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Ob Naturwissenschaftler oder Abenteurer, ob Philosophen oder Poeten, sie alle versprachen sich in den eisigen, sauerstoffarmen Höhen unvergleichliche Erfahrungen und Erkenntnisse, für die es sein Leben zu riskieren lohnt: der Sog von Macht und Angst, das Gefühl von Erhabenheit und das Erleben fragiler Schönheit. In seinem preisgekrönten Debüt, das ihn schlagartig bekannt machte, folgt Robert Macfarlane den Vorstellungswelten der bisweilen fatalen Faszination, die Auftürmungen von Granit-, Basalt- und Kalksteinschichten bis heute in Menschen auslösen, sodass sie nichts anderes mehr als Berge im Kopf haben. …mehr

Produktbeschreibung
Ob Naturwissenschaftler oder Abenteurer, ob Philosophen oder Poeten, sie alle versprachen sich in den eisigen, sauerstoffarmen Höhen unvergleichliche Erfahrungen und Erkenntnisse, für die es sein Leben zu riskieren lohnt: der Sog von Macht und Angst, das Gefühl von Erhabenheit und das Erleben fragiler Schönheit. In seinem preisgekrönten Debüt, das ihn schlagartig bekannt machte, folgt Robert Macfarlane den Vorstellungswelten der bisweilen fatalen Faszination, die Auftürmungen von Granit-, Basalt- und Kalksteinschichten bis heute in Menschen auslösen, sodass sie nichts anderes mehr als Berge im Kopf haben.
Autorenporträt
Robert Macfarlane, 1976 in Nottinghamshire geboren, lehrt Literaturwissenschaft in Cambridge, ist Essayist und Kritiker und gilt als wichtigster britischer Autor des Nature Writing. Bei Ullstein sind bislang Karte der Wildnis und Alte Wege erschienen. Sein Buch Die verlorenen Wörter wurde mit dem BAMB Beautiful Book Award 2017 sowie als Hay Festival Book of the Year und als The Sunday Times Top Ten Bestseller ausgezeichnet.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Rezensent Stefan Fischer hat dieses Buch mit Interesse gelesen. Es ist nicht so sehr eine Geschichte berühmter Bergsteiger, erklärt er. Macfarlane gehe es vielmehr um die Frage, warum Menschen Berge besteigen, sogar wenn sie ahnen, dass es ihr Tod sein wird. Welches emotionale Verhältnis haben sie zu Bergen? Vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein, lernt der Rezensent, ging es dabei um geologische und botanische Erkenntnis. Insbesondere die Kirche sollte widerlegt werden, die das Alter der Erde auf 6.000 Jahre geschätzt hatte. Doch dann änderte sich etwas, so Fischer, dem man anmerkt, wie unverständlich ihm die Motive späterer Bergsteiger sind. Um zu zeigen, dass man es kann, um der Gefahr willen, um den Berg "bezwungen" zu haben - für Fischer wohl eher alles keine Gründe für einen lebensgefährlichen Bergaufstieg. Aber Bergsteigen, resümiert er, ist eben auch "immer Ausdruck historischer Verhältnisse".

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.09.2021

Verschwunden in den Wolken

Blicke von weit oben: Robert Macfarlane hat manches zur Frage beizutragen, warum Menschen auf die Gipfel hoher Berge steigen.

Es war keine geringe Sensation, als am 1. Mai 1999 ein Team von Wissenschaftlern auf der tibetischen Seite des Mount Everest die Leiche des Bergsteigers George Mallory fand. Tweedjacke und Wickelgamaschen waren zerfetzt von Wind und Wetter, den Körper hingegen hatte die eisige Kälte gespenstisch konserviert, weiß und blank wie eine Marmorstatue, gerade so, als habe ihm der Berg sein eigenes Denkmal setzen wollen. "Ich habe die beste Aussicht, auf den Gipfel zu gelangen. Ich kann mir kaum vorstellen, nicht hinaufzukommen; unmöglich auch, mich in die Rolle des Besiegten zu fügen", hatte Mallory 1924 kurz vor seinem dritten Gipfelversuch in nur vier Jahren geschrieben. Am 8. Juni wurde er zum letzten Mal gesehen, am Nordgrat in etwa 8250 Meter Höhe. Dann verschwanden er und sein Seilpartner Andrew Irvine in den Wolken.

Um kaum einen Bergsteiger hatte sich fortan ein größerer Mythos entwickelt als um George Mallory. Das hatte nicht nur mit dem gespenstischen Verschwinden zu tun und der Frage, ob die beiden es womöglich bis zum Gipfel geschafft hatten. Es lag auch an Mallorys Wesen und Auftreten, das sich nicht zuletzt in einem marketingtechnisch besonders brauchbaren Satz bündelte, einem der berühmtesten Zitate der Bergsteigerei. Auf die Frage eines Journalisten, weshalb er den Everest so unbedingt besteigen wolle, hatte er knapp geantwortet: "Weil er da ist."

Robert Macfarlane, Literaturwissenschaftler, Essayist, Kritiker, in England einer der angesehensten Naturschriftsteller unserer Zeit und selbst ein erfahrener Bergsteiger, widmet George Mallory nicht nur das vorletzte Kapitel seines Buchs "Berge im Kopf" - genau genommen hat er ihm das gesamte Buch gewidmet, denn auch er stellt die Frage: "Wieso auf Gipfel steigen?" Allerdings braucht er für die Antwort knapp dreihundert Seiten, holt freilich auch weit aus bis in eine Zeit, als man in der westlichen Welt vom Himalaja noch nichts wusste und von Bergen generell nichts wissen wollte, weil der Wert einer Landschaft nach den Möglichkeiten der Agrarwirtschaft bemessen wurde und man schneebedeckte Gipfel selbst in ästhetischer Hinsicht als abstoßend empfand.

Genau genommen blickt Macfarlane sogar noch viel weiter zurück: nämlich in die Anfänge der Welt, als der Granit noch flüssig herumschwappte - wie er es formuliert. Zunächst einmal erhält bei Macfarlan deshalb die Wissenschaft der Geologie ihre Historie, bevor die Kultur und die Kunst, die Philosophie und der Sport die Berge erreichen. Und es war ihm letztlich auch viel weniger an einer Geschichte der Bergsteigerei gelegen als an einer Geschichte davon, wie sich die Einstellung der Menschen zu den Bergen verändert hat - von der Furcht über kitschige Programme in viktorianischen Unterhaltungshallen bis zur Bereitschaft, für einen Gipfel das eigene Leben aufs Spiel zu setzen. Keineswegs nur unter Grenzgängern verbreitet, wie sich die Extremabenteurer nennen, sondern auch unter Touristen, die am Berg Dampf ablassen wollen - dort allerdings häufig aus Dummheit.

Für seine Untersuchung drang Macfarlane, der sonst in Englands Marschen, Wäldern und Höhlen unterwegs ist oder in der Einsamkeit des schottischen Hochlands, vor allem in die Tiefen von Bibliotheken vor, wo er sich ebenso durch die alten Handschriften von Abenteurern wühlte wie durch die Klassiker schöngeistiger Literatur oder die großen Theorien der Ästhetik. Religionseifer und -kritik finden in seinem Buch ebenso Platz wie die Mode, angesichts einer bedrohlichen Wildnis nach sublimen Momenten des Schauderns Ausschau zu halten oder zu Zeiten der Romantik ein Verlöbnis mit der Natur einzugehen.

Als Brite sucht Robert Macfarlane seine Beispiele früher Naturverehrung vor allem zwischen den Highlands und dem Lake District und ruft immer wieder Landsleute in den Zeugenstand. Er beschäftigt sich mit Edmund Burke und John Ruskin, ohne Kant zu erwähnen. Und stützt sich bei Ausführungen zum Granit auf den Schotten James Hutton, ohne auf Goethe zu verweisen. Nach Alexander von Humboldt sucht man in seinem Buch vergebens. Nietzsche bleibt eine Fußnote. Als freilich die Briten in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die Alpen zu ihrem Abenteuerspielplatz erkoren und dort nach und nach jeden Gipfel erklommen, wird ihm vor allem die Schweiz zum Heimspiel. "Die Briten", schreibt er an einer Stelle, "waren offenbar mehr als alle anderen Imperialmächte vom Verlangen beseelt, den ganzen Globus auszukundschaften."

Längst hat Macfarlane auch in Deutschland eine nicht geringe Anhängerschaft. In der Naturkunden-Reihe des Verlags Matthes & Seitz haben die in den vergangenen Jahren erschienenen Schilderungen seiner Wanderungen "Alte Wege" und "Karte der Wildnis" mehrere Auflagen erlebt. Es sind Aufsätze von berückender Schönheit, in denen Macfarlane dem Abenteuer in der Einsamkeit poetische Moment abgewinnt, in feinem Tonfall mit bezaubernden Nuancen in den detaillierten Naturbeschreibungen und kühnen Metaphern, die er immer wieder mit kurzen Ausflügen in die Geistesgeschichte unterfüttert.

Bei "Berge im Kopf" ist es umgekehrt. Dort schiebt er zwischen die klugen, weit aufgefächerten Auseinandersetzungen mit seinen Gewährsleuten Erinnerungen an eigene Bergtouren; doch mehr als einmal wirken sie fehl am Platz und oft fast ein wenig unbeholfen. Es ist, als habe sich Macfarlane im Laufe seiner schreiberischen Karriere erst allmählich vom akademischen Denken befreien müssen. Denn "Berge im Kopf" ist im Original vor fast zwanzig Jahren erschienen. Damals war Macfarlane siebenundzwanzig. Das Buch zeugt von einer immensen Fleißarbeit. Von der späteren Eleganz seiner Sprache jedoch ist wenig zu spüren. Nicht zuletzt die Treue zu einem erfolgreichen Autor dürfte Grund für die späte Veröffentlichung in der Naturkunden-Reihe sein.

Obwohl man es kaum veraltet nennen kann, ist das Buch doch seltsam datierbar: eben auf die Jahrtausendwende, eine Zeit, während welcher der Buchhandel förmlich überspült wurde mit Hunderten von Titeln der Berg- und Polarliteratur. Das hatte nicht nur mit der Entdeckung von Mallorys Leichnam zu tun und einer neuerlichen Katastrophe am Everest, die Jon Krakauer zu einem Bestseller flocht, auch nicht nur mit etlichen Jubiläen aus dem Gebiet der Abenteuerei. Vielmehr schienen die entrückten Orte der vergletscherten Berge und der Pole mit ihrem ewigen Eis eine Art Leerraum zu bieten, eine gleißende Projektionsfläche für neue Visionen, einen Gedankenplatz für den Neuanfang, der sich am Fin de siècle nicht nur kalendarisch festmachen ließ, sondern auch mit dem Cyberspace, womit sich damals ein ganz neues Universum öffnete. So wurden die alten Expeditionsberichte gleichsam zu Reiseführern in eine wiederum unerforschte Welt. Denn sie schilderten ja stets eine Wirklichkeit im Rohzustand, leer, unbenannt, noch mit keinem Sinn versehen. Dabei waren für die frühen Forscher die weißen Flecken der Weltkarte mitunter Fixpunkte des Wahns, auch Fluchtpunkte der Eitelkeit.

Den Gedanken der Innensicht schiebt Macfarlane ein Kapitel lang, das schönste seines Buches, zugunsten der Erfahrung der Übersicht zur Seite. Auch der Blick von oben, führt er aus, musste gelernt werden. So gäbe es kaum Hinweise aus der Zeit vor dem achtzehnten Jahrhundert, dass eine Aussicht wertgeschätzt wurde; im Gegenteil ließen sich Reisende in den Alpen bekanntermaßen auf Passhöhen die Augen verbinden. Was womöglich nicht nur mit Furcht vor dem Abgrund zu tun hatte, sondern auch mit Furcht vor der Erkenntnis der eigenen Bedeutungslosigkeit. Dabei hatte die Sprache sich längst am oben und unten orientiert, wenn es um Erfolg und Stärke ging. Und es hatte auch die Kirche, wie überhaupt die meisten Religionen, den Wert hoch gelegener Orte lange schon begriffen, bevor die Welt der Gipfel gleichsam säkularisiert wurde. Dennoch wurde erst mit der Romantik die Bergspitze zum Befreiungssymbol des städtischen Geistes.

Da freilich bleibt Macfarlane gar nichts anderes übrig, als die Ausführung seitenfüllend mit Caspar David Friedrichs Bild vom "Wanderer über dem Nebelmeer" zu illustrieren. Und jetzt findet er auch selbst zu einem wunderbaren Bild: "Es ist die Umkehrung der Schwerkraft beim Bergsteigen", schreibt er, "eine Anziehungskraft, die einen immer weiter nach oben zieht." FREDDY LANGER.

Robert Macfarlane: "Berge im Kopf". Geschichte einer Faszination.

Aus dem Englischen von Gaby Funk. Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 318 S., geb., 34,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.11.2021

Geschencke für den Kopf (Fortsetzung von Seite 21)
Gerhard Matzig
EINE HERAUSFORDERUNG
An „die Weisheit des Alten vom Berge“ fühlt sich die eine Kritik erinnert. Eine andere Rezension vermisst die Aktualität. Herrje. Alexander Demandt ist Mitte achtzig, schon möglich, dass er alt ist. Und ja, er ist Althistoriker und kein Tweet. Trotzdem ist sein Buch voller Weltwissen über das kulturelle und territoriale Wesen der Grenze zwischen Sehnsucht und Schutzversprechen, vom Limes über die chinesische Mauer bis zu Paneuropa, eine einzigartig anregende Grenzerfahrung.
Alexander Demandt: Grenzen. Propyläen Verlag. 656 Seiten, 28 Euro.
EINE HILFE
Wir alle sind Reisende, die nicht reisen können. Der nächste Lockdown steht vor der Tür. Wie die nächste Welle, die dem Fernweh entgegenbrandet. Der Architekturkritiker Wojciech Czaja hat was gegen die Stubenhockerei erfunden: ein Bilderbuch, das im Vertrauten, also in Wien, das Fremde entdeckt. Also die Welt. Es ist das Buch der Stunde.
Wojciech Czaja: Almost. Edition Korres-pondenzen. 232 Seiten, 20 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Raider ist Twix und Facebook ist Meta. Die Plattform wird ein digitales Paralleluniversum. Als Avatare machen wir alles darin: shoppen, lieben, sterben. Bitte die Prophezeiung „Snow Crash“ von Neal Stephenson aus dem Jahr 1992 erneut lesen. Durchatmen, Facebook abmelden. Meta ist eine Metastase.
Neal Stephenson: Snow Crash. Fischer Tor. 576 Seiten, 16,99 Euro.
Egbert Tholl
EIN GROSSER SPASS
Vielleicht ist „Spaß“ das falsche Wort, aber eine große Freude war es schon, als The Notwist in diesem Jahr nach sechs Jahren wieder ein Studioalbum herausbrachten. „Vertigo Days“ ist so vielschichtig wie zugänglich, ganz viele Gäste machen mit, und das Ergebnis wirkt, als hänge man in seinem Zuhause eine Kette bunter Lampions auf. Die schaukeln dann sanft vor sich hin, und während man ihnen zuschaut, wird man leicht und froh.
The Notwist: Vertigo Days. Morr Music.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dieses Leben kann man nicht erfinden, man muss es gelebt haben. Leopold Tyrmand wurde 1920 in eine assimilierte jüdische Familie in Warschau hineingeboren, ging 1939 in den Widerstand nach Wilna, geriet in sowjetische Gefangenschaft, floh, besorgte sich einen französischen Pass und meldete sich – im Auge des Sturms ist es am sichersten – zum „Arbeitseinsatz im Reich“. 1943 wurde er Kellner im Parkhotel in Frankfurt am Main, und diese Zeit schrieb Tyrmand auf, in seinem herrlichen Roman „Filip“, 60 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung dieses Jahr auf Deutsch erschienen. Filip, der vermeintliche Franzose, haut die Nazibonzen übers Ohr, handelt mit Lebensmittelmarken, bezirzt mit ganz viel tiefem Herzeleid die Fräuleins, strotzt vor Überlebenswillen. Filip liebt Jazz – nach dem Krieg gründete Tyrmand den ersten Jazzclub Polens. Kein Buch beschreibt Deutschland im Krieg so wie dieses, ein Aberwitz, rasant, grandios.
Leopold Tyrmand: Filip. Frankfurter
Verlagsanstalt. 632 Seiten, 24 Euro.
Christine Dössel
EIN LIEBESBEWEIS
Klaus Pohl war dabei, als Peter Zadek 1999 „Hamlet“ inszenierte. Er spielte den Horatio und schrieb mit, was sich während der turbulenten Proben ereignete. Saufgelage, Wutausbrüche, Eitelkeiten. Angela Winklers Fluchtversuche vor der übergroßen Titelrolle; Zadeks Anstrengungen, sie zurückzuholen. Ein Buch des real gelebten Theaterwahnsinns, vor allem aber: der Theaterliebe. Eine Hommage auch an die Kollegen (viele davon tot). In der heimlichen Hauptrolle: der süffisante Ulrich Wildgruber, besetzt als Polonius – es war seine letzte Rolle vor seinem Freitod noch im selben Jahr. Pure Lesefreude. Und wehes Leseglück.
Klaus Pohl: Sein oder Nichtsein. Galiani. 286 Seiten, 23 Euro. Und als ungekürzte Autorenlesung auf CD.
EINE HERAUSFORDERUNG
Etwas für Theater-Nerds und Fans der Berliner Volksbühne – zumindest jener Ära, als Frank Castorf dort Intendant und Carl Hegemann Dramaturg und Begleitwortmusiker war: eine Sammlung von Hegemann-Texten (Essays, Nachrufe, Kommentare, Gespräche) aus den letzten 15 Jahren, die weit über das Theater hinausführen zu einer „Dramaturgie des Daseins“. Es geht um Schiller und Hölderlin, Wagner und Schlingensief, Marx und Materialismus, aber auch um Genuss, Liebe und Tod. Hegemann ist ein geistiger Lebemann.
Carl Hegemann: Dramaturgie des Daseins. Everyday live. Alexander Verlag. 445 Seiten, 33 Euro.
Martina Knoben
EINE HERAUSFORDERUNG
Einen „grafischen Essay“ nennt Anke Feuchtenberger ihr großformatiges Heft „Der Spalt“. Eine Erzählung in Bildern, in der Form eines Briefs an ihr „Kindeskind“, über das Leben als Frau, Mutter und Großmutter, in Corona-Zeiten, mit einem Hund. In ihren Kohlezeichnungen wurde das Licht buchstäblich freigekratzt. Das Werk einer großen Malerin. Anke Feuchtenberger: Der Spalt. Villa Stuck. 36 Seiten, 18 Euro.
EIN GROSSER SPASS
Mit „Asterix und der Greif“ hat sich Didier Conrad endgültig vom Asterix-Übervater Albert Uderzo emanzipiert. Er bleibt dessen Stil treu, aber mit starker eigener Handschrift. Conrads Zeichnungen sind actionreicher, die Porträts realistischer. Und die Schneelandschaften im neuem Band ohnehin ein großer Genuss. Jean-Yves Ferri, Didier Conrad: Asterix und der Greif. Egmont Ehapa. 48 Seiten, 6,90 Euro / geb. 12 Euro.

EIN LIEBESBEWEIS
„… und plötzlich standen wir auf einem Gipfel von der Größe eines Küchentisches und klammerten uns an die aus dem Schnee ragenden Eisenstangen des Gipfelkreuzes, starr vor Angst und begeistert zugleich“. Warum Menschen auf Berge steigen, obwohl es anstrengend, öde, manchmal lebensgefährlich und fast immer vollkommen nutzlos ist, lässt sich in „Berge im Kopf“, einem Klassiker des Nature Writing von Robert Macfarlane, nachlesen.
Robert Macfarlane: Berge im Kopf. Matthes & Seitz. 318 Seiten, 34 Euro.
Claudia Tieschky
EIN GROSSER SPASS
Manches am Sound der französischen Band La Femme erinnert an die Coolness der Zeit, als Element of Crime noch englisch sangen; dazu mischen sie kreuz und quer quietschbunte France-Gall-Aufgedrehtheit, Synthesizer, Trompeten, ungesüßte Texte. Verleitet eindeutig zu Bewegung.
La Femme: Paradigmes. Disque Pointu.
EINE HERAUSFORDERUNG
Adelheid Duvanel starb in einer Julinacht 1996 durch Unterkühlung im Wald bei Basel im Alter von sechzig Jahren. In ihrem Leben war sie von absurd vielen Katastrophen heimgesucht worden, als Teenager landete sie in der Psychiatrie, sie führte eine Ehe mit einem Maler, für den sie das eigene Malen aufgab, ihr Kind wurde drogenabhängig und aidskrank. Was sie hinterlassen hat, ist ein absolut makelloses eigenständiges Universum aus kurzen Texten: Mit präziser Sprache gemalte Szenen, heiter und manchmal ironisch erzählt, die still eskalieren, bis sich überwältigende Weltverlorenheit auftut. Das müsste abstoßen, weil man ja merkt, dass hier nichts mehr lovely wird. Aber immer überwiegt das faszinierend Unerwartete in den Geschichten der beunruhigenden Erzählerin Adelheid Duvanel, und man kann nicht genug davon bekommen. Jetzt liegen alle ihre Erzählungen in einem Band vor. Adelheid Duvanel: Fern von hier. Sämtliche Erzählungen. Limmat Verlag. 792 Seiten, 39 Euro.
Marie Schmidt
EINE HERAUSFORDERUNG
Eine Sechzehnjährige, ihre nur um genau 16 Jahre ältere Mutter, Konkurrenz, Liebe, Ablösung, das ganze ödipale Drama – oder wie man das nennt, wenn Männer und Väter nur als nette, hilflose Randfiguren mitspielen. Dazu die in einer schwarzen Familie aus Brooklyn auch materiell schmerzhafte Frage: Was haben wir eigentlich zu vererben? Jacqueline Woodsons „Alles glänzt“ ist ein Roman, hart wie ein Diamant, rhythmisch, berührend, nicht aus dem Kopf zu kriegen. Jacqueline Woodson: Alles glänzt. Piper. 208 Seiten, 22 Euro.
EINE HILFE
Man kann die Bücher des britischen Psychoanalytikers Adam Phillips schon auch als Ratgeber lesen. Vor allem hat er aber die ganze Weltliteratur im Rücken. Im deutschen Sprachraum gibt es eine Essayistik wie seine nicht. Dieses Jahr hat er ein Bändchen herausgebracht über ein gerade jetzt persönlich und politisch heikles Projekt: „On Wanting to Change“. Kann man sich (oder andere) überhaupt ändern? Will man? Die Fortsetzung heißt „On Getting Better“. Fürs nächste Jahr. Adam Phillips: On Wanting to Change. On Getting Better. Penguin. 160/176 S., 7,98/6,99 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Die Zeile des Jahres: „How you lemonade all your sadness when you openin’ up?“ So die Rapperin Noname aus Chicago über das Gefühl beim Nachrichtenlesen. Optimistisch bleiben: schwierig. Wir bleiben dran. Noname: Rainforest. Single. Noname Publishing.
Kurt Kister
EIN GROSSER SPASS
Was Camilleris Commissario Montalbano für Sizilien ist, ist Hauptkommissar Kostas Charitos für die Athener Mordkommission. Sein Schöpfer Petros Markaris schreibt hinreißend. Mit jedem neuen Charitos-Roman versteht man das heutige Griechenland besser. Im jüngsten Fall geht es um einen toten, reichen Saudi, um linke Protestierer und um das Geld der anderen.
Petros Markaris: Das Lied des Geldes. Diogenes Verlag. 310 Seiten, 24 Euro.
EINE HERAUSFORDERUNG
Der Pianist Igor Levit macht keine halben Sachen. Sein jüngstes Werk, ambitioniert, geglückt: Schostakowitschs 24 Präludien und Fugen sowie die „Passacaglia on DSCH“ von Ronald Stevenson. Schostakowitsch ist sowieso heilig; Stevenson fast der helle Wahnsinn. Dreieinhalb Stunden großartigste Klaviermusik. Igor Levit: On DSCH. 3 CDs. Sony Classical.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Ein einziges Buch über den Zweiten Weltkrieg? Dann Wassili Grossmans „Leben und Schicksal“ lesen. Jetzt gibt es noch eines, neu übersetzt. Es ist auch von Grossman und heißt „Stalingrad“. Der Name sagt alles, und das Buch sagt auf sehr vielen Seiten, manchmal pathetisch, warum diese Schlacht auf ewig mehr sein wird als nur Geschichte. 1952 ist „Stalingrad“ sehr zensiert auf Russisch erschienen; 70 Jahre später gibt es das rekonstruierte Meisterwerk auf Deutsch. Wassili Grossman: Stalingrad. Claassen Verlag. 1280 Seiten, 35 Euro.
Willi Winkler
EIN GROSSER SPASS
Die Ausstellung ist mittlerweile von Aachen nach London fortgezogen, aber den Katalog gibt es noch, „Dürer war hier“, ein Pracht- und Monumentalband, der die Reise des Malers 1520/21 in die Niederlande dokumentiert. Dürer wird gefeiert, aber er ist auf der Arbeit, malt, zeichnet, schreibt und sammelt Gesichter, Haare, Mützen, Gewandfalten für die Ewigkeit. Peter van den Brink: Dürer war hier. Michael Imhof Verlag. 680 Seiten, 49,95 Euro.
EIN LIEBESBEWEIS
Peter Jackson („Der Herr der Ringe“), hat 60 Stunden Filmmaterial der
Beatles von 1969 gesichtet und zu einer Dokumentation geschnitten. Nach 52 Jahren sind sie wieder da, unfassbar jung. Sie albern herum, zanken sich, machen begeistert Musik, obwohl es die letzten Aufnahmen sind, die vor der Trennung entstehen. Hier sind die vier wieder zusammen, die Götter des 20. Jahrhunderts. Für alle Menschen reinen Herzens: ein Geschenk.
The Beatles. Get Back. Regie: Peter Jackson. Drei Folgen, insgesamt sechs Stunden. Disney+.
Catrin Lorch
EINE HILFE
Kai Althoff gehört zu den bedeutendsten Malern überhaupt. Dass er immer noch nur in der Szene wirklich berühmt ist, wird sich so lange nicht ändern, wie er seine Gemälde und Zeichnungen in seltenen komplizierten Ausstellungsinstallationen mehr versteckt denn herzeigt. So ein Projekt war „Kai Althoff goes with Bernard Leach“ in der Londoner Whitechapel Gallery. Wobei diese Schau nicht nur zur Retrospektive gereicht hätte, sondern auch zum Trost im ersten Corona-Winter – wäre sie nicht im Lockdown verschwunden. Es ist zu hoffen, dass sich eine weitere Station findet, zum Glück ist gerade der elegante, in kupferrosa Leinen gebundene großformatige Katalog erschienen.
Kai Althoff Goes With Bernard Leach: With Forms and Templates for Effective Practice. Whitechapel Gallery. 100 Seiten, 70,95 Euro.
EINE WIEDERENTDECKUNG
Dass die amerikanische Musikerin Alice Coltrane mit einem neuen Glauben auch eine neue Musikrichtung annahm – nämlich den spirituellen Jazz –, wurde lange eher belächelt. Nun hat ihr Sohn Ravi eine Aufnahme wiederentdeckt, bei der sie in Sanskrit singt und sich selbst an der Wurlitzer-Orgel begleitet. Weswegen „Turiya Sings“ so einsam, so heilend und so eigenartig klingt, dass man am liebsten mitsummen würde, auf Sanskrit.
Alice Coltrane: Kirtan: Turiya Sings. Impulse!/Universal.
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