jeder auf seine Weise. Béla Balazs vergriff sich mit der Wahl seines letzten Sujets in Deutschland, als er für Leni Riefenstahl "Das Blaue Licht" schrieb. Er tat dies im guten Glauben an eine im Kino zu erlebende Ganzheit. Heute ist Welterfahrung, vor allem bei Kindern, fast vollständig an die Medien delegiert. Um so eindringlicher Balázs' Mahnung: "Die Kultur der Worte ist eine entmaterialisierte, abstrakte, verintellektualisierte Kultur, die den menschlichen Körper zu einem bloßen Organismus degradiert hat. Aber die neue Gebärdensprache, die da kommt, entspringt unserer schmerzlichen Sehnsucht, mit unserem ganzen Körper, vom Scheitel bis zur Sohle wir selbst, Mensch sein zu können. Sie entspringt der Sehnsucht nach dem verstummten, vergessenen, unsichtbar gewordenen leiblichen Menschen."
THOMAS MEDER
Hanno Loewy: "Béla Balázs". Märchen, Ritual und Film. Vorwerk 8 Verlag, Berlin 2003. 430 S., Abb., br., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hanno Loewy schreibt die intellektuelle Breitwand-Biographie des Filmtheoretikers Béla Balázs
Unter jedem Grabstein liege eine Weltgeschichte, hat Heinrich Heine gedichtet. Mancher Mensch wird im nachhinein freilich für anderes gerühmt als die Eigenschaften, die ihn im Alltag ausmachten. Was wissen wir über das Menschsein der hellsten und finstersten Gestalten dieser Welt? Im besten Fall erteilt uns ein Tagebuch Auskunft.
Die Existenz eines Filmkritikers, eines Filmtheoretikers oder Drehbuchautors an sich ist marginal genug, um außerhalb des gedruckten Werkes nicht zu überleben. Sie verschwindet in dem Schatten, den auf eine Leinwand geworfenes Licht erzeugt. In Deutschland haben kaum ein Dutzend einschlägige Namen die Zeiten überstanden. Ganze drei Filmtheoretiker wurden so bekannt, daß man sie angelegentlich zum "ABK" ihrer Profession ernannt hat: Rudolf Arnheim, Béla Balázs und Siegfried Kracauer. Aus dem assimilierten Judentum stammend, eint sie der Bruch mit der "altertümelnden Neuromantik" der Vorväter - so Kracauer in seiner Kritik der Bibelübersetzung von Buber und Rosenzweig. Gemeinsam und doch jeder auf seine Weise vertrieben sie den unbedingten Glauben an das gedruckte Wort. "Bekundungen wirklichen Lebens" hielten sie nicht länger als uneigentlich von sich fern. Damit ist die Essenz der Moderne berührt: Die mediale Erfahrung, ein gesehenes und gehörtes, doch nicht mehr gelebtes Leben hatte sich im Alltag raumgreifend niedergelassen.
Neben die Diagnostik Kracauers und die Orientierung auf die Form bei Arnheim wird zur dritten Säule der deutschsprachigen Filmtheorie das Werk von Béla Balázs. Bei ihm trifft man auf eine expressive und assoziierende, dem Film angenäherte Sprache, ein Denken in Bildern. Dadurch erscheint es ohne Voraussetzungen. Doch Balázs kam bereits als Dichter nach Wien und Berlin, um Autor für und über den Film erst noch zu werden. Woher er kam - dieser Frage geht Hanno Loewy in einer Dissertation nach, die als intellektuelle Biographie im guten Sinn gelten darf. Nicht die über drei Bücher verteilte (und bei Suhrkamp unlängst wieder zugänglich gemachte) Filmtheorie steht im Mittelpunkt dieser Exegese, sondern tatsächlich Leben und Werk des 1884 im ungarischen Szeged Geborenen. In zahlreichen Exkursen finden sich die Jahre der intellektuellen Formierung beschrieben. Und das Herumexperimentieren, wie einer leben soll, der tausend Talente hat: Balázs war in seiner ungarischen Zeit Romanautor, Novellist, Dichter und Dramatiker, dazu hatte er erheblichen Erfolg als Verfasser von Märchen. Vieles davon wird durch Loewys Recherche erstmals aufgedeckt. Die Sicht des Betroffenen selbst findet sich in der Übersetzung eines Tagebuchs, das konstant bis 1922 berichtet.
Zu diesem Zeitpunkt hat sich Balázs von seinem engsten Freund und Weggefährten Georg Lukács bereits entfernt. Nach dem Scheitern der ungarischen Räterepublik befinden sich die beiden im Wiener Exil. Lukács ist als Protagonist der gescheiterten Bewegung daheim des neunfachen Mordes angeklagt. Das "philosophische Genie", kommentiert Balázs, eigne sich aber kein bißchen zum Politiker und Revolutionär, "einer wie er, der nicht mehr seine Sprache spricht, wenn er von mehr als zehn Menschen verstanden wird". Dies ist der unrühmliche Ausgang einer Freundschaft, die fast zwei Jahrzehnte gehalten hatte und nie auf das intellektuelle Bündnis beschränkt geblieben war. Zeitweise hatte man dieselbe Frau geliebt und mit zwei erwählten Gefährtinnen eine Landkommune geplant, um noch im Alter familiär zusammenzuleben. Die Bruchstelle ist Lukács' sich herausbildende Konzeption dessen, was Literatur und Kunst in der Gesellschaft bewirken könnten. Er wird Hegelianer. Balázs hingegen bleibt der Lebensphilosophie treu. Sie bestimmt sein Denken auf Dauer.
Die Menschen ändern sich nicht, in ihrer Bestimmung und ihrem Streben nach Ganzheit bleiben sie stets denselben vitalistischen Prinzipien verhaftet. Oder deren Negation, wie Balázs' erstes Buch, eine "Todesästhetik" von 1907, als erregender Auftakt erweist. Hatte Lukács in seinen frühen Gedanken zur Ästhetik des Kinos der neuen Kunstform noch jede gegenwärtige Metaphysik abgesprochen, wird genau sie zu Balázs' Credo, später dann auch zum Geheimnis seiner Kino-Schriften. Zunächst ist ihm die Kunst allgemein eine profane Religion, der sich das Subjekt getrost hingeben könne. Daher die Affinität zum Traum, zum Märchen, zu animistischen "Übergangsriten": Im realen Leben ein rechtes Mängelwesen, kann sich der Mensch im Kunsterlebnis selbst komplettieren. Die Erkenntnis dieses Erlebens hatte Balázs von seinem Lehrer und Anreger Georg Simmel übernommen, um sie in zentraler Funktion dann noch seinen Gedanken zum Film einzuverleiben. Bei Simmel in einem existentialistischen Zweifel endend, macht das an technischen Bildern beschriebene "Ich" das Neue und noch immer Fesselnde von Balázs' Theorie aus.
So behaupteten sich die neuen Bilder der Moderne gegen jede Interpretation, die auf einem überkommenen philosophischen System beruht. "Ob mein Judentum des Rätsels Lösung ist?" fragt sich Balázs einmal. Rasch wird der Gedanke wieder verworfen. Vielleicht zu rasch, denn mittelbar ist es das Aufbegehren gegen eine auf das Wort fixierte Exegese und das Hadern mit dem Bild, das sich als Schlüssel zum Verständnis der jungen Wilden nicht nur jener Zeit herausstellen könnte, die sich mit Wilhelm Worringer einig wissen in ihrem Glauben an eine "Verlebendigung des Anorganischen".
Die klassischen Filmtheoretiker der deutschen Sprache landeten im Exil, jeder auf seine Weise. Béla Balazs vergriff sich mit der Wahl seines letzten Sujets in Deutschland, als er für Leni Riefenstahl "Das Blaue Licht" schrieb. Er tat dies im guten Glauben an eine im Kino zu erlebende Ganzheit. Heute ist Welterfahrung, vor allem bei Kindern, fast vollständig an die Medien delegiert. Um so eindringlicher Balázs' Mahnung: "Die Kultur der Worte ist eine entmaterialisierte, abstrakte, verintellektualisierte Kultur, die den menschlichen Körper zu einem bloßen Organismus degradiert hat. Aber die neue Gebärdensprache, die da kommt, entspringt unserer schmerzlichen Sehnsucht, mit unserem ganzen Körper, vom Scheitel bis zur Sohle wir selbst, Mensch sein zu können. Sie entspringt der Sehnsucht nach dem verstummten, vergessenen, unsichtbar gewordenen leiblichen Menschen."
THOMAS MEDER
Hanno Loewy: "Béla Balázs". Märchen, Ritual und Film. Vorwerk 8 Verlag, Berlin 2003. 430 S., Abb., br., 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Woher Bela Balazs kam, dieser Frage, berichtet Rezensent Thomas Meder, geht Hanno Loewy in dieser Dissertation nach - die, wie Meder lobt, "als intellektuelle Biografie im guten Sinn gelten darf". So zeige Loewy etwa das "Herumexperimentieren" von Balazs, in seiner ungarischen Zeit, mit der Frage, "wie einer leben soll, der tausend Talente hat". Denn der Filmtheoretiker war damals noch, wie man erfährt - und wovon vieles, wie Meder lobt, "durch Loewys Recherche erstmals aufgedeckt" wird - noch Romanautor, Novellist, Dichter, Dramatiker und erfolgreicher Verfasser von Märchen zugleich. Außerdem bietet Loewys Buch, wie man weiter erfährt, auch die Sicht von Balasz selbst auf diese Zeit, in einer Übersetzung seines Tagebuchs, das "konstant bis 1922 berichtet". So zeichne Loewy, berichtet Meder, den Weg von Balasz nach, hin zur Lebensphilosophie und seinem zentralen Credo - das der Rezensent so wiedergibt: "Im realen Leben ein rechtes Mängelwesen, kann sich der Mensch im Kunsterlebnis selbst komplettieren."
© Perlentaucher Medien GmbH
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