"Berlin bewegt sich schneller, als ich schreibe" - so Cécile Wajsbrot über die Fast-Unmöglichkeit, das neue Berlin zu erfassen. Die Stadt erscheint, nicht nur im Vergleich zu Paris, als im ständigen Wandel begriffen und als Laboratorium für neue Lebensformen. Das Unfertige, Brüchige und Fragmentarische fasziniert auch andere Autor_innen aus französischsprachigen Ländern. Seit 1989 kommen viele von ihnen nach Berlin, mit einer Vorliebe für "vibrierende Räume" (K. Schlögel) wie Prenzlauer Berg und Mitte. Andere wiederum entscheiden sich für Kreuzberg, Charlottenburg oder Marzahn und akzentuieren lustvoll das Aus-der-Zeitgefallensein dieser Stadträume.Die Anthologie präsentiert Impressionen des neuen (und 'alten') Berlin, aufgezeichnet von 22 Autor_innen unterschiedlicher Altersgruppen, aus Frankreich, aber auch aus Belgien, Kanada und der Schweiz. Die meisten Texte, geschrieben in den letzten 25 Jahren, wurden für diesen Band erstmals ins Deutsche übersetzt. So entsteht ein vielstimmiges, zuweilen auch durchaus dissonantes Berlin-Lesebuch - eine Einladung, im Medium des 'fremden Blicks' das Faszinationspotential dieser Stadt zu ergründen sowie ihre Fähigkeit, Emotionen wie Trauer, Euphorie oder Melancholie freizusetzen. Für ein deutschsprachiges Lesepublikum eröffnen sich dabei verblüffend neue Perspektiven auf das Berlin nach dem Mauerfall.
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Mit großer Kenntnis bespricht der hier rezensierende Romanist Niklas Bender zwei Anthologien französischer Texte über Berlin und Deutschland (eine davon ist von der Zeitschrift Lendemains erstellt worden und nur auf französisch zu lesen). Im vorliegenden Band besticht ihn eine erstaunliche Lebendigkeit, mit der sich eine neue Generation französischer AutorInnen der Stadt Berlin annähert. Einer der Gründe für diese Lebendigkeit: Die alte französische Selbstgewissheit sei dahin. Saint-Germain-des-Près wird selbst von Parisern nicht mehr als das Zentrum der Welt angesehen, um so wacher der Blick. Toll die Berlin-Beschreibungen, die Bender zitiert, etwa das Erstaunen Julien Samonis über "Straßen so breit wie gestrandete Wale". Bender bedauert nur eins, das Fehlen einiger Autoren der "Inculte"-Gruppe, die er als eine der wichtigsten der letzten Zeit ansieht. Zu ihr gehört etwa Camille de Toledo. Ihn kann man in der Lendemains-Anthologie nachlesen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.10.2020Das Unheimliche ist hier immer präsent
Zwei Anthologien tragen französische Blicke auf Deutschland und die deutsche Literatur zusammen
Es ist eine zwiespältige Sache, wenn derzeit gern die Metapher des ergrauten Ehepaars bemüht wird, um die deutsch-französischen Beziehungen zu beschreiben. Einerseits gibt es eine gesunde Routine der Kooperation, sei es auf institutioneller oder persönlicher Ebene, etwa in der universitären Zusammenarbeit. Andererseits hat sich Desinteresse breitgemacht, das eben nicht nur Ausdruck von Normalität ist. Das belegt die deutsch-französische Politik, die seit Emmanuel Macrons Antritt keinen guten Eindruck macht, mehr noch aber das Verhalten der Bevölkerung in der Covid-19-Krise: Die fast vergessenen Landesgrenzen waren zu deren Beginn im Nu wieder sichtbar, weil fest geschlossen, und in Einzelfällen von Baden bis ins Saarland wurden Nachbarn angefeindet; da halfen auch später bereitgestellte deutsche Krankenhausbetten nicht.
In diese Situation bringt die Literatur wohltuenden, belebenden Wind: Zwei Bände versammeln die Stimmen französischer und französischsprachiger Schriftsteller und Intellektuelle zu Berlin und Deutschland. Die inhaltlichen Überschneidungen überwiegen im guten, verstärkenden Sinne, sie bezeugen nicht nur Interesse für und Nähe zu Deutschland. Nein, sie zeigen vor allem die Fruchtbarkeit der Begegnung, und zwar gerade bei hellsichtiger Berücksichtigung von Unterschieden. Unter diesen Bedingungen kann der Blick unserer Nachbarn der Selbsterklärung dienen - angesichts eines Dialogs, der zwischen Empfangskonversation, Schweigen und Geschimpfe zu versanden droht.
Der von Dorothee Risse und Margarete Zimmermann herausgegebene Band "Berlin bewegt sich schneller, als ich schreibe - Das Neue Berlin aus französischer Sicht" ist trotz des engeren Fokus der umfangreichere; er versammelt 29 Texte von 22 Autorinnen und Autoren. Die meisten davon sind Schriftsteller, darunter für das Berlin-Thema einschlägige wie Jean-Yves Cendrey, Marie NDiaye und Cécile Wajsbrot, es befinden sich jedoch auch die Fotografen Serge Mouraret und Annaëlle Vanel, die Soziologin Régine Robin sowie die Philosophen Michaël Foessel und Edgar Morin darunter. Gruppiert sind die erzählerischen oder essayistischen Aufsätze in fünf thematische Abschnitte, die vom Ankommen, den Orten, der Lebensqualität sowie der Vergangenheit Berlins sprechen und schließlich erkunden, inwiefern die Stadt ein Zufluchtsort sein kann; ergänzt werden sie durch schöne Fotografien.
Was erfahren wir da über die deutsche Hauptstadt? Die übliche Überraschung bei der Ankunft und ersten Erkundung: die "klobige Anhäufung" des ICC am westlichen Rand (Christian Pringent), die Weitläufigkeit der Anlage, das lose Stadtgefüge: "Groß, leer, die Straßen so breit wie gestrandete Wale" (Julien Santoni). Man merkt diesen Beobachtungen an, was Éric Faye schon 1989 festhält: "Denn ich war mit einigen sehr festen Vorstellungen angekommen, unzerstörbarer als die Mauer." Da wären Stereotype wie das graue Ost-Berlin, die andauernde Hässlichkeit der Stadt, ihr komplexes Verhältnis zur Vergangenheit, ihr enormes Kreativitätspotential - und so Banales wie die langen dunklen Winter.
Viele der Texte zeichnet ein differenziertes Nachdenken über die eigene Voreingenommenheit aus. Deren Maß ist Paris, eine Stadt, die in scharfem Kontrast zu Berlin steht. Der Unterschied wird meist als belebend wahrgenommen: Die französische Kapitale ist den Reisenden zu eng geworden, zu statisch, zu bürgerlich, zu museal. Dass es so viele an der Fremde interessierte frankophone Autoren gibt, ist nicht neu, es genügt, sich die Reiseliteratur des neunzehnten Jahrhunderts anzusehen (in der Berlin keine große Rolle spielt). Neu ist, dass die nationale Selbstsicherheit vergangen ist, dass ernsthaft neue Modelle oder gar ein anderes Leben gesucht werden, was eine Offenheit des Blicks mit sich bringt. Die Anthologie bestätigt den Leseeindruck der vergangenen Jahre: Für viele französische Autoren ist Saint-Germain-des-Prés nicht länger der Nabel der Welt.
Daher finden sich - manchen Klischees zum Trotz, die zu thematischen Anthologien fast zwangsläufig gehören - viele treffende Überlegungen. Foessel stellt die Frage nach der sozialen Durchmischung und hält fest: "Im Vergleich zu Paris ist Berlin eine egalitärere, doch weniger durchmischte Stadt." Im Nachdenken über die Frage, ob Berlin eine Stadt der Vergangenheit oder der Zukunft sei, schließt Pringent auf ein Drittes, "eine Stadt im Konditional der Vergangenheit: In Berlin sieht man vor allem, was man hätte sehen können, sehen wollen, gern gesehen hätte und was man nicht mehr sieht." Treffende Szenen kommen hinzu, Bekanntes - die herrliche FKK-Sequenz am Halensee in Jean-Philippe Toussaints "Fernsehen" (1997) - und weniger Erwartbares, etwa in "Berlin trafic" (2008) von Santoni, einem Roman, der vom Ankommen eines Schauspielers in der Stadt berichtet. Auch die Reaktionen der Reisenden können verblüffen, etwa wenn Mouraret eine französische Liebhaberattitüde auf dieses spezielle Objekt anwendet und gesteht, "dem etwas perversen Charme einer Stadt zu erliegen, die zwischen Recycling und Fiktion schwankt und die mich auf jeder Reise mit den verschiedensten Gefühlen erfüllt, so gegensätzlich wie exzessiv".
Die Fülle an sich überrascht kaum, ist mit Zimmermann, der emeritierten Leiterin des Observatoire de l'extrême contemporain, einem Zentrum für frankophone Gegenwartliteratur, doch eine Fachfrau am Werk. Sie und ihre Mitherausgeberin Risse ordnen die Darstellungen im Vorwort thematisch und historisch ein und ziehen eine Summe. Denn die Faszination, die Berlin als Kristallisationsort der Umwälzungen nach 1989 ausstrahlte, ist mit Auslaufen der historischen Dynamik spürbar schwächer geworden. Insofern markiert die Anthologie einen vorläufigen Endpunkt.
Was die Auswahl betrifft, so ist Kritik meist müßig, in Anthologien fehlt immer irgendjemand. Eine Lücke jedoch schmerzt: Dass keine Stimme von "Inculte", der wichtigsten französischen Literaturgruppierung der letzten zwanzig Jahre, spricht, ist ein Manko. Das kompensiert zum Glück die kleine Anthologie, die Cornelia Ruhe, eine deutsche Kennerin französischer Gegenwartsliteratur, für die Zeitschrift "lendemains" zusammengestellt hat: Neben Wajsbrot, die sozusagen die Brücke herstellt, finden sich Jérôme Ferrari, Samy Langeraert, Wilfried N'Sondé, Oliver Rohe und Camille de Toledo (letztere beiden sind "Inculte"-Autoren). Der Band mit dem etwas sperrigen Titel "Zwischen Unbestimmtheit und Überbestimmtheit - Deutschland aus Sicht zeitgenössischer frankophoner Autoren" will ein repräsentatives Panorama entwerfen. Zugänglich ist es nur Lesern mit Sprachkenntnissen, da die Texte nicht übersetzt sind; abermals handelt es sich um Erfahrungsberichte oder Romanauszüge.
Ein wichtiger und spannender Schwerpunkt in Ruhes Auswahl ist das Verhältnis zur Sprache: Das Deutsche galt und gilt in Frankreich als schwierig und elitär, stellt daher die Wahl guter Schüler dar - sogar bei Kindern von Schoa-Überlebenden wie Wajsbrot. Andere, wie Ferrari, schreckt sie trotz seines Interesses für deutsche Philosophen (man denke an "Das Prinzip", seinen Heisenberg-Roman) ab. Oliver Rohe schließlich stellt als in Beirut aufgewachsener Sohn eines deutschen Schauspielers einen Sonderfall dar: Sein Text, ein Auszug aus einem in Arbeit befindlichen autobiographischen Buch, untersucht das Verhältnis zum Vater, der mit dem Erzähler aus Lieblosigkeit nur Englisch spricht; ihm wird so eine nur bruchstückhafte DeutschlandErfahrung zuteil.
Der Zugang zu einem fremden Land erfolgt bei Schriftstellern gern mittels Lektüren. Bleibender Faszinationspunkt ist die deutsche Romantik, die Langeraert, Toledo und Wajsbrot geprägt hat, sowie, eng damit verknüpft, ein Blick, der das Fragmentarische und Vergängliche, das Fortleben der Vergangenheit betont. Dass die freilich nicht immer zur Idealisierung taugt, daran zweifelt keiner der Autoren - eher beschwört Toledo, wie Wajsbrot ein Nachfahre von Schoa-Überlebenden, ein "Kontinuum des Desasters". Er versteht Literatur als Erinnerung und lässt auf Berliner Grund Grimms Märchen, griechische Mythologie und Realgeschichte kollidieren.
Die beiden Anthologien ergänzen sich zu einer stimulierenden Gesamtschau. In ihr fehlen Gedichte und Dramen, was dem Zeitgeist entspricht, aber bedauerlich ist (Michèle Métail etwa hat auch Berlin-Gedichte verfasst). Schließlich hätte ab und an die leichte Muse tanzen dürfen, mit Olivier Guez' Schelmenroman "Koskas und die Wirren der Liebe" etwa. Doch das sind marginale Monita. So belebend Deutschland auf die französischsprachige Literatur wirkt, so informativ ist diese fürs deutsche Publikum. Schließlich mahnen beide Bände diskret: Das politische Erstarken des rechten Randes in Deutschland beunruhigt viele Autoren; auch das sollten wir hören.
NIKLAS BENDER
Dorothee Risse und Margarete Zimmermann (Hrsg.): "Berlin bewegt sich schneller, als ich schreibe". Das Neue Berlin aus französischer Sicht. Eine Anthologie.
Kadmos Verlag, Berlin 2020. 208 S., br., 19,90 [Euro].
Cornelia Ruhe (Hrsg.): "Entre indétermination et surdétermination". L'Allemagne vue par des écrivains francophones contemporains.
Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2019. 106 S., br., 26,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zwei Anthologien tragen französische Blicke auf Deutschland und die deutsche Literatur zusammen
Es ist eine zwiespältige Sache, wenn derzeit gern die Metapher des ergrauten Ehepaars bemüht wird, um die deutsch-französischen Beziehungen zu beschreiben. Einerseits gibt es eine gesunde Routine der Kooperation, sei es auf institutioneller oder persönlicher Ebene, etwa in der universitären Zusammenarbeit. Andererseits hat sich Desinteresse breitgemacht, das eben nicht nur Ausdruck von Normalität ist. Das belegt die deutsch-französische Politik, die seit Emmanuel Macrons Antritt keinen guten Eindruck macht, mehr noch aber das Verhalten der Bevölkerung in der Covid-19-Krise: Die fast vergessenen Landesgrenzen waren zu deren Beginn im Nu wieder sichtbar, weil fest geschlossen, und in Einzelfällen von Baden bis ins Saarland wurden Nachbarn angefeindet; da halfen auch später bereitgestellte deutsche Krankenhausbetten nicht.
In diese Situation bringt die Literatur wohltuenden, belebenden Wind: Zwei Bände versammeln die Stimmen französischer und französischsprachiger Schriftsteller und Intellektuelle zu Berlin und Deutschland. Die inhaltlichen Überschneidungen überwiegen im guten, verstärkenden Sinne, sie bezeugen nicht nur Interesse für und Nähe zu Deutschland. Nein, sie zeigen vor allem die Fruchtbarkeit der Begegnung, und zwar gerade bei hellsichtiger Berücksichtigung von Unterschieden. Unter diesen Bedingungen kann der Blick unserer Nachbarn der Selbsterklärung dienen - angesichts eines Dialogs, der zwischen Empfangskonversation, Schweigen und Geschimpfe zu versanden droht.
Der von Dorothee Risse und Margarete Zimmermann herausgegebene Band "Berlin bewegt sich schneller, als ich schreibe - Das Neue Berlin aus französischer Sicht" ist trotz des engeren Fokus der umfangreichere; er versammelt 29 Texte von 22 Autorinnen und Autoren. Die meisten davon sind Schriftsteller, darunter für das Berlin-Thema einschlägige wie Jean-Yves Cendrey, Marie NDiaye und Cécile Wajsbrot, es befinden sich jedoch auch die Fotografen Serge Mouraret und Annaëlle Vanel, die Soziologin Régine Robin sowie die Philosophen Michaël Foessel und Edgar Morin darunter. Gruppiert sind die erzählerischen oder essayistischen Aufsätze in fünf thematische Abschnitte, die vom Ankommen, den Orten, der Lebensqualität sowie der Vergangenheit Berlins sprechen und schließlich erkunden, inwiefern die Stadt ein Zufluchtsort sein kann; ergänzt werden sie durch schöne Fotografien.
Was erfahren wir da über die deutsche Hauptstadt? Die übliche Überraschung bei der Ankunft und ersten Erkundung: die "klobige Anhäufung" des ICC am westlichen Rand (Christian Pringent), die Weitläufigkeit der Anlage, das lose Stadtgefüge: "Groß, leer, die Straßen so breit wie gestrandete Wale" (Julien Santoni). Man merkt diesen Beobachtungen an, was Éric Faye schon 1989 festhält: "Denn ich war mit einigen sehr festen Vorstellungen angekommen, unzerstörbarer als die Mauer." Da wären Stereotype wie das graue Ost-Berlin, die andauernde Hässlichkeit der Stadt, ihr komplexes Verhältnis zur Vergangenheit, ihr enormes Kreativitätspotential - und so Banales wie die langen dunklen Winter.
Viele der Texte zeichnet ein differenziertes Nachdenken über die eigene Voreingenommenheit aus. Deren Maß ist Paris, eine Stadt, die in scharfem Kontrast zu Berlin steht. Der Unterschied wird meist als belebend wahrgenommen: Die französische Kapitale ist den Reisenden zu eng geworden, zu statisch, zu bürgerlich, zu museal. Dass es so viele an der Fremde interessierte frankophone Autoren gibt, ist nicht neu, es genügt, sich die Reiseliteratur des neunzehnten Jahrhunderts anzusehen (in der Berlin keine große Rolle spielt). Neu ist, dass die nationale Selbstsicherheit vergangen ist, dass ernsthaft neue Modelle oder gar ein anderes Leben gesucht werden, was eine Offenheit des Blicks mit sich bringt. Die Anthologie bestätigt den Leseeindruck der vergangenen Jahre: Für viele französische Autoren ist Saint-Germain-des-Prés nicht länger der Nabel der Welt.
Daher finden sich - manchen Klischees zum Trotz, die zu thematischen Anthologien fast zwangsläufig gehören - viele treffende Überlegungen. Foessel stellt die Frage nach der sozialen Durchmischung und hält fest: "Im Vergleich zu Paris ist Berlin eine egalitärere, doch weniger durchmischte Stadt." Im Nachdenken über die Frage, ob Berlin eine Stadt der Vergangenheit oder der Zukunft sei, schließt Pringent auf ein Drittes, "eine Stadt im Konditional der Vergangenheit: In Berlin sieht man vor allem, was man hätte sehen können, sehen wollen, gern gesehen hätte und was man nicht mehr sieht." Treffende Szenen kommen hinzu, Bekanntes - die herrliche FKK-Sequenz am Halensee in Jean-Philippe Toussaints "Fernsehen" (1997) - und weniger Erwartbares, etwa in "Berlin trafic" (2008) von Santoni, einem Roman, der vom Ankommen eines Schauspielers in der Stadt berichtet. Auch die Reaktionen der Reisenden können verblüffen, etwa wenn Mouraret eine französische Liebhaberattitüde auf dieses spezielle Objekt anwendet und gesteht, "dem etwas perversen Charme einer Stadt zu erliegen, die zwischen Recycling und Fiktion schwankt und die mich auf jeder Reise mit den verschiedensten Gefühlen erfüllt, so gegensätzlich wie exzessiv".
Die Fülle an sich überrascht kaum, ist mit Zimmermann, der emeritierten Leiterin des Observatoire de l'extrême contemporain, einem Zentrum für frankophone Gegenwartliteratur, doch eine Fachfrau am Werk. Sie und ihre Mitherausgeberin Risse ordnen die Darstellungen im Vorwort thematisch und historisch ein und ziehen eine Summe. Denn die Faszination, die Berlin als Kristallisationsort der Umwälzungen nach 1989 ausstrahlte, ist mit Auslaufen der historischen Dynamik spürbar schwächer geworden. Insofern markiert die Anthologie einen vorläufigen Endpunkt.
Was die Auswahl betrifft, so ist Kritik meist müßig, in Anthologien fehlt immer irgendjemand. Eine Lücke jedoch schmerzt: Dass keine Stimme von "Inculte", der wichtigsten französischen Literaturgruppierung der letzten zwanzig Jahre, spricht, ist ein Manko. Das kompensiert zum Glück die kleine Anthologie, die Cornelia Ruhe, eine deutsche Kennerin französischer Gegenwartsliteratur, für die Zeitschrift "lendemains" zusammengestellt hat: Neben Wajsbrot, die sozusagen die Brücke herstellt, finden sich Jérôme Ferrari, Samy Langeraert, Wilfried N'Sondé, Oliver Rohe und Camille de Toledo (letztere beiden sind "Inculte"-Autoren). Der Band mit dem etwas sperrigen Titel "Zwischen Unbestimmtheit und Überbestimmtheit - Deutschland aus Sicht zeitgenössischer frankophoner Autoren" will ein repräsentatives Panorama entwerfen. Zugänglich ist es nur Lesern mit Sprachkenntnissen, da die Texte nicht übersetzt sind; abermals handelt es sich um Erfahrungsberichte oder Romanauszüge.
Ein wichtiger und spannender Schwerpunkt in Ruhes Auswahl ist das Verhältnis zur Sprache: Das Deutsche galt und gilt in Frankreich als schwierig und elitär, stellt daher die Wahl guter Schüler dar - sogar bei Kindern von Schoa-Überlebenden wie Wajsbrot. Andere, wie Ferrari, schreckt sie trotz seines Interesses für deutsche Philosophen (man denke an "Das Prinzip", seinen Heisenberg-Roman) ab. Oliver Rohe schließlich stellt als in Beirut aufgewachsener Sohn eines deutschen Schauspielers einen Sonderfall dar: Sein Text, ein Auszug aus einem in Arbeit befindlichen autobiographischen Buch, untersucht das Verhältnis zum Vater, der mit dem Erzähler aus Lieblosigkeit nur Englisch spricht; ihm wird so eine nur bruchstückhafte DeutschlandErfahrung zuteil.
Der Zugang zu einem fremden Land erfolgt bei Schriftstellern gern mittels Lektüren. Bleibender Faszinationspunkt ist die deutsche Romantik, die Langeraert, Toledo und Wajsbrot geprägt hat, sowie, eng damit verknüpft, ein Blick, der das Fragmentarische und Vergängliche, das Fortleben der Vergangenheit betont. Dass die freilich nicht immer zur Idealisierung taugt, daran zweifelt keiner der Autoren - eher beschwört Toledo, wie Wajsbrot ein Nachfahre von Schoa-Überlebenden, ein "Kontinuum des Desasters". Er versteht Literatur als Erinnerung und lässt auf Berliner Grund Grimms Märchen, griechische Mythologie und Realgeschichte kollidieren.
Die beiden Anthologien ergänzen sich zu einer stimulierenden Gesamtschau. In ihr fehlen Gedichte und Dramen, was dem Zeitgeist entspricht, aber bedauerlich ist (Michèle Métail etwa hat auch Berlin-Gedichte verfasst). Schließlich hätte ab und an die leichte Muse tanzen dürfen, mit Olivier Guez' Schelmenroman "Koskas und die Wirren der Liebe" etwa. Doch das sind marginale Monita. So belebend Deutschland auf die französischsprachige Literatur wirkt, so informativ ist diese fürs deutsche Publikum. Schließlich mahnen beide Bände diskret: Das politische Erstarken des rechten Randes in Deutschland beunruhigt viele Autoren; auch das sollten wir hören.
NIKLAS BENDER
Dorothee Risse und Margarete Zimmermann (Hrsg.): "Berlin bewegt sich schneller, als ich schreibe". Das Neue Berlin aus französischer Sicht. Eine Anthologie.
Kadmos Verlag, Berlin 2020. 208 S., br., 19,90 [Euro].
Cornelia Ruhe (Hrsg.): "Entre indétermination et surdétermination". L'Allemagne vue par des écrivains francophones contemporains.
Narr Francke Attempto Verlag, Tübingen 2019. 106 S., br., 26,- [Euro].
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