Ein Tunnel, Europa zu einen
Fünfzehn Kilometer soll er lang sein, der Tunnel, der künftig Italien an Nordeuropa anbinden wird. In nur acht Jahren soll das legendäre Gotthardmassiv bezwungen werden. So zumindest, wenn es nach Luis Favre geht, der im Oktober des Jahres 1872 nach Göschenen kommt
und dort mit seinen Plänen die geliebte Ordnung der Göschener Bürger durcheinanderbringt. Viele,…mehrEin Tunnel, Europa zu einen
Fünfzehn Kilometer soll er lang sein, der Tunnel, der künftig Italien an Nordeuropa anbinden wird. In nur acht Jahren soll das legendäre Gotthardmassiv bezwungen werden. So zumindest, wenn es nach Luis Favre geht, der im Oktober des Jahres 1872 nach Göschenen kommt und dort mit seinen Plänen die geliebte Ordnung der Göschener Bürger durcheinanderbringt. Viele, allen voran die Fuhrhalterfamilien, stehen dem Projekt skeptisch gegenüber.
Inmitten dieser Wirren lernen wir Helene kennen, eine gewitzte Fuhrhalterstochter, die über den Bau des Tunnels alles andere als unglücklich ist, kann sie so doch endlich mehr im Geschäft ihres Vaters aushelfen. Helene gehört zu den Charakteren, zu denen man schnell Sympathie fasst. Sie reibt sich an den Fesseln der Gesellschaft, sie provoziert Dorfklatsch und rügt die Klatschtanten, wo sie nur kann. Seemayer gelingt der heikle Drahtseilakt, Helene gleichzeitig modern und aufgeschlossen zu zeigen, ohne dabei die Grenzen der Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu überschreiten.
Bergleuchten hat viele Lesarten. Eine davon ist zweifelsfrei die eines luftig leichten Liebesromans. Die Romanze zwischen Piero und Helene ist packend, birgt aber in sich kaum unvorhersehbare Wendungen, was den Verlauf der Erzählung in einigen Teilen vorhersehbar macht. Doch Seemayer hat die Liebesgeschichte in einen soziokulturellen Kontext eingewoben, vor dem sie Fragen stellt, die uns auch heute noch beschäftigen: Kann und sollte man Fortschritt aufhalten? Was macht er mit uns? Und wie entstehen eigentlich Subkulturen? Bei Seemayer sind die Antworten auf diese Frage Perspektivsache. Ein Fuhrhalter steht dem Bau des Tunnels vielleicht weniger aufgeschlossen gegenüber als ein Gastwirt, der dank der in die Stadt strömenden Arbeiter endlich einmal alle Zimmer vermieten kann. Und ein Italiener, dem von den Einheimischen nichts als Misstrauen entgegen gebracht wird, wird sich lieber unter anderen Italienern aufhalten.
Überhaupt steht über allem das wachsende Misstrauen den Fremden gegenüber. Zu hunderten strömen sie zur größten Baustelle Europas. Während die Göschener einerseits nur allzu bereitwillig an ihnen verdienen, so machen sich andererseits schnell Vorbehalte breit. Unzivilisiert seien sie und ungewaschen, machten zu viel Lärm und nähmen dem Herrgott damit auch noch den heiligen Sonntag. Überdies vergriffen sie sich an den Frauen. Auch hier sind es für Seemayer die persönlichen Erfahrungen, die Erlebnisse eines jeden Einzelnen, die den Umgang mit den Italienern prägen. Sie porträtiert den verletzten Knecht, der sich nach einer persönlichen Kränkung zu einem eingefleischten Italienerhasser entwickelt, ebenso gekonnt wie die Mädchen, die neugierig und offen über den neuen italienischen Markt schlendern.
Die Antwort, dass es allein unsere persönlichen Erfahrungen sind, die uns im Umgang mit Fremden und mit, ja, man muss es sagen, Integration prägen, mag zu kurz gegriffen sein, aber es ist sicher die Antwort, in der wir uns am besten wiederfinden. Das ist letztlich, was Seemayers Roman lesenswert macht - über die Liebesgeschichte hinaus.