One August day in 2008 a Norwegian Labour Party MP is discovered in a remote cabin, together with four of his family and friends, all with their throats slit. This unprecedented crime sends shudders through the national psyche, as the search for the perpetrators begins and people have to adjust to the terrifying thought: it can happen here too.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.10.2019Monolog zu dritt
Der Norweger Jan Kjærstad geht in "Berge" mit seinem Land ins Gericht, das sich durch ein Attentat nur oberflächlich erschüttern lässt.
Von Thomas Thiel
So rastlos, ohne Punkt, aber mit vielen, vielen Kommas, hat schon lange kein Roman mehr begonnen. Doch der Alltag der Journalistin Ine Wang, der ersten Heldin in Kjærstads Roman, besteht nun einmal aus einer endlosen Folge von größeren und kleineren Berichtsanlässen, ein Leben ohne Atempause, wenn es gut läuft - oder schlecht: Dann schleicht sich in die eben noch zwingende Gegenwart die Monotonie, die Pointen beginnen zu schielen, und Wang wartet nur noch auf das große, erlösende Ereignis. Es geht ihr darin nicht anders als ihren Landsleuten, die sich müde durch einen vom Konsum bestimmten Alltag schleppen und innerlich auf Befreiung hoffen. Plötzlich ist die da.
Auf einer norwegischen Insel ist ein Mord an dem charismatischen Führer der Arbeiterpartei, Arne Storefjeld, begangen worden. Zu den sechs Opfern des Anschlags gehört auch seine Tochter Gry, die schillernde Nachwuchshoffnung der norwegischen Sozialdemokratie, auch ein Kind kam ums Leben. Der Mörder muss eine Bestie sein.
Plötzlich hat das Land ein gemeinsames Thema, und Ine Wang, die eine Biographie über Storefjeld schon in petto hat, ist wieder nahe am Puls der Zeit und festes Glied der medialen Verwertungskette, die erwartungsgemäß auf Touren kommt. Der eigenwilligen Journalistin, die es gewohnt ist, gegen den Strom zu schwimmen, kann das nicht ganz recht sein. Doch eine Begegnung mit Nicolai Berge, dem verrätselten Nachwuchspolitiker und ehemaligen Lebensgefährten der aufsehenerregenden Gry, beschert ihr eine andere Sicht auf die Dinge und führt sie hautnah an den Mann heran, den die Polizei und eine strafende Nation für den Mörder halten.
Der Name Anders Breivik hat sich an dieser Stelle längst in die Erzählung geschlichen und wird auch in der Folge immer wieder in Andeutungen wachgerufen. Sei es der Gerichtssaal, der dieselbe Nummer trägt wie im realen Fall, oder die Insel Utøya, die mehrmals beiläufig auftaucht. Hat Jan Kjærstad also den großen Breivik-Roman geschrieben, und versucht er sich an einer Art Schuldumkehr - nicht der Mörder ist die Bestie, sondern das Land, das ihn zum Mörder gemacht hat und sich durch ein öffentliches Tribunal von aller Schuld freisprechen will?
Kjærstad begibt sich auf dünnes Eis. Das Porträt der sozialdemokratischen Jugendorganisation ist wenig schmeichelhaft, und die beiden Hoffnungsträger der Partei, Vater und Tochter Storefjeld, erweisen sich hinter dem charismatischen Glitzer als stumpfe Volkstribunen, die ihre Partei dem Wachstumsversprechen ausgeliefert haben. Arbeiterparolen auf den Lippen, schauen sie zu, wie ihr Land vom Wirtschaftsliberalismus planiert wird.
Ausgerechnet von dem mutmaßlichen Mörder Nicolai Berge müssen sie sich nun über ihre Verwahrlosung aufklären lassen. Der feingeistige Politiker und verkannte Literat beschreibt auf seinem Blog den eigentlichen Weg, den die norwegische Politik zu gehen hätte. Dafür wird er geschmäht und aus dem Führungszirkel der zugleich veralteten und auf der Überholspur modernisierten Arbeiterpartei verbannt. Ob es nun eine späte Eifersuchtstat oder ein politisch motiviertes Verbrechen war, spielt für das Urteil der Bevölkerung keine Rolle. In der von Kjærstad feinsinnig geschilderten Liaison von Gry und Nicolai spielt beides ohnehin unauflöslich ineinander und kann trotzdem eine Zeit lang für sich bestehen, bis es unter dem Druck von außen zerbricht. Nun kommt es zum Tausch: Das Land hat sein Prinzenpaar verloren, aber dafür einen königlichen Mörder - vielleicht.
Die Bezüge zur Causa Breivik sind nicht so eng gewebt, dass man Kjærstad eine Agenda unterstellen muss. Mehr als um die Psychologie eines Attentäters geht es ihm um das Sittenbild eines leidenschaftslosen Landes, das ein spektakuläres Verbrechen zum eigenen Freispruch nutzt und Selbsterkenntnis verweigert.
Kjærstad, der selbst Journalist, Pastor und Jazzpianist gewesen ist, erzählt zunächst rauschhaft, atemlos. Die Lust an der zwingenden Formulierung, die landesweit Stimmungen auf den Punkt bringt, wird von seiner Reporterin in die Welt getragen, die sich zugleich ein bisschen dafür schämen muss. So entsteht eine Adrenalinprosa, die erst einmal mitreißt, auf Dauer aber reizlos wird. Es ist deshalb ein Glück, dass Kjærstad die Perspektive wendet und dem Richter Peter Malm das Wort erteilt, einem distinguierten Gentleman, der sich in ästhetischer Distanz eingerichtet hat und nun vor der ganzen Nation das Urteil über Nicolai Berge sprechen muss. Der Roman gewinnt darüber einen ruhig fließenden Ton und ändert diese Gemütslage nicht, als kurz vor der Urteilsverkündung der vermeintliche Mörder selbst in einem inneren Monolog zu Wort kommt.
Erzählerisch ist das Buch ein Kaskadenbau. Jede Figur nimmt den Stab ihres Vorgängers auf, doch es ändert sich dabei nur das Temperament und nicht die Perspektive. Alle Figuren sind sich mit ihrem Autor in der Sache einig: Dem Land fehlen die Vorstellungskraft, der Sinn für Gerechtigkeit und Transzendenz - und dem Roman der aus Charaktervielfalt hervorgehende Handlungsantrieb. Man möchte das Buch deshalb eher einen langen politisch-literarischen Essay nennen. Oder eine Gerichtsverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten.
Jan Kjærstad: "Berge". Roman.
Septime Verlag, Wien 2019. 504 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Norweger Jan Kjærstad geht in "Berge" mit seinem Land ins Gericht, das sich durch ein Attentat nur oberflächlich erschüttern lässt.
Von Thomas Thiel
So rastlos, ohne Punkt, aber mit vielen, vielen Kommas, hat schon lange kein Roman mehr begonnen. Doch der Alltag der Journalistin Ine Wang, der ersten Heldin in Kjærstads Roman, besteht nun einmal aus einer endlosen Folge von größeren und kleineren Berichtsanlässen, ein Leben ohne Atempause, wenn es gut läuft - oder schlecht: Dann schleicht sich in die eben noch zwingende Gegenwart die Monotonie, die Pointen beginnen zu schielen, und Wang wartet nur noch auf das große, erlösende Ereignis. Es geht ihr darin nicht anders als ihren Landsleuten, die sich müde durch einen vom Konsum bestimmten Alltag schleppen und innerlich auf Befreiung hoffen. Plötzlich ist die da.
Auf einer norwegischen Insel ist ein Mord an dem charismatischen Führer der Arbeiterpartei, Arne Storefjeld, begangen worden. Zu den sechs Opfern des Anschlags gehört auch seine Tochter Gry, die schillernde Nachwuchshoffnung der norwegischen Sozialdemokratie, auch ein Kind kam ums Leben. Der Mörder muss eine Bestie sein.
Plötzlich hat das Land ein gemeinsames Thema, und Ine Wang, die eine Biographie über Storefjeld schon in petto hat, ist wieder nahe am Puls der Zeit und festes Glied der medialen Verwertungskette, die erwartungsgemäß auf Touren kommt. Der eigenwilligen Journalistin, die es gewohnt ist, gegen den Strom zu schwimmen, kann das nicht ganz recht sein. Doch eine Begegnung mit Nicolai Berge, dem verrätselten Nachwuchspolitiker und ehemaligen Lebensgefährten der aufsehenerregenden Gry, beschert ihr eine andere Sicht auf die Dinge und führt sie hautnah an den Mann heran, den die Polizei und eine strafende Nation für den Mörder halten.
Der Name Anders Breivik hat sich an dieser Stelle längst in die Erzählung geschlichen und wird auch in der Folge immer wieder in Andeutungen wachgerufen. Sei es der Gerichtssaal, der dieselbe Nummer trägt wie im realen Fall, oder die Insel Utøya, die mehrmals beiläufig auftaucht. Hat Jan Kjærstad also den großen Breivik-Roman geschrieben, und versucht er sich an einer Art Schuldumkehr - nicht der Mörder ist die Bestie, sondern das Land, das ihn zum Mörder gemacht hat und sich durch ein öffentliches Tribunal von aller Schuld freisprechen will?
Kjærstad begibt sich auf dünnes Eis. Das Porträt der sozialdemokratischen Jugendorganisation ist wenig schmeichelhaft, und die beiden Hoffnungsträger der Partei, Vater und Tochter Storefjeld, erweisen sich hinter dem charismatischen Glitzer als stumpfe Volkstribunen, die ihre Partei dem Wachstumsversprechen ausgeliefert haben. Arbeiterparolen auf den Lippen, schauen sie zu, wie ihr Land vom Wirtschaftsliberalismus planiert wird.
Ausgerechnet von dem mutmaßlichen Mörder Nicolai Berge müssen sie sich nun über ihre Verwahrlosung aufklären lassen. Der feingeistige Politiker und verkannte Literat beschreibt auf seinem Blog den eigentlichen Weg, den die norwegische Politik zu gehen hätte. Dafür wird er geschmäht und aus dem Führungszirkel der zugleich veralteten und auf der Überholspur modernisierten Arbeiterpartei verbannt. Ob es nun eine späte Eifersuchtstat oder ein politisch motiviertes Verbrechen war, spielt für das Urteil der Bevölkerung keine Rolle. In der von Kjærstad feinsinnig geschilderten Liaison von Gry und Nicolai spielt beides ohnehin unauflöslich ineinander und kann trotzdem eine Zeit lang für sich bestehen, bis es unter dem Druck von außen zerbricht. Nun kommt es zum Tausch: Das Land hat sein Prinzenpaar verloren, aber dafür einen königlichen Mörder - vielleicht.
Die Bezüge zur Causa Breivik sind nicht so eng gewebt, dass man Kjærstad eine Agenda unterstellen muss. Mehr als um die Psychologie eines Attentäters geht es ihm um das Sittenbild eines leidenschaftslosen Landes, das ein spektakuläres Verbrechen zum eigenen Freispruch nutzt und Selbsterkenntnis verweigert.
Kjærstad, der selbst Journalist, Pastor und Jazzpianist gewesen ist, erzählt zunächst rauschhaft, atemlos. Die Lust an der zwingenden Formulierung, die landesweit Stimmungen auf den Punkt bringt, wird von seiner Reporterin in die Welt getragen, die sich zugleich ein bisschen dafür schämen muss. So entsteht eine Adrenalinprosa, die erst einmal mitreißt, auf Dauer aber reizlos wird. Es ist deshalb ein Glück, dass Kjærstad die Perspektive wendet und dem Richter Peter Malm das Wort erteilt, einem distinguierten Gentleman, der sich in ästhetischer Distanz eingerichtet hat und nun vor der ganzen Nation das Urteil über Nicolai Berge sprechen muss. Der Roman gewinnt darüber einen ruhig fließenden Ton und ändert diese Gemütslage nicht, als kurz vor der Urteilsverkündung der vermeintliche Mörder selbst in einem inneren Monolog zu Wort kommt.
Erzählerisch ist das Buch ein Kaskadenbau. Jede Figur nimmt den Stab ihres Vorgängers auf, doch es ändert sich dabei nur das Temperament und nicht die Perspektive. Alle Figuren sind sich mit ihrem Autor in der Sache einig: Dem Land fehlen die Vorstellungskraft, der Sinn für Gerechtigkeit und Transzendenz - und dem Roman der aus Charaktervielfalt hervorgehende Handlungsantrieb. Man möchte das Buch deshalb eher einen langen politisch-literarischen Essay nennen. Oder eine Gerichtsverhandlung in Abwesenheit des Angeklagten.
Jan Kjærstad: "Berge". Roman.
Septime Verlag, Wien 2019. 504 S., geb., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main