»Man kann das zwanzigste Jahrhundert nicht verstehen, ohne Berlin zu verstehen; und man kann Berlin nicht verstehen, ohne die Erfahrungen der Menschen dort zu verstehen.«
Sinclair McKay, Berlin
Kaum eine andere Stadt stand im zwanzigsten Jahrhundert so sehr im Zentrum des Weltgeschehens wie Berlin: Ihr Aufstieg zur kosmopolitischen Metropole während der Weimarer Republik, der wirtschaftliche Absturz, die Machtübernahme der Nationalsozialisten, der Zweite Weltkrieg, ihre Teilung, die Wende und der Mauerfall.
Zwischen Kaufhäusern der Moderne, UFA-Studios, Uranium-Clubs und Rosinenbombern erzählt Sinclair McKay die Geschichte der Stadt durch die Augen derer, die in ihr lebten: Vom idealistischen Wissenschaftler Albert Einstein bis zum Nazi-Architekten Albert Speer, von der Revolutionärin Rosa Luxemburg bis zum ersten deutschen Nachkriegsstar Hildegard Knef - von einfachen Hausfrauen, Büroangestellten, Zwangsarbeitern in einer Marmeladenfabrik oder übermütigen Jugendlichen, die das Dauerwellenverbot der Nationalsozialisten, umgingen.
Generationen von Berlinern gibt Sinclair McKay eine Stimme und zeichnet dabei ein fesselndes, lebendiges und mit neuen Details gespicktes Portrait dieser Stadt und ihrer Bewohner, die von den Ereignissen der Geschichte immer wieder durchgerüttelt wurden - ihren Überlebenswillen und ihren Sinn für Humor jedoch nie verloren.
Sinclair McKay, Berlin
Kaum eine andere Stadt stand im zwanzigsten Jahrhundert so sehr im Zentrum des Weltgeschehens wie Berlin: Ihr Aufstieg zur kosmopolitischen Metropole während der Weimarer Republik, der wirtschaftliche Absturz, die Machtübernahme der Nationalsozialisten, der Zweite Weltkrieg, ihre Teilung, die Wende und der Mauerfall.
Zwischen Kaufhäusern der Moderne, UFA-Studios, Uranium-Clubs und Rosinenbombern erzählt Sinclair McKay die Geschichte der Stadt durch die Augen derer, die in ihr lebten: Vom idealistischen Wissenschaftler Albert Einstein bis zum Nazi-Architekten Albert Speer, von der Revolutionärin Rosa Luxemburg bis zum ersten deutschen Nachkriegsstar Hildegard Knef - von einfachen Hausfrauen, Büroangestellten, Zwangsarbeitern in einer Marmeladenfabrik oder übermütigen Jugendlichen, die das Dauerwellenverbot der Nationalsozialisten, umgingen.
Generationen von Berlinern gibt Sinclair McKay eine Stimme und zeichnet dabei ein fesselndes, lebendiges und mit neuen Details gespicktes Portrait dieser Stadt und ihrer Bewohner, die von den Ereignissen der Geschichte immer wieder durchgerüttelt wurden - ihren Überlebenswillen und ihren Sinn für Humor jedoch nie verloren.
»Kenntnisreich und eindringlich schildert [McKay] europäische Geschichte am Beispiel Berlins.« Hannoversche Allgemeine Zeitung 20230603
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Stephan Wackwitz bespricht zwei Bücher über die "ungleichen Stadtschwestern" Berlin und Wien. Jens Wietschorkes Buch "Wien - Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde" bietet dem Kritiker eine ausführliche Einführung in die moderne "Folklore" der beiden Städte, nach der Berlin als die fortschrittliche, "protestantisch rationale", Wien als die "gemütlich katholische", dabei leicht zurückgebliebene Stadt wahrgenommen wurde - umwoben freilich von zahlreichen Mythen, Vorurteilen und Fantasien auf beiden Seiten, die der Kulturwissenschaftler eingehend und auch mit Blick auf die Paradoxien auffächere. So kamen etwa die eigentlich "innovativen" Ideen aus Wien, obwohl man sich internationalen Erfolg nur von Berlin versprach, liest Wackwitz. Auch Sinclair McKays Buch über "Berlin 1918-1989" betrachte Berlin eingebettet in die "kulturelle Moderne" und verfahre dabei nach dem Prinzip der Oral History, die individuelle Zeitzeugen (unter den bekannten: Hildegard Knef) zu Wort kommen lasse, so der Kritiker. Was ihm in beiden Büchern zu kurz kommt, ist zum einen die Beleuchtung Ostberlins und zum andern der Gegenwartsbezug. Trotzdem spricht aus beiden Publikationen die "ungebrochene Faszination" für das Verhältnis zwischen diesen beiden Städten, schließt er.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2023Ohne die preußischen Parvenus ging's halt nicht
Metropolen der Moderne im Wechselspiel: Zwei Bücher über Berlin und Wien
"It was the best of times, it was the worst of times" - mit diesem Paradox beginnt Charles Dickens' Roman "A Tale of Two Cities". In ihm geht es zwar um Paris und London zur Zeit der großen Revolution von 1789. Und doch kommt einem der Satz in den Sinn bei der Lektüre von "Wien - Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde" von Jens Wietschorke, einem in München lehrenden Kulturwissenschaftler, und "Berlin 1918-1989: Die Stadt, die ein Jahrhundert prägte" von Sinclair McKay, einem Literaturkritiker des Londoner "Spectator". Denn Wien und Berlin - die beiden Metropolen der europäischen Moderne des vorigen Jahrhunderts - sind auf unterschiedliche Weise mit guten wie schlechten Zeiten als Konsequenz grundlegender Umstürze bedacht worden.
Die aus soziologischen und kulturellen Motiven gemischte Gesellschaftsformation der "Moderne" bescherte ihren Wiener und Berliner Protagonisten wie deren Feinden - und nicht zuletzt den Frauen - ungeahnte künstlerische und lebensweltliche Freiheiten und Chancen. Aber sie beinhaltete auch beträchtliche Risiken. Jens Wietschorke arbeitet instruktiv heraus, wie moderne Kunstformen und Lebensweisen zu Beginn des letzten Jahrhunderts sozusagen als Wiener Phänomen in Berlin erfunden wurden. Berlin galt als die protestantisch rationale Stadt; Wien sah man in Berlin und auch in der Habsburgermetropole selbst als gemütlich katholisch - sympathisch, kulturell produktiv, aber insgesamt auch ein wenig von gestern. Es gibt wohl kaum eine vollständigere Sammlung der Vorstellungen, Albträume, Klischees, Phantasien und Illusionen, die in Wien und Berlin über die jeweils andere Stadt im Schwange gewesen sind, als Wietschorkes Buch.
Eine Schlüsselfigur im Pingpongspiel kultureller Zuschreibungen zwischen den beiden Städten ist der aus Wien stammende Kritiker Hermann Bahr, der als Talentscout des Berliner S. Fischer Verlags die Autoren des Jung-Wien - Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Peter Altenberg, Felix Salten - gegen den Naturalismus, der damals auf den progressiven Theatern und in den tonangebenden Buchhandlungen des kaiserlichen Berlin dominierte, in Stellung brachte und ihnen damit große Auftritte verschaffte. Denn, auch das ist Wietschorkes Buch zu entnehmen, die Wien-Berlin-Dialektik beinhaltete auch das Paradox, dass einerseits nur Resonanz in der preußischen Hauptstadt Bücher, Bilder und Theaterstücke zu Weltereignissen machen konnte, andererseits aber die eigentlich innovativ modernen Inhalte - die Psychoanalyse, der Empiriokritizismus um Ernst Mach, die verschiedenen Kunst-Sezessionen - in Wien auf den Weg gebracht wurden.
Wien war die gemächlichere, ältere und altmodischere, aber auch die ideenreichere Metropole - nicht zuletzt, weil ihr über Jahrhunderte die vielfältigen Anregungen Süd- und Ostmitteleuropas zugeflossen waren. Berlin war, so will und wollte es die Wien-Berlin-Folklore, lauter, schneller, erfolgsorientierter, vulgärer. Aber eine dauerhafte und ausstrahlende Wirkung war nur dort möglich.
Mit dieser Präponderanz Berlins hängt es zusammen, dass auch die totalitären Angriffsbewegungen gegen die Moderne dort zuerst und am gewaltsamsten hervortreten konnten, welche die künstlerische Moderne Wiener wie Berliner Provenienz für lange Jahre aus Kontinentaleuropa verbannten. Erst mit den siegreichen westlichen Armeen kehrte sie wieder zurück und auch nur in eine Hälfte Europas. Allerdings hat es auch in Ostberlin eine prekäre und durch die Staatsideologie immer bedrohte Spielart der kulturellen Moderne gegeben, in der Literatur ebenso wie in der Architektur oder in der bildenden Kunst. Deren Widersprüche, Kämpfe und Paradoxien bleiben in beiden Büchern unterbelichtet wie im Bewusstsein der Gebildeten und auch der Kulturwissenschaftler überhaupt.
Die farbige und widerspruchsvolle Geschichte von Aufstieg, Fall, amerikanischer Rettung und bundesrepublikanischem Fortgang der Berliner kulturellen Moderne ist das Generalthema des Buchs von Sinclair McKay. Sein Berlin-Buch unterscheidet sich von anderen Biographien dieser Stadt erstens durch seine durchgehende Individualisierung von Geschichte mithilfe der Ergebnisse der Oral-History-Bewegung, die er vor allem den Aktivitäten und Veröffentlichungen der Berliner Organisation "ZeitZeugenBörse" verdankt. Zweitens aber setzt er den narrativen Schwerpunkt auf die Feier jener kulturellen Kreativität und Resilienz, die Berlin auch in den finstersten Zeiten nie ganz verlassen hat.
Immer wieder macht McKay historische Wendungen, kulturelle Tendenzen und Ereignisse an individuellen Schicksalen fest. Unter seinen Oral-History-Zeugnissen finden sich Erinnerungen ganz unbekannter Personen, aber auch Auszüge aus Hildegard Knefs Autobiographie - einem weithin unterschätzten Klassiker der Nachkriegsliteratur - spielen durchgehend eine prominente Rolle.
McKays erzählerisches Prinzip, immer wieder konkrete Personen im Strom seiner Erzählung auftauchen zu lassen, bringt literarische Effekte hervor, die an Walter Kempowskis "Echolot" erinnern. Zu den Höhepunkten seines Buchs gehört die Schilderung des nebligen Vorabends der Schlacht an den Seelower Höhen im April 1945: die Angst und das Sinnlosigkeitsgefühl der notdürftig ausgebildeten jungen Rekruten am Vorabend ihrer absehbaren Vernichtung in der Endkatastrophe eines längst aussichtslos gewordenen und von Anfang an verbrecherischen Krieges. Oder das Bild eines zwölfjährigen Kindersoldaten, der seinen sinnlosen Posten an einer Berliner Panzersperre verlassen hatte und aufgehängt wurde mit einem Schild um den Hals, auf dem in Kinderschrift zu lesen war, er sei zu feige gewesen für das Vaterland.
Die Gegenwartsdimension dieses "Tale of Two Cities" bleibt in beiden Büchern weitgehend außerhalb des Blickfelds. Sinclair McKays Erzählung endet überhaupt mit dem Fall der Mauer. Wie sich die Bilder Berlins und Wiens vor unseren Augen verändern - und unter manchen Aspekten geradezu umdrehen -, verdiente eine gesonderte Darstellung: des Wandels der ehemals für ihre Rationalität und Durchschlagskraft berühmten Seelenlosigkeitsmetropole Berlin zur ineffektiv-verträumten Lifestyle-Hochburg ("arm, aber sexy") und des ökonomischen Aufstiegs des ehemals liebenswert zurückgebliebenen Wien zur Drehscheibe eines Ost-West-Wirtschaftswunders. Die Faszination der ungleichen Stadtschwestern, auch das ist bei der Lektüre dieser beiden Bücher zu lernen, ist ungebrochen und weist in interessante zukünftige Zeiten. STEPHAN WACKWITZ
Jens Wietschorke: "Wien - Berlin". Wo die Moderne erfunden wurde.
Reclam Verlag, Stuttgart 2023. 345 S., Abb., geb., 26,- Euro.
Sinclair McKay: "Berlin". 1918-1989. Die Stadt, die ein Jahrhundert prägte.
Aus dem Englischen von E. Schmalen und J. Wais. Harper Collins Verlag, Hamburg 2023. 512 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Metropolen der Moderne im Wechselspiel: Zwei Bücher über Berlin und Wien
"It was the best of times, it was the worst of times" - mit diesem Paradox beginnt Charles Dickens' Roman "A Tale of Two Cities". In ihm geht es zwar um Paris und London zur Zeit der großen Revolution von 1789. Und doch kommt einem der Satz in den Sinn bei der Lektüre von "Wien - Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde" von Jens Wietschorke, einem in München lehrenden Kulturwissenschaftler, und "Berlin 1918-1989: Die Stadt, die ein Jahrhundert prägte" von Sinclair McKay, einem Literaturkritiker des Londoner "Spectator". Denn Wien und Berlin - die beiden Metropolen der europäischen Moderne des vorigen Jahrhunderts - sind auf unterschiedliche Weise mit guten wie schlechten Zeiten als Konsequenz grundlegender Umstürze bedacht worden.
Die aus soziologischen und kulturellen Motiven gemischte Gesellschaftsformation der "Moderne" bescherte ihren Wiener und Berliner Protagonisten wie deren Feinden - und nicht zuletzt den Frauen - ungeahnte künstlerische und lebensweltliche Freiheiten und Chancen. Aber sie beinhaltete auch beträchtliche Risiken. Jens Wietschorke arbeitet instruktiv heraus, wie moderne Kunstformen und Lebensweisen zu Beginn des letzten Jahrhunderts sozusagen als Wiener Phänomen in Berlin erfunden wurden. Berlin galt als die protestantisch rationale Stadt; Wien sah man in Berlin und auch in der Habsburgermetropole selbst als gemütlich katholisch - sympathisch, kulturell produktiv, aber insgesamt auch ein wenig von gestern. Es gibt wohl kaum eine vollständigere Sammlung der Vorstellungen, Albträume, Klischees, Phantasien und Illusionen, die in Wien und Berlin über die jeweils andere Stadt im Schwange gewesen sind, als Wietschorkes Buch.
Eine Schlüsselfigur im Pingpongspiel kultureller Zuschreibungen zwischen den beiden Städten ist der aus Wien stammende Kritiker Hermann Bahr, der als Talentscout des Berliner S. Fischer Verlags die Autoren des Jung-Wien - Hugo von Hofmannsthal, Arthur Schnitzler, Peter Altenberg, Felix Salten - gegen den Naturalismus, der damals auf den progressiven Theatern und in den tonangebenden Buchhandlungen des kaiserlichen Berlin dominierte, in Stellung brachte und ihnen damit große Auftritte verschaffte. Denn, auch das ist Wietschorkes Buch zu entnehmen, die Wien-Berlin-Dialektik beinhaltete auch das Paradox, dass einerseits nur Resonanz in der preußischen Hauptstadt Bücher, Bilder und Theaterstücke zu Weltereignissen machen konnte, andererseits aber die eigentlich innovativ modernen Inhalte - die Psychoanalyse, der Empiriokritizismus um Ernst Mach, die verschiedenen Kunst-Sezessionen - in Wien auf den Weg gebracht wurden.
Wien war die gemächlichere, ältere und altmodischere, aber auch die ideenreichere Metropole - nicht zuletzt, weil ihr über Jahrhunderte die vielfältigen Anregungen Süd- und Ostmitteleuropas zugeflossen waren. Berlin war, so will und wollte es die Wien-Berlin-Folklore, lauter, schneller, erfolgsorientierter, vulgärer. Aber eine dauerhafte und ausstrahlende Wirkung war nur dort möglich.
Mit dieser Präponderanz Berlins hängt es zusammen, dass auch die totalitären Angriffsbewegungen gegen die Moderne dort zuerst und am gewaltsamsten hervortreten konnten, welche die künstlerische Moderne Wiener wie Berliner Provenienz für lange Jahre aus Kontinentaleuropa verbannten. Erst mit den siegreichen westlichen Armeen kehrte sie wieder zurück und auch nur in eine Hälfte Europas. Allerdings hat es auch in Ostberlin eine prekäre und durch die Staatsideologie immer bedrohte Spielart der kulturellen Moderne gegeben, in der Literatur ebenso wie in der Architektur oder in der bildenden Kunst. Deren Widersprüche, Kämpfe und Paradoxien bleiben in beiden Büchern unterbelichtet wie im Bewusstsein der Gebildeten und auch der Kulturwissenschaftler überhaupt.
Die farbige und widerspruchsvolle Geschichte von Aufstieg, Fall, amerikanischer Rettung und bundesrepublikanischem Fortgang der Berliner kulturellen Moderne ist das Generalthema des Buchs von Sinclair McKay. Sein Berlin-Buch unterscheidet sich von anderen Biographien dieser Stadt erstens durch seine durchgehende Individualisierung von Geschichte mithilfe der Ergebnisse der Oral-History-Bewegung, die er vor allem den Aktivitäten und Veröffentlichungen der Berliner Organisation "ZeitZeugenBörse" verdankt. Zweitens aber setzt er den narrativen Schwerpunkt auf die Feier jener kulturellen Kreativität und Resilienz, die Berlin auch in den finstersten Zeiten nie ganz verlassen hat.
Immer wieder macht McKay historische Wendungen, kulturelle Tendenzen und Ereignisse an individuellen Schicksalen fest. Unter seinen Oral-History-Zeugnissen finden sich Erinnerungen ganz unbekannter Personen, aber auch Auszüge aus Hildegard Knefs Autobiographie - einem weithin unterschätzten Klassiker der Nachkriegsliteratur - spielen durchgehend eine prominente Rolle.
McKays erzählerisches Prinzip, immer wieder konkrete Personen im Strom seiner Erzählung auftauchen zu lassen, bringt literarische Effekte hervor, die an Walter Kempowskis "Echolot" erinnern. Zu den Höhepunkten seines Buchs gehört die Schilderung des nebligen Vorabends der Schlacht an den Seelower Höhen im April 1945: die Angst und das Sinnlosigkeitsgefühl der notdürftig ausgebildeten jungen Rekruten am Vorabend ihrer absehbaren Vernichtung in der Endkatastrophe eines längst aussichtslos gewordenen und von Anfang an verbrecherischen Krieges. Oder das Bild eines zwölfjährigen Kindersoldaten, der seinen sinnlosen Posten an einer Berliner Panzersperre verlassen hatte und aufgehängt wurde mit einem Schild um den Hals, auf dem in Kinderschrift zu lesen war, er sei zu feige gewesen für das Vaterland.
Die Gegenwartsdimension dieses "Tale of Two Cities" bleibt in beiden Büchern weitgehend außerhalb des Blickfelds. Sinclair McKays Erzählung endet überhaupt mit dem Fall der Mauer. Wie sich die Bilder Berlins und Wiens vor unseren Augen verändern - und unter manchen Aspekten geradezu umdrehen -, verdiente eine gesonderte Darstellung: des Wandels der ehemals für ihre Rationalität und Durchschlagskraft berühmten Seelenlosigkeitsmetropole Berlin zur ineffektiv-verträumten Lifestyle-Hochburg ("arm, aber sexy") und des ökonomischen Aufstiegs des ehemals liebenswert zurückgebliebenen Wien zur Drehscheibe eines Ost-West-Wirtschaftswunders. Die Faszination der ungleichen Stadtschwestern, auch das ist bei der Lektüre dieser beiden Bücher zu lernen, ist ungebrochen und weist in interessante zukünftige Zeiten. STEPHAN WACKWITZ
Jens Wietschorke: "Wien - Berlin". Wo die Moderne erfunden wurde.
Reclam Verlag, Stuttgart 2023. 345 S., Abb., geb., 26,- Euro.
Sinclair McKay: "Berlin". 1918-1989. Die Stadt, die ein Jahrhundert prägte.
Aus dem Englischen von E. Schmalen und J. Wais. Harper Collins Verlag, Hamburg 2023. 512 S., Abb., geb., 28,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main