Hanns Zischler über eine Stadt, die so rasend wuchs, so oft zerstört und wiederaufgebaut wurde wie keine andere.Von Havarien, Architekturgeheimnissen, von Spaziergängern wider Willen und von der Eroberung des Grunewalds durch eine Herde WildschweineSeit gut vierzig Jahren bewegt sich Hanns Zischler fast ausschließlich zu Fuß, mit dem Fahrrad oder der S-Bahn durch Berlin. Kein Wunder, dass er einen ganz eigenen Blick auf die Stadt und ihre Geschichte entwickelt hat.Da ist vor allem eine Beobachtung: Zu der Stadt, die einst auf Sand und Sumpf gebaut wurde, gehört seit je eine gewisse Mischung aus Ausdehnungshunger, Größenwahn und Lust an der Selbstzerstörung.Oder wie anders soll man es bezeichnen, wenn den Plänen des Architekten Schinkel fast alle vorhandenen barocken Ensembles Unter den Linden zum Opfer fallen?Oder die Bürogemeinschaft Hitler/Speer und der Germania-Plan: Wäre der Krieg den beiden nicht zuvorgekommen, hätte in ihrem Auftrag die Abrissbirne fast genauso schlimm gewütet.Hanns Zischler entführt seine Leser in ein weniger bekanntes Berlin, wenn er seine Spaziergänge mit denen des Stadtgeografen Friedrich Leyden, der Dichterin Gertrud Kolmar und des Passfälschers Oskar Huth verschränkt und dank der Aufzeichnungen der drei Stadtwanderer ein untergegangenes Berlin aufspürt. Er macht den Geist und die Geschichte der Stadt spürbar, wenn er auf den Teufelsberg im Grunewald wandert, an dessen Erde man nur leicht graben muss, um auf Scherben, Zinkblech und Klinker zu stoßen - Reste von Berliner Mietshäusern. Wer weiß schon, dass im Inneren des Teufelsbergs ein noch viel größeres Geheimnis schlummert?
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2013Es mangelt ihr am Mangel
"Berlin ist zu groß für Berlin", sagt Hanns Zischler, erkennt im Ausdehnungshunger die Abrisslust und hat auch eine charmante Utopie
Wenn man schon so lange in dieser Stadt lebt, ohne dort geboren worden zu sein, wenn man außerdem an mehr als 150 Filmsets erlebt hat, mit welchem Aufwand Welten gebaut werden, um gleich wieder neuen Bauten und Welten Platz zu machen, wenn man also so erfahren, belesen, neugierig und vielseitig ist wie Hanns Zischler, dann können einem Berlin und dessen Geschichte wohl nur als ein großes Paradox erscheinen.
"Berlin ist zu groß für Berlin" hat der Schauspieler-Autor-Übersetzer-Fotograf Zischler, 65, daher sein wunderbares kleines Buch genannt, in dem die Bilder mit den Texten sprechen und vice versa. Und wohin er bei seinen "verstreuten Wahrnehmungen" auch schaut, in die Gründerzeit oder aus dem Fenster der Buslinie 104, in die Tagträume der Kunst oder auf den "Germania"-Wahn der Nazis, auf leicht verwahrloste Parkanlagen oder öffentliche Plätze, welche oft kaum mehr sind als "Straßenzusammenstöße", da zeigt sich ein Muster, mal schwächer, mal ausgeprägter. Es ist der "Ausdehnungshunger" Berlins, welcher Funktion ist für eine "geradezu habituelle Zerstörungslust". Das hat natürlich sehr viel mit Politik zu tun und mit Stadtplanung, mit Architektur und Ideologie, aber eben auch, sagt Zischler, mit Geologie, mit Sand, Schlick, Wasser, Sumpf und Morast in jenem Urstromtal, welches Berlin beherbergt.
Was in den märkischen Sand gesetzt wird, ist halt nicht auf Fels gebaut, aber es ist immerhin reichlich Platz da, was allerdings auch nie ein Segen war. "An Raum war ja nie Mangel, und es war der Mangel, der fehlte", schreibt Zischler seine paradoxen Befunde fort; denn was es an Ausdehnung hat, das fehlt Berlin an urbaner Verdichtung; es ist nicht groß, es ist weitläufig, es hat, verschärft noch durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts, kein Zentrum.
Statt jedoch an diesem Fehlen einer Mitte zu leiden, statt den imaginären Mangel um jeden Preis architektonisch kompensieren zu wollen, sollte die Stadt sich mit ihrem "Polyzentrismus" anfreunden. Dem Stadtwanderer Zischler, der am liebsten zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs ist, geht es dabei nicht um hochfliegende Masterpläne oder urbanistische Großtheorien, sondern ums Gelingen im Detail; das kann das Neue Museum sein oder der Gleisdreieckpark. Entscheidend ist die Abkehr vom Willen zur Größe, der historisch sowieso meist ins Pathologische wucherte: zur Megalomanie, zur Monstrosität.
Und damit meint Zischler nicht bloß die brutale Nord-Süd-Achse in Hitlers "Germania"-Plänen, zu welcher der Flughafen Tempelhof gepasst hätte wie ein "Faustschlag", der von der Seite kommt. Der Alexanderplatz ist Zischler ein "Leistenbruch" im Stadtkörper; alle energischen Verdichtungsversuche sind seit Mies van der Rohes Entwurf aus dem Jahr 1928 am jeweiligen Status quo abgeprallt - wobei die Krankheitsmetapher immerhin auf Heilbarkeit deutet, auf die beim Fernsehturm längst keine Hoffnung mehr besteht. Heilung könnte liegen in einer Ostanbindung des Platzes an die nicht weit entfernte Frankfurter Allee, deren Bebauung durch die DDR-Moderne der fünfziger Jahre für Zischler eines der wenigen Exemplare geglückter Monumentalisierung ist.
Natürlich ist ihm auch das Investoren-Lego der zahllosen Bürohäuser, die keiner braucht, ein Greuel, oder die steinernen Imponiergesten am Potsdamer Platz, und fast wehmütig erinnert er an den Entwurf des portugiesischen Architekten Álvaro Siza aus den frühen achtziger Jahren, in dem sich das Areal um Kulturforum, Philharmonie und Staatsbibliothek in ein Forum verwandelte, das diesen Namen verdiente, autofrei und großzügig.
Aber Zischler bleibt, und das ist angesichts seiner Generaldiagnose nur konsequent, zurückhaltend. Er arrangiert behutsam die Ergebnisse seiner Beobachtungen aus mehr als vier Jahrzehnten, und weil seine Neugier entschieden größer ist als das Interesse an einem Konzept, weil er lieber staunt über die merkwürdigen, entlegenen Spuren aus dem Gestern, als dass er sie zugunsten eines vermeintlichen Morgen tilgen wollte, sind seine Vorschläge und Überlegungen moderat und von utopischem Charme.
Moderat, weil sie für "Verdichtung" statt Ausdehnung und Abriss plädieren, für "Mieterschutz in den Kernbereichen, massive Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs und eine Garantie für den Erhalt zweckfreier Räume"; utopisch charmant, weil Zischler sich fürs Tempelhofer Feld den ungebauten Turm des russischen Künstlers Wladimir Tatlin aus dem Jahr 1920 wünscht (und ihn in einer Computersimulation dort auch schon mal hat errichten lassen): 400 Meter hoch, eine Art Astrolabium aus Stahl, "eine ironische, eine erhabene und erhebende Pointe". Man wird ihn nicht bauen, das weiß Hanns Zischler natürlich auch - aber nur mal mit diesem Gedanken zu spielen, das würde die Köpfe ganzer Stadtentwicklungsbehörden durchlüften.
PETER KÖRTE
Hanns Zischler: "Berlin ist zu groß für Berlin". Galiani Berlin, 176 Seiten, 24,99 Euro
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Berlin ist zu groß für Berlin", sagt Hanns Zischler, erkennt im Ausdehnungshunger die Abrisslust und hat auch eine charmante Utopie
Wenn man schon so lange in dieser Stadt lebt, ohne dort geboren worden zu sein, wenn man außerdem an mehr als 150 Filmsets erlebt hat, mit welchem Aufwand Welten gebaut werden, um gleich wieder neuen Bauten und Welten Platz zu machen, wenn man also so erfahren, belesen, neugierig und vielseitig ist wie Hanns Zischler, dann können einem Berlin und dessen Geschichte wohl nur als ein großes Paradox erscheinen.
"Berlin ist zu groß für Berlin" hat der Schauspieler-Autor-Übersetzer-Fotograf Zischler, 65, daher sein wunderbares kleines Buch genannt, in dem die Bilder mit den Texten sprechen und vice versa. Und wohin er bei seinen "verstreuten Wahrnehmungen" auch schaut, in die Gründerzeit oder aus dem Fenster der Buslinie 104, in die Tagträume der Kunst oder auf den "Germania"-Wahn der Nazis, auf leicht verwahrloste Parkanlagen oder öffentliche Plätze, welche oft kaum mehr sind als "Straßenzusammenstöße", da zeigt sich ein Muster, mal schwächer, mal ausgeprägter. Es ist der "Ausdehnungshunger" Berlins, welcher Funktion ist für eine "geradezu habituelle Zerstörungslust". Das hat natürlich sehr viel mit Politik zu tun und mit Stadtplanung, mit Architektur und Ideologie, aber eben auch, sagt Zischler, mit Geologie, mit Sand, Schlick, Wasser, Sumpf und Morast in jenem Urstromtal, welches Berlin beherbergt.
Was in den märkischen Sand gesetzt wird, ist halt nicht auf Fels gebaut, aber es ist immerhin reichlich Platz da, was allerdings auch nie ein Segen war. "An Raum war ja nie Mangel, und es war der Mangel, der fehlte", schreibt Zischler seine paradoxen Befunde fort; denn was es an Ausdehnung hat, das fehlt Berlin an urbaner Verdichtung; es ist nicht groß, es ist weitläufig, es hat, verschärft noch durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts, kein Zentrum.
Statt jedoch an diesem Fehlen einer Mitte zu leiden, statt den imaginären Mangel um jeden Preis architektonisch kompensieren zu wollen, sollte die Stadt sich mit ihrem "Polyzentrismus" anfreunden. Dem Stadtwanderer Zischler, der am liebsten zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs ist, geht es dabei nicht um hochfliegende Masterpläne oder urbanistische Großtheorien, sondern ums Gelingen im Detail; das kann das Neue Museum sein oder der Gleisdreieckpark. Entscheidend ist die Abkehr vom Willen zur Größe, der historisch sowieso meist ins Pathologische wucherte: zur Megalomanie, zur Monstrosität.
Und damit meint Zischler nicht bloß die brutale Nord-Süd-Achse in Hitlers "Germania"-Plänen, zu welcher der Flughafen Tempelhof gepasst hätte wie ein "Faustschlag", der von der Seite kommt. Der Alexanderplatz ist Zischler ein "Leistenbruch" im Stadtkörper; alle energischen Verdichtungsversuche sind seit Mies van der Rohes Entwurf aus dem Jahr 1928 am jeweiligen Status quo abgeprallt - wobei die Krankheitsmetapher immerhin auf Heilbarkeit deutet, auf die beim Fernsehturm längst keine Hoffnung mehr besteht. Heilung könnte liegen in einer Ostanbindung des Platzes an die nicht weit entfernte Frankfurter Allee, deren Bebauung durch die DDR-Moderne der fünfziger Jahre für Zischler eines der wenigen Exemplare geglückter Monumentalisierung ist.
Natürlich ist ihm auch das Investoren-Lego der zahllosen Bürohäuser, die keiner braucht, ein Greuel, oder die steinernen Imponiergesten am Potsdamer Platz, und fast wehmütig erinnert er an den Entwurf des portugiesischen Architekten Álvaro Siza aus den frühen achtziger Jahren, in dem sich das Areal um Kulturforum, Philharmonie und Staatsbibliothek in ein Forum verwandelte, das diesen Namen verdiente, autofrei und großzügig.
Aber Zischler bleibt, und das ist angesichts seiner Generaldiagnose nur konsequent, zurückhaltend. Er arrangiert behutsam die Ergebnisse seiner Beobachtungen aus mehr als vier Jahrzehnten, und weil seine Neugier entschieden größer ist als das Interesse an einem Konzept, weil er lieber staunt über die merkwürdigen, entlegenen Spuren aus dem Gestern, als dass er sie zugunsten eines vermeintlichen Morgen tilgen wollte, sind seine Vorschläge und Überlegungen moderat und von utopischem Charme.
Moderat, weil sie für "Verdichtung" statt Ausdehnung und Abriss plädieren, für "Mieterschutz in den Kernbereichen, massive Stärkung des öffentlichen Nahverkehrs und eine Garantie für den Erhalt zweckfreier Räume"; utopisch charmant, weil Zischler sich fürs Tempelhofer Feld den ungebauten Turm des russischen Künstlers Wladimir Tatlin aus dem Jahr 1920 wünscht (und ihn in einer Computersimulation dort auch schon mal hat errichten lassen): 400 Meter hoch, eine Art Astrolabium aus Stahl, "eine ironische, eine erhabene und erhebende Pointe". Man wird ihn nicht bauen, das weiß Hanns Zischler natürlich auch - aber nur mal mit diesem Gedanken zu spielen, das würde die Köpfe ganzer Stadtentwicklungsbehörden durchlüften.
PETER KÖRTE
Hanns Zischler: "Berlin ist zu groß für Berlin". Galiani Berlin, 176 Seiten, 24,99 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Eine Berliner Konstante ist Gustav Seibt bei der Lektüre von Hanns Zischlers "Berlin ist zu groß für Berlin" aufgegangen: Berlin hatte schon immer die "dümmsten Planer und die intelligentesten Essayisten". Wenigstens Zischler ist ein Paradebeispiel der letzteren Gattung, ist Seibt sich sicher. In dem bildreichen Band schildert der Autor aber nicht nur das flanierend Erkundete, sondern lässt sich von ihm zu allerlei Gedanken und Exkursen anstacheln, über die Spuren der Eiszeit ebenso wie über Berliner Kinderspiele kurz nach dem Zweiten Weltkrieg oder die "berlinische Sprachgeschichte" der jüdischen Sprachwissenschaftlerin Agathe Lasch, die 1923 als erste Frau einen Lehrstuhl für Germanistik in Hamburg erhalten hatte, bevor sie 1942 nach Riga deportiert und ermordet wurde, berichtet der Rezensent. Mit "lakonischer Beiläufigkeit" lässt Zischler immer wieder kleine, persönliche Geschichten einfließen und verstärkt sie häufig noch durch Fotografien, Briefe und andere Fundstücke, erklärt Seibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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