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Walter Benjamin beschäftigte sich für seine Passagenarbeit (1927-1940) auch ausgiebig mit Druckgrafiken, Gemälden und Fotografien des 19. Jahrhunderts. Diese Bilder werden hier erstmals identifiziert, in einem umfassenden Katalog dokumentiert und in ihrem Stellenwert für sein Werk erläutert. Die Untersuchung widmet sich insbesondere den Recherchen, die Benjamin 1935/36 im Cabinet des Estampes, der Grafiksammlung der Bibliothèque nationale, in Paris durchführte. Seine rund 90 Notizen zu den Bildern wurden zwar im Passagen-Werk (1982) abgedruckt, doch blieben die Werke selbst überwiegend…mehr

Produktbeschreibung
Walter Benjamin beschäftigte sich für seine Passagenarbeit (1927-1940) auch ausgiebig mit Druckgrafiken, Gemälden und Fotografien des 19. Jahrhunderts. Diese Bilder werden hier erstmals identifiziert, in einem umfassenden Katalog dokumentiert und in ihrem Stellenwert für sein Werk erläutert. Die Untersuchung widmet sich insbesondere den Recherchen, die Benjamin 1935/36 im Cabinet des Estampes, der Grafiksammlung der Bibliothèque nationale, in Paris durchführte. Seine rund 90 Notizen zu den Bildern wurden zwar im Passagen-Werk (1982) abgedruckt, doch blieben die Werke selbst überwiegend unbekannt. Sie stammen von Künstlern wie Grandville, Meryon oder Daumier, aber auch von anonymen Zeichnern. Die Studie rekonstruiert Benjamins Recherchen und erläutert die Bedeutung der Bilder in den thematischen Zusammenhängen des Passagen-Projekts. Der Vergleich mit der Theorie im Kunstwerk-Aufsatz zeigt, dass Benjamin auch den Medienwandel in der frühen Moderne im Blick hatte. Das Buch macht deutlich, dass Benjamins Überlegungen im Passagen-Projekt auf konkrete Bilder bezogen waren.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Autorenporträt
Steffen Haug ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin für die Ausgabe der "Briefe" Aby Warburgs. Vorher war er an zahlreichen Ausstellungen und Publikationen beteiligt. Er promovierte mit der Arbeit "Anschauliche Dokumentation. Walter Benjamins Bilder-Studien für die Passagenarbeit" in Berlin. Außerdem ist er seit 2007 Redakteur bei der internationalen Fachliste für Kunstgeschichte H-ArtHist.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.01.2018

Den Abfall muss der Dichter adeln
Allegorische Fetzen: Antoine Compagnon folgt Pariser Lumpensammlern und revidiert nebenbei Walter Benjamins Lesart von Baudelaire

Im Jahr 1883 schrieb der Präfekt Eugène Poubelle den Parisern vor, ihren Abfall in drei verschiedene Kisten zu werfen: eine für faulende Reste, eine für Papier und Fetzen, eine für Glas, Keramik und Muschelschalen. Drei Tonnen sind es in Paris geblieben, freilich für andere Befüllungen, und bis heute heißen sie poubelles. Die Anordnung des auf solche Weise nachhaltig verewigten Präfekten war eine einschneidende Maßnahme. Denn zuvor hatte es nicht etwa bloß einen, sondern gar keinen Behälter für einige häusliche Abfälle gegeben. Die Pariser lagerten ihn vielmehr auf der Straße ab, an den bornes, den Prellsteinen. Dort wurde er, vorzüglich nachts, zuerst von den Chiffonniers, den mit ihren Laternen durch die Straßen ziehenden Lumpensammlern durchsucht, die allerdings nicht nur Papierfetzen und Lumpen mit einem Hakenstock in die Bütte auf ihrem Rücken warfen, sondern auch Knochen, zerbrochenes Geschirr und Glas, Schuhwerk, Metallteile und Haare. Alles Dinge, die sich einer Wiederverwendung zuführen und deshalb an Zwischenhändler, die die Auftrennung der eingesammelten Ladungen übernahmen, zu Kilopreisen verkaufen ließen.

Antoine Compagnon, Professor für französische Literatur am Collège de France, hat diesen Chiffonniers nun ein wunderbares Buch gewidmet, das sich vor allem ihren literarischen Anverwandlungen widmet und dabei eine Fülle von zeitgenössischen bildlichen Darstellungen ausbreitet. Zugleich aber gibt Compagnon als Hintergrund ein detailreiches Bild von ihrem Metier, das ab den zwanziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts an Bedeutung für die städtische Ökonomie gewann. Eine Entwicklung, die insbesondere der steigende Bedarf der Papierhersteller antrieb, die bis in die späten siebziger Jahre, als die Fabrikation auf Holzbasis möglich wurde, auf Lumpen angewiesen blieben. Während etwa aus Knochen Knöpfe, Tierkohle, Gelatine oder Phosphor für Streichhölzer wurde, alte Latschen zum Innenleben von neuem Schuhwerk beitrugen, Glas eingeschmolzen, Haare von Coiffeuren verarbeitet wurden. Es gab so gut wie nichts, was nicht wieder in den Kreislauf der Verwertungen eingespeist wurde, auch noch jenseits der Dinge, die sich die Chiffonniers aus Abfall und Unrat angelten. Victor Hugo besang ihn in den "Misérables".

Im Zweiten Kaiserreich brachte es Paris auf fast sechstausend registrierte Chiffonniers, denen vermutlich - die städtischen Verwaltung agierte nachsichtig - 30000 bis 40000 tatsächlich mit Butte, Hakenstock und Laterne durch die Stadt ziehenden Männer, Frauen (etwa ein Drittel) und Kinder entsprachen. So unauffällig also ihre frühere Rolle im Gefüge der Pariser petits métiers gewesen war - wie es das ihnen gewidmete Kapitel in Merciers vorrevolutionärem "Tableau de Paris" belegt -, in den Jahren zwischen 1820 und 1880 waren die Chiffonniers in Paris unübersehbar.

Diese Präsenz schlägt sich, wie Compagnon zeigt, in einer Fülle literarischer und bildnerischer Anverwandlung der Figuren von Chiffonnier und Chiffonnière nieder. Autoren ersten Ranges wie vor allem Baudelaire oder auch Hugo kommen dabei ebenso ins Spiel wie solche der zweiten und dritten Reihe, Verfasser der vielen Pariser "Tableaux" und der "Physiologies" mit ihren - oft illustrierten - Schilderungen von Pariser Professionen und Typen. Genauso bei den Bildern: Künstler wie Daumier oder Gavarni stehen für die erste Reihe - und auch Édouard Manets "Chiffonnier" mit seinem koketten kleinen Abfall-Stillleben fehlt nicht -, aber ihre Reihe reicht über viele Namen bis hin zu anonymen Drucken und schließt auch die frühe Fotografie ein.

Mit Gedrucktem - von Büchern über Journale und die neu entstehenden Tageszeitungen bis zu den Plakaten - sind die Chiffonniers schon durch das Papier verknüpft. Bereits Mercier bittet den Leser zu bedenken, dass er keine große Autoren lesen könnte, würden sie nicht die Lumpen sammeln, aus denen die (halbwegs) weißen Seiten hervorgehen. Aber das ist bloß der Auftakt für ein ganzes Registerwerk von karikierenden, polemischen, überhöhenden und oft mit allegorischem Impetus operierenden Beschreibungen und Verwendungen dieser Figur.

Sie kann zum modernen Diogenes werden, zum proletarischen Flaneur und Philosophen, zur Moritatenfigur des mit der Zeit wechselnden Glücks - nicht zuletzt die zu Abfallsammlerinnen geworden Grisetten -, sogar zum modernen Statthalter von Chronos; aber genauso zum Bild des in den Tagesereignissen stochernden Journalisten, der Feuilletonschreiber oder "realistischer" Autoren; und die tagesaktuelle Polemik jeder politischen oder ästhetischen Richtung weiß von ihr Gebrauch zu machen.

Einmal auf die Spur gekommen, entdeckt Compagnon die Attribute der Chiffonniers auf Schritt und Tritt. Eine bestimmte Allegorisierung des Lumpensammlers und seines Hakenstocks mit der metallenen Spitze - Schreibfedern aus Metall setzen sich ab 1830 schnell in Frankreich durch - aber zieht ihn besonders an: seine Auftritte als Alter Ego des Dichters. Das Hauptinteresse gilt hier Baudelaire. Compagnons Buch ist nicht zuletzt eines über diesen Dichter, nämlich über die Präsenz der Chiffonniers in den "Fleurs du mal" auch dort, wo sie nicht explizit genannt werden (und auch nicht unbedingt den Autor vertreten).

Womit natürlich gleich noch ein anderer Autor die Bühne betritt, der sich wie Compagnon eingehend dem Paris des neunzehnten Jahrhunderts widmete, mit ausgreifenden Vorarbeiten zu einem Buch, in dem Baudelaire eine zentrale Rolle zukam, ja das vielleicht sogar durch ein Buch über Baudelaire hätte ersetzt werden sollen. Schreiben konnte Walter Benjamin es nicht mehr, aber die in den dreißiger Jahren verfassten Vorarbeiten zur "Passagenarbeit" zogen eine beeindruckende Rezeptionsspur, im deutschsprachigen Raum bestimmen sie bis heute das Bild Baudelaires.

Zudem wies Benjamin mit Nachdruck auf den Lumpensammler als Identifikationsfigur des Dichters hin, wofür ihm Compagnon auch seine Reverenz erweist; doch nachgespürt hat Benjamin dieser Figur nicht. Steffen Haug hat gerade in einer exzellenten Studie die Bildquellen erschlossen, die sich Benjamin in seinen Themenmappen zum "Passagen"-Projekt aufnotierte. Knapp neunzig Bilder kann man nun betrachten - für die Werkausgabe Benjamins waren lediglich dreizehn Graphiken identifiziert worden -, dazu Benjamins Notizen nachlesen und durch ein gut konzipiertes Verweissystem vom Bilderkatalog zu bündigen Erläuterungen des Kontexts blättern. Den Schwerpunkt bilden Gebrauchsgraphiken - Werbezettel, Flugblätter, Zeitungsillustrationen und Karikaturen -, einige wenige Fotografien und Gemälde kommen hinzu.

Chiffonniers tauchen auf diesen Bildern nicht auf. Obwohl es gerade das Gedicht "Der Wein des Lumpensammlers" war, an dem Benjamin seine kapriziöse These festmachte, Baudelaire sei über 1848 hinaus ein Anwalt der Unterdrückten gewesen, ein lyrischer "Geheimagent" des Sozialismus. Von ihr bleibt bei Compagnon nichts übrig: Er präpariert zwar ein ganzes Netz von Bezügen auf die stochernden Abfallsammler in den "Fleurs du mal" heraus - im Gedicht "Le soleil" auch als Vorlage für das "wunderliche Fechthandwerk" des über die Worte wie über Pflastersteine stolpernden Dichters, der "das Los der niedrigsten Dinge adelt" (Benjamin sah ihn da gegen eine imaginierte Menge kämpfen). Aber nichts an diesen Verweisen und vor allem auch nichts in den von Compagnon ausgebreiteten zeitgenössischen Dokumenten stützt Benjamins Verfahren, Baudelaire mit Marx - von dem er den "Geheimagenten" übernahm - zu lesen. Wo Benjamin sich den Chiffonnier des Gedichts als Barrikadenkämpfer ausmalt, weist der rekonstruierte Kontext vielmehr auf einen grognard, einen ehemaligen Soldaten der napoleonischen Feldzüge; und als Revolutionäre bekannt waren die Chiffonniers überdies gerade nicht, weit eher als Informanten der Polizei.

So geht es, einem Wink Benjamins folgend, konsequent gegen dessen forcierte Interpretation, die insgesamt an Baudelaire vermutlich mehr verstellt als erhellt hat. Aber eingebettet ist diese Korrektur in ein wunderbar detailreiches Bild der "Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts", betrachtet aus der Perspektive ihrer Abfälle und ihrer bedeutungsträchtigen Verarbeitungen.

HELMUT MAYER.

Antoine Compagnon: "Les Chiffonniers de Paris".

Éditions Gallimard (Bibliothèque illustrée des Histoires), Paris 2017. 496 S., Abb., geb., 32,- [Euro].

Steffen Haug: "Benjamins Bilder". Grafik, Malerei und Fotografie in der Passagenarbeit.

W. Fink Verlag, Paderborn 2017. 590 S., Abb., br., 59,- [Euro].

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