In Poes "Berenice" geht es um unerfüllte Liebe und die Frage, wohin es führen kann, wenn der ungeliebte Part die Kontrolle über sich selbst verliert. Sein Held besitzt schließlich ein Schächtelchen mit den perlweißen Zähnen der Angebeteten und erinnert sich nicht, wie er dazu gekommen ist.
Dass Lukas Jüliger den Leser ist das Reich der Otaku entführt, ist ebenso überraschend wie schlüssig, denn in dieser japanischen Fankultur ist Fetischismus selbstverständlich, aber Kontrollverlust unvorstellbar.
Dass Lukas Jüliger den Leser ist das Reich der Otaku entführt, ist ebenso überraschend wie schlüssig, denn in dieser japanischen Fankultur ist Fetischismus selbstverständlich, aber Kontrollverlust unvorstellbar.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.12.2018Nur nicht zu wenig vom deutschen Horror
Übersetzen kann man amerikanische Kurzgeschichten nicht nur ins Deutsche, sondern auch in Bilder. So wie der Comiczeichner Lukas Jüliger es jetzt mit einem der großen Klassiker der Short Story gemacht hat, mit Edgar Allan Poes 1835 erstmals erschienener "Berenice". Das war die erste Publikation Poes im "Southern Literary Messenger", der danach noch viele seiner Erzählungen abdrucken sollte. Diese allerdings hatte gar nicht das Gefallen des Zeitschriftenherausgebers Thomas White gefunden, der "Berenice" vorhielt, "für unseren Geschmack zu viel von deutschem Horror" zu haben.
Es hat für unseren Geschmack deshalb recht viel deutschen Humor, dass Jüliger just diese Geschichte für seinen Beitrag in der von seiner Kollegin Isabel Kreitz neubegründeten Horrorcomic-Reihe "Die Unheimlichen" ausgewählt hat. Neben ihm selbst und Kreitz sind bislang Barbara Yelin und Nicolas Mahler in dieser preisgünstigen und deshalb auf Kurzgeschichten beschränkten Serie vertreten; neben Poe ist mit John Kendrick Bangs noch ein weiterer amerikanischer Autor vertreten, außerdem wurden Erzählungen von Elfriede Jelinek und Sarah Khan adaptiert. Zeitgenossinnen also aus dem deutschen Sprachraum, Altmeister aus Amerika.
Die Kunst besteht bei einem solchen Vorhaben natürlich einerseits darin, den Horror des Originals zu bewahren und ihm andererseits eine individuelle graphische Komponente mitzugeben. Jüliger, mit dreißig Jahren nur unwesentlich älter, als Poe es war, als der "Berenice" schrieb, gelingt noch mehr: Er überträgt die Handlung in unsere Zeit und macht aus der vom Ich-Erzähler Egaeus angehimmelten Berenice ein japanisches Camgirl, also eine junge Frau, die Videos von sich postet. Mit wachsendem Erfolg bei ihren Followern werden die Inszenierungen dieser Miko immer extremer, und wie bei Poe endet das Mädchen im Tod. Nur, dass die Persönlichkeit von Berenice ganz das Produkt der Projektionen von Egaeus bleibt, während Miko bei Jüliger Projektionsfläche für viele ist und darauf selbstbestimmt reagiert.
Es spricht für die Poesche Schauererzählung, dass der deutsche Zeichner sie geradezu umstülpen kann und trotzdem zentrale Motive daraus bewahrt. Als wichtigstes natürlich die Zähne der bewunderten jungen Frau, ein Phantasma, das im literarischen Text tatsächlich vom Erzähler beobachtet wird, während Jüliger Mikos Gesicht nach der ersten Seite nie mehr zeigt, aber dennoch für uns sichtbar macht, wie sein Ich-Erzähler für diesen Fetisch entbrennt. Und so finden beide Geschichten, die geschriebene wie die gezeichnete, auch dasselbe Ende - viel von deutschem Horror. Aber jeweils in prächtigster Modernisierung, erst durch Poe in Amerika und nun durch Jüliger wieder in Deutschland. (Edgar Allan Poe, Lukas Jüliger: "Berenice". Carlsen Verlag, Hamburg 2018. 61 S., Abb., geb., 12,- [Euro].)
apl
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Übersetzen kann man amerikanische Kurzgeschichten nicht nur ins Deutsche, sondern auch in Bilder. So wie der Comiczeichner Lukas Jüliger es jetzt mit einem der großen Klassiker der Short Story gemacht hat, mit Edgar Allan Poes 1835 erstmals erschienener "Berenice". Das war die erste Publikation Poes im "Southern Literary Messenger", der danach noch viele seiner Erzählungen abdrucken sollte. Diese allerdings hatte gar nicht das Gefallen des Zeitschriftenherausgebers Thomas White gefunden, der "Berenice" vorhielt, "für unseren Geschmack zu viel von deutschem Horror" zu haben.
Es hat für unseren Geschmack deshalb recht viel deutschen Humor, dass Jüliger just diese Geschichte für seinen Beitrag in der von seiner Kollegin Isabel Kreitz neubegründeten Horrorcomic-Reihe "Die Unheimlichen" ausgewählt hat. Neben ihm selbst und Kreitz sind bislang Barbara Yelin und Nicolas Mahler in dieser preisgünstigen und deshalb auf Kurzgeschichten beschränkten Serie vertreten; neben Poe ist mit John Kendrick Bangs noch ein weiterer amerikanischer Autor vertreten, außerdem wurden Erzählungen von Elfriede Jelinek und Sarah Khan adaptiert. Zeitgenossinnen also aus dem deutschen Sprachraum, Altmeister aus Amerika.
Die Kunst besteht bei einem solchen Vorhaben natürlich einerseits darin, den Horror des Originals zu bewahren und ihm andererseits eine individuelle graphische Komponente mitzugeben. Jüliger, mit dreißig Jahren nur unwesentlich älter, als Poe es war, als der "Berenice" schrieb, gelingt noch mehr: Er überträgt die Handlung in unsere Zeit und macht aus der vom Ich-Erzähler Egaeus angehimmelten Berenice ein japanisches Camgirl, also eine junge Frau, die Videos von sich postet. Mit wachsendem Erfolg bei ihren Followern werden die Inszenierungen dieser Miko immer extremer, und wie bei Poe endet das Mädchen im Tod. Nur, dass die Persönlichkeit von Berenice ganz das Produkt der Projektionen von Egaeus bleibt, während Miko bei Jüliger Projektionsfläche für viele ist und darauf selbstbestimmt reagiert.
Es spricht für die Poesche Schauererzählung, dass der deutsche Zeichner sie geradezu umstülpen kann und trotzdem zentrale Motive daraus bewahrt. Als wichtigstes natürlich die Zähne der bewunderten jungen Frau, ein Phantasma, das im literarischen Text tatsächlich vom Erzähler beobachtet wird, während Jüliger Mikos Gesicht nach der ersten Seite nie mehr zeigt, aber dennoch für uns sichtbar macht, wie sein Ich-Erzähler für diesen Fetisch entbrennt. Und so finden beide Geschichten, die geschriebene wie die gezeichnete, auch dasselbe Ende - viel von deutschem Horror. Aber jeweils in prächtigster Modernisierung, erst durch Poe in Amerika und nun durch Jüliger wieder in Deutschland. (Edgar Allan Poe, Lukas Jüliger: "Berenice". Carlsen Verlag, Hamburg 2018. 61 S., Abb., geb., 12,- [Euro].)
apl
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Andreas Platthaus staunt, wie es dem Comiczeichner Lukas Jüliger gelingt, Edgar Allan Poes Short Story von 1835 eine eigene grafische Komponente zu geben und die Handlung in die Jetztzeit zu übertragen, ohne auf ihre zentralen Motive oder ihr tragisches Ende bei Poe zu verzichten. Der Horror des Originals bleibt für den Rezensenten bestehen, wenn Jüliger Berenice in ein japanisches Camgirl verwandelt, für das der Ich-Erzähler entflammt. Eine gelungene Modernisierung eines Klassikers der Short Story, findet Platthaus.
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Das ist berauschend schön!" Heike Brillmann-Ede eselsohr 20181201