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Optogramme sind Bilder, bei denen es nichts zu sehen gibt und die doch viel zu sehen geben. Sie sind Bilder, glaubte man lange, die sich auf der Retina eines Verstorbenen im Moment seines Todes abzeichnen: letzte Bilder. Von der Naturwissenschaft über die Kriminologie und Religion bis hin zur Literatur und Kunst hat diese Vision viele Spuren hinterlassen, die hier gesichert, dargestellt und analysiert werden. Ein besonderes Kapitel der Wahrnehmungsgeschichte, das wahrlich stranger than fiction ist.

Produktbeschreibung
Optogramme sind Bilder, bei denen es nichts zu sehen gibt und die doch viel zu sehen geben. Sie sind Bilder, glaubte man lange, die sich auf der Retina eines Verstorbenen im Moment seines Todes abzeichnen: letzte Bilder. Von der Naturwissenschaft über die Kriminologie und Religion bis hin zur Literatur und Kunst hat diese Vision viele Spuren hinterlassen, die hier gesichert, dargestellt und analysiert werden. Ein besonderes Kapitel der Wahrnehmungsgeschichte, das wahrlich stranger than fiction ist.
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Autorenporträt
Bernd Stiegler,geboren 1964, studierte Literaturwissenschaft und Philosophie in Tübingen, München, Paris, Berlin, Freiburg und Mannheim. Von 1999 bis 2007 arbeitete er als Programmleiter Wissenschaft im Suhrkamp Verlag. Seit Herbst 2007 ist er Professor für Neuere Deutsche Literatur
mit Schwerpunkt Literatur des 20.¿Jahrhunderts im medialen Kontext an der Universität Konstanz. Zuletzt sind von ihm im S.Fischer Verlag erschienen 'Reisender Stillstand. Eine kleine Geschichte des Reisens im und um das Zimmer herum' (2010) sowie 'Belichtete Augen. Optogramme oder das Versprechen der Retina' (2012).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.11.2011

Auf der Netzhaut der Ermordeten

Ein weiterer Grund, gegenüber den Versprechen der Bilder skeptisch zu bleiben: Bernd Stieglers exzellente Studie über letzte Blicke von Gewaltopfern.

Von Steffen Siegel

Als 1863 eine junge Frau namens Smith in San Francisco gewaltsam ums Leben kam, schlug der dortige Polizeichef eine ungewöhnliche Ermittlungsmethode vor. Ein Fotograf wurde mit der Aufgabe betraut, eine Aufnahme von der Netzhaut der Ermordeten anzufertigen und die hierbei entstandene Ambrotypie sodann auf das Zehnfache zu vergrößern. In dem so gewonnenen Bild konnten die zuständigen Polizisten zunächst kaum mehr als einige verworrene Formen erkennen. Je länger sie diese eigentümliche Fotografie jedoch betrachteten, umso deutlicher zeichneten sich die Gesichtszüge einer menschlichen Figur ab: Zum Vorschein kamen eine Hakennase und eine niedrige Stirn, die Augenpartien stellten sich zwar nur verschwommen dar, doch ließ sich deutlich erkennen, dass diese von dichten, schwarzen Augenbrauen umrandet waren; und unter der Nase schließlich ließ sich ein Schnauzbart ausmachen.

Schnell war den Ermittlern klar, wessen Gesicht sich hier in der Retina der Ermordeten eingebrannt hatte: In Frage kam allein der aus Mexiko stammende Vermieter von Misses Smith. Dies passte den Ermittlern gut ins Konzept, hatten doch einige Zeugen bereits ausgesagt, dass ebendieser Mexikaner sich in der zurückliegenden Zeit auf verdächtige Weise in der Gegend herumgetrieben habe. Es ist eine ganz besondere Augenzeugenschaft, die die kalifornischen Kriminalisten hier im Sinn hatten. Denn wenn sich tatsächlich auf der Netzhaut des menschlichen Auges gerade jenes Bild einbrennen würde, das dieses zuletzt empfangen hat, dann müsste es fortan ja leichthin möglich sein, Gewaltverbrechern ihre Taten zu beweisen, indem man den letzten Blick des Opfers kriminalistisch auswertet.

Was in unseren heutigen Ohren wie eine abstruse Räuberpistole aus den Tiefen des neunzehnten Jahrhunderts klingen mag, wurde jedoch seinerzeit mit großem wissenschaftlichen Ernst unter dem Namen Optogramm diskutiert und erforscht. Das Auge, so die dahinterstehenden Vorstellung, funktioniert nicht sehr viel anders als eine Fotokamera: In ihm wird die sichtbare Welt zu einem Bild gebündelt und auf der Retina - einer fotografischen Platte gleich - gespeichert. Und es ist der Tod, der dieses Bild im Auge dauerhaft fixiert.

Die Moderne ist süchtig nach neuen Bildern. Und nicht zuletzt ist sie, wie der Konstanzer Literatur- und Medienwissenschaftler Bernd Stiegler in einer großartigen Studie zur Geschichte der Optogramme zeigt, bereit, auch dort Bilder zu vermuten, ja zu sehen, wo es ganz einfach nichts zu sehen gibt. Es sind sonderbare Abwege der Bildmediengeschichte, die Stiegler hier rekonstruiert. Und doch führen sie direkt ins Zentrum einer Kultur, die mit dem seinerzeit noch jungen Medium der Fotografie das Versprechen auf ein vollkommen neues Sehen verband.

Was sich von heute aus als eine krude Mischung aus Wissenschaft, Pseudowissenschaft, Volksglaube und Fiktion ausnehmen mag, konnte lange Zeit große Wirkung entfalten. Vollkommen zu Recht unterstreicht Stiegler daher, dass auch ein Aberglaube in weitreichender Weise handlungsleitend ist. Aus einer solchen Perspektive kann sich die projektive Lektüre letzter Netzhaut-Bilder zu einem überaus ernsten Spiel der Wissensproduktion aufschwingen.

Naturwissenschaftler waren hieran, wenigstens für einige Zeit, alles andere als unbeteiligt. Mit der Entdeckung des Sehpurpurs im Jahr 1877 war dafür der Boden bereitet. Fortan ließ sich das Auge nicht allein in einem physikalischen Sinn mit den optischen Prozessen innerhalb der Kamera vergleichen. Wenn sich im Inneren des Sehapparates darüber hinaus auch chemische Prozesse abspielen, dann lag die Analogie zum Fotolabor allemal nahe. Vor allem Wilhelm Kühne, Nachfolger von Hermann von Helmholtz auf dem Heidelberger Lehrstuhl für Physiologie, widmete sich mehrere Jahre genauso intensiv wie erfolglos seinen Versuchen, das Phänomen der Optogramme durch wissenschaftliche Beweise zu untermauern.

Ganze Generationen von Laborhasen, denen man allen Ernstes ein Porträt von Helmholtz auf die Netzhaut zu brennen versuchte, scheinen hierfür ihr Leben gelassen zu haben. Und zuletzt wurde nicht einmal vor Hingerichteten haltgemacht, in deren Netzhaut sich nun aber ausgerechnet das Bild jenes Fallbeils abgezeichnet haben soll, das sie nun wirklich nicht gesehen haben konnten.

Doch erschöpft sich Stieglers Untersuchung nicht in solchen ebenso erstaunlichen wie amüsanten Exkursen in die Wissenschaftsgeschichte der Moderne. Das vom selben Autor vor inzwischen fünf Jahren vorgelegte Buch "Bilder der Photographie" - zurzeit die bei weitem beste Einführung in den Gegenstand - erfährt mit dieser Geschichte der Optogramme eine überaus lesenswerte Vertiefung. Denn ob als kriminologischer Untersuchungsgegenstand oder schließlich als Motiv der Literatur- und Filmgeschichte - in beträchtlicher Weise schließen Optogramme an jene rhetorischen Vergleiche an, die für die Fotografie generell zur Hand waren. Das Auge wird hier zur Kamera, die fotografische Platte zur Retina, das Bild zum Gedächtnis.

Eindringlich verfolgt Stiegler, wie das Entscheidende, der rhetorische Charakter all dieser Analogien, mehr und mehr außer Blick gerät, um zuletzt als eine Tatsachenbehauptung im Raum zu stehen. Bildmagischer Obskurantismus und das Beharren auf wissenschaftlicher Objektivität geraten hierbei in eine ebenso irritierende wie folgenreiche Nachbarschaft.

Eine beruhigende Auskunft gibt Stiegler übrigens ganz nebenbei: Ihm ist kein Fall in der Kriminalgeschichte bekannt geworden, in der Optogramme als alleiniges Beweismittel zur Überführung eines Täters gedient haben. Kein Wunder also, dass sie längst in die Sphäre der literarischen Fiktion abgewandert sind. Immerhin aber können sie uns daran erinnern, dass es sich lohnt, gegenüber all den aussichtsreichen Versprechen, die Bilder uns fortlaufend geben, durchaus skeptisch zu bleiben.

Bernd Stiegler: "Belichtete Augen". Optogramme oder das Versprechen der Retina.

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2011. 250 S., Abb., geb., 19,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Bildern immer schön skeptisch begegnen - diesen Grundsatz sieht Steffen Siegel nach der Lektüre des Buches des Konstanzer Literatur- und Medienwissenschaftlers Bernd Stiegler bestätigt. Stiegler erkundet die Geschichte des Optogramms als eines pseudowissenschaftlichen, kriminologischen Instrumentariums. Dass sich Bilder dank chemischer Prozesse gleich einer Fotografie auf unserer Netzhaut einbrennen können, wird bei Stiegler zwar teilweise dem Aberglauben zugerechnet, die durchaus ernsten Konsequenzen aber bekommt Siegel vom Autor dennoch mit allem gebotenen Ernst mitgeteilt. Und mehr noch. Indem Stiegler es nicht bei der Darstellung obskurer Wissenschaftsgeschichte belässt, schreibt der Band für den Rezensenten sogar Motivgeschichte. Zumindest im Bereich der Literatur und des Films nämlich, lernt er, lebt die Vorstellung vom Auge als Kamera, vom Bild als Gedächtnis fort.

© Perlentaucher Medien GmbH