Glaubst du, dass Berge glücklich machen können, frage ich ihn. Vittorio Sella hat alle Gipfel der Alpen fotografiert, seine Ausrüstung über steile Felswände hinauf und durch tiefe Schluchten wieder hinab getragen. Was treibt ihn an, möchte ich wissen. Natürlich machen sie das, sagt Sella. Aber es ist nicht nur der eine Moment, in dem man auf dem Gipfel steht und ringsherum über die Wolken blicken kann. Das ist ein Irrglaube. Es geht genauso um die vielen anderen Momente. Auch die Momente voller Anstrengung. Sie sind nicht zu fassen. Sie übersteigen unser Sein. Daran ist nicht zu rütteln, wenn man bedenkt, dass wir millionenfache Zeitraffer brauchen, um zu verstehen, wie sie sich mit der Verschiebung der Erdplatten aufgetürmt haben.Die Berge hingegen haben alles, was jemals war, kommen und gehen gesehen.Das lässt uns schwindeln, wenn wir den Gipfel erreicht haben.Wir nehmen die Anstrengung immer wieder auf uns, wir steigen höher und höher.Aber kommt man den Bergen damit wirklich näher?Die Autorin Lucia Jay von Seldeneck und der Künstler Florian Weiß spüren der Faszination für Berge nach. Vom Fliegeberg in Berlin-Lichterfelde bis hin zum mythischen Berg Analog stellen sie mit literarischen Kurzgeschichten und aquarellierten Illustrationen 35 Berge vor und erzählen von den mit ihnen verbundenen Herausforderungen, Sehnsüchten und Einzigartigkeiten.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 27.10.2022Kuriositätenkabinett
Anrührende und groteske Geschichten zu den Bergen
Diese Bergtour beginnt gemächlich, es geht lediglich 60 Meter hinauf. Dahinter steckt jedoch die Geschichte einer grotesken Plackerei. Denn für seine Gleit- und Flugversuche Ende des 19. Jahrhunderts hat Otto Lilienthal nahe seines Wohnhauses in Berlin-Lichterfelde extra einen Fliegeberg aufschütten lassen mit dem Abraum aus Ziegeleien. Die Autorin Lucia Jay von Seldeneck hat sich dazu eine literarische Skizze ausgedacht über zwei Männer, die diese Arbeit verrichten. Der eine von beiden verzweifelt am Irrwitz seiner Aufgabe, auch gesundheitlich, der andere zerbricht sich darüber nicht den Kopf. Hauptsache, die Bezahlung stimmt. Florian Weiß hat dazu – mithilfe einer eigens von ihm dafür modifizierten Punktiermaschine (er ist Zeichner, Fotograf und Tätowierer) – eine Grafik entworfen, bestehend aus einer Illustration dieses Fliegeberges sowie diversen technischen Zeichnungen, die im Stil an jene Leonardo da Vincis erinnern.
Von da an geht es immer weiter hinauf in „Berge. 35 Geschichten zwischen oben und unten“, dem detailreich gestalteten Buch der Autorin und des Illustrators. Nach dem vierten oder fünften Berg fällt einem beispielsweise die am Beginn jedes Kapitels wiederkehrende Leiste am rechten Seitenrand auf, worauf der Anstieg der Höhenmeter markiert ist. So wie Kinder mit Kerben am Türstock ihr Wachstum dokumentieren.
Wobei nicht immer der Gipfel das Ziel ist. Es geht Weiß und Seldeneck um bemerkenswerte, kuriose, anrührende Geschichten. Mal spielen sie auch am Fuß eines Berges oder auf halbem Weg nach oben. Der zweithöchste Gipfel in dem Band ist der Bungsberg in Schleswig-Holstein. Dort hat Horst Schnoor bis 2013 einen Skilift betrieben – auch das eine Geschichte mit einer Portion Aberwitz, denn allzu viele Skitage hat es dort nie gegeben. Doch auf Schnoor war Verlass: Wenn Schnee lag, lief der Lift. Das wussten die Leute, also kamen sie auch. Schnoor hat sie zusammengebracht.
Es geht im Weiteren um eine doch nicht ausgestorbene Stabheuschreckenart, eine hanebüchene Besitzstreitigkeit in einem Pyrenäendorf, das größte Gipfelkreuz der Welt, den Gründungsmythos der nordkoreanischen Kim-Dynastie sowie ein afghanisches Skirennen. Zu allem fallen Florian Weiß originelle Illustrationen ein: Am Ortler, wo Angela Merkel oft ihre Ferien verbracht hat, spiegelt sich der Berliner Politikbetrieb im Alpinen. Im Matterhornkapitel zitiert Weiß ein berühmtes Foto von Robert Capa, und im Angesicht des 2010 ausgebrochenen isländischen Vulkans Eyjafjallajökull entscheidet Weiß sich, die Schönheit der Aschewolke zu zeigen. Darum geht es: die Erhabenheit des Augenblicks.
STEFAN FISCHER
Lucia Jay von Seldeneck, Florian Weiß: Berge. 35 Geschichten zwischen oben und unten. Kunstanstifter-Verlag, Mannheim 2022. 256 Seiten, 28 Euro.
Ein Skilift in Schleswig-Holstein
und Berliner Politik am Ortler –
das ist die Bandbreite
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Anrührende und groteske Geschichten zu den Bergen
Diese Bergtour beginnt gemächlich, es geht lediglich 60 Meter hinauf. Dahinter steckt jedoch die Geschichte einer grotesken Plackerei. Denn für seine Gleit- und Flugversuche Ende des 19. Jahrhunderts hat Otto Lilienthal nahe seines Wohnhauses in Berlin-Lichterfelde extra einen Fliegeberg aufschütten lassen mit dem Abraum aus Ziegeleien. Die Autorin Lucia Jay von Seldeneck hat sich dazu eine literarische Skizze ausgedacht über zwei Männer, die diese Arbeit verrichten. Der eine von beiden verzweifelt am Irrwitz seiner Aufgabe, auch gesundheitlich, der andere zerbricht sich darüber nicht den Kopf. Hauptsache, die Bezahlung stimmt. Florian Weiß hat dazu – mithilfe einer eigens von ihm dafür modifizierten Punktiermaschine (er ist Zeichner, Fotograf und Tätowierer) – eine Grafik entworfen, bestehend aus einer Illustration dieses Fliegeberges sowie diversen technischen Zeichnungen, die im Stil an jene Leonardo da Vincis erinnern.
Von da an geht es immer weiter hinauf in „Berge. 35 Geschichten zwischen oben und unten“, dem detailreich gestalteten Buch der Autorin und des Illustrators. Nach dem vierten oder fünften Berg fällt einem beispielsweise die am Beginn jedes Kapitels wiederkehrende Leiste am rechten Seitenrand auf, worauf der Anstieg der Höhenmeter markiert ist. So wie Kinder mit Kerben am Türstock ihr Wachstum dokumentieren.
Wobei nicht immer der Gipfel das Ziel ist. Es geht Weiß und Seldeneck um bemerkenswerte, kuriose, anrührende Geschichten. Mal spielen sie auch am Fuß eines Berges oder auf halbem Weg nach oben. Der zweithöchste Gipfel in dem Band ist der Bungsberg in Schleswig-Holstein. Dort hat Horst Schnoor bis 2013 einen Skilift betrieben – auch das eine Geschichte mit einer Portion Aberwitz, denn allzu viele Skitage hat es dort nie gegeben. Doch auf Schnoor war Verlass: Wenn Schnee lag, lief der Lift. Das wussten die Leute, also kamen sie auch. Schnoor hat sie zusammengebracht.
Es geht im Weiteren um eine doch nicht ausgestorbene Stabheuschreckenart, eine hanebüchene Besitzstreitigkeit in einem Pyrenäendorf, das größte Gipfelkreuz der Welt, den Gründungsmythos der nordkoreanischen Kim-Dynastie sowie ein afghanisches Skirennen. Zu allem fallen Florian Weiß originelle Illustrationen ein: Am Ortler, wo Angela Merkel oft ihre Ferien verbracht hat, spiegelt sich der Berliner Politikbetrieb im Alpinen. Im Matterhornkapitel zitiert Weiß ein berühmtes Foto von Robert Capa, und im Angesicht des 2010 ausgebrochenen isländischen Vulkans Eyjafjallajökull entscheidet Weiß sich, die Schönheit der Aschewolke zu zeigen. Darum geht es: die Erhabenheit des Augenblicks.
STEFAN FISCHER
Lucia Jay von Seldeneck, Florian Weiß: Berge. 35 Geschichten zwischen oben und unten. Kunstanstifter-Verlag, Mannheim 2022. 256 Seiten, 28 Euro.
Ein Skilift in Schleswig-Holstein
und Berliner Politik am Ortler –
das ist die Bandbreite
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