Menschen, die schrill oder still in einem eigenen Zirkel leben, geprägt von Kühle, Wagemut, Ironie, Ungebundenheit: Weiber, Schlampen, Zauberinnen, Amokläuferinnen. Alle haben eine unverwüstliche Energie, die sich mal zäh, mal wütend durchsetzt: Gegen den Pfusch des Finanzamts, gegen miese Geldgeber, gegen den Sächsischen Schwan, der Papier in die Sowjetunion verschob, gegen den Immobilien-Lackel, der mit seiner maoistischen Vergangenheit kokettiert. Verbündete gibt es auch: Eddy die Neunzigjährige, die dem Kommunismus abgeschworen hat und zwei Leidenschaften pflegt: junge Frauen und napoleonische Schlachten. Oder Orwell, Bier- und Fußballfreak, der seine Chefin schon mal Göttin nennen darf, weil er die Drecksarbeit macht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.02.1998In Tempelhof wird alles gut
Zum Steinerweichen: Pieke Biermann bleibt West-Berlin treu
Berlin 1994: Stunde Null, die Alliierten ziehen ab, aus einer Stadt zwischen Agonie und Aufbruch - genau das urbane Labyrinth, mag sich Pieke Biermann gedacht haben, wo es Romanstoffe wie Blätter von den Bäumen regnet. Ihr Roman "Vier, Fünf, Sechs" setzt das von Vereinigungsproblemen gequälte Berlin als Inbegriff der Überkomplexität in Szene, als gefräßigen Moloch, von dem freilich die Autorin alsbald selbst verschlungen wird. Es handelt sich dabei nicht um eine weitere Variante der postmodernen Saga vom Verschwinden des (Autor-)Subjekts im (Großstadt-)Text. Hautnah lernen wir vielmehr das harte, aber unfreiwillige Berufsschicksal einer Schriftstellerin kennen, die vom Wirbel der "Schneekugel" - das ist Biermanns nicht gerade urbane Metapher für Berlins west-östlichen Schwebezustand - selbst mit fortgerissen wird.
Mafiose Profiteure der neuen Gründerzeit sind schuld daran, daß der Mord an Wigbert Lüsebringk, der durch eine ferngezündete Bombe auf dem Flughafen Tempelhof in die Luft gesprengt wird, ungeklärt bleibt. Der eigentliche Grund dafür ist aber die Absicht der zweimal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichneten Autorin, das bislang so erfolgreich betriebene Genre des Kriminalromans hintanzustellen. Das Attentat, das sich schnell als Fall von Vereinigungskriminalität entpuppt, ist nur der Notnagel, an dem ein Sittenbild pluraler Berliner Lebensstile aufgehängt werden soll. Um Kriminalfall, Zeitgeschichte, Wendeproblematik, Großstadtdynamik, Lebensschicksale unter den Hut eines sozialkritischen Unterhaltungsromans zu bringen, wählt Biermann den topographischen Weg. Auf dem in der Nähe des Polizeipräsidiums liegenden Flughafen Tempelhof kreuzen sich immer wieder die Wege der mehr oder weniger zwielichtigen Personen wie die ihrer Verfolger. Zugleich symbolisiert die nationalsozialistische Monumentalarchitektur des bis zur Wende hauptsächlich von der amerikanischen Luftwaffe genutzten Flughafens auch die dramatische Berliner Zeitgeschichte. Weil Tempelhof Erinnerungen an die Bombennächte des Zweiten Weltkrieges, die Luftbrücke, den Kalten Krieg weckt, soll dieser "verrückte Ort" so etwas wie das begehbare kollektive Unbewußte Berlins sein.
Freilich, auch ein Roman superlight entsteht nicht im Handumdrehen. Biermanns Idee, den Mord zur Nebensache zu erklären, läßt den Fall weitgehend Fall und die Spannung Spannung sein. Das an die Stelle konturierter Protagonisten tretende Gewimmel gleichberechtigter Figuren führt jedoch auch nicht zur erstrebten zeithistorischen Momentaufnahme, in der Berlin die Hauptrolle spielt. Wo ein James Ellroy dem Leser mit abgründigen Täterpsychologien die moralischen Standbeine wegschlägt oder ein Armistead Maupin mit seinen Stadtgeschichten aus San Francisco hinreißende Kultursoziologie mit literarischen Mitteln schreibt, waltet bei Pieke Biermann die schiere Treuherzigkeit. Sie ist auf dem Humus mentaler Altlasten gewachsen. Der Roman versucht vergeblich, die von inneren Widersprüchen und harten Ernüchterungen geprägte Dissensgesellschaft des wiedervereinigten Berlin im Geist der realitätsarmen Konsensgesellschaft des guten alten West-Berlin vorzuführen, zu dessen linksalternativem Milieu die Autorin seit langem gehört. Also frönen die Romanfiguren einem seinerzeit geübten Hauptvergnügen: Sie reden, plaudern, schwätzen bis zum Steinerweichen. Berlinisch und Sächsisch wechseln im Duett, von Franzosen, Balten und Russen geradebrechtes Deutsch spendet die Dreingaben. Dieses babylonische Sprachgewirr, dessen lautsprachliche Wiedergabe zu entziffern viel Geduld verlangt, soll die spannungsreiche kulturelle und ethnische Vielfalt des neuen Berlin bezeugen. Den Realitätsgehalt des Romans steigert diese beflissene Mimikry der Sprachen jedoch kaum.
Die Erklärung für die eigentümliche Anämie des turbulenten Romans liefert ein Erzählband der Autorin mit dem ebenso ambitionierten wie inhaltsleeren Titel "Berlin, Kabbala". Die Treuherzigkeit, mit der Pieke Biermann Zwietracht stets als verkappte Eintracht darstellt, erweist sich darin als Konsequenz des romantischen Glaubens, Multiethnizität sei im Kern friedliche Symbiose. Der Roman "Vier, Fünf, Sechs" setzt diesen Kinderglauben in einen gleichmacherischen Szenejargon um, in dem die Dunkelmänner wie all die KommissarInnen mit ihren politisch und feministisch korrekten heterosexuellen, schwulen und lesbischen Beziehungskisten ihre "Schdories" erzählen. Solche Selbstbezüglichkeit weiß vom anonymen Leser nichts, sie ist an ihresgleichen adressiert, an das Milieu der West-Berliner Kiezhocker. In dem "Credits" genannten Abspann ihres Romans bedankt sich die Autorin denn auch bei diversen Ratgebern mit nostalgieverdächtigem, an die seligen Zeiten der späten achtziger Jahre erinnerndem "Schappoh & Schämpehn". "Berlin, Kabbala" gibt allenfalls durch Abkürzungen Rätsel auf - DGST, NAW, RFW, Sony-Dat -, mit denen sich die Autorin in ihre Welt rund um den Olivaer Platz einspinnt. Verruchtheit, Tragik, Verbrechen sind auch hier nur der Vorwand für Milieuschutz mit literarischen Mitteln. "Liebling Kreuzberg" ist da schon seit Jahren weiter. THOMAS MEDICUS
Pieke Biermann: "Vier, Fünf, Sechs". Roman. Manhattan by Goldmann, München 1997. 255 S., br., 18,- DM.
Pieke Biermann: "Berlin, Kabbala". Short Stories. Transit Buchverlag, Berlin 1997. 142 S., geb., 28,- DM.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Zum Steinerweichen: Pieke Biermann bleibt West-Berlin treu
Berlin 1994: Stunde Null, die Alliierten ziehen ab, aus einer Stadt zwischen Agonie und Aufbruch - genau das urbane Labyrinth, mag sich Pieke Biermann gedacht haben, wo es Romanstoffe wie Blätter von den Bäumen regnet. Ihr Roman "Vier, Fünf, Sechs" setzt das von Vereinigungsproblemen gequälte Berlin als Inbegriff der Überkomplexität in Szene, als gefräßigen Moloch, von dem freilich die Autorin alsbald selbst verschlungen wird. Es handelt sich dabei nicht um eine weitere Variante der postmodernen Saga vom Verschwinden des (Autor-)Subjekts im (Großstadt-)Text. Hautnah lernen wir vielmehr das harte, aber unfreiwillige Berufsschicksal einer Schriftstellerin kennen, die vom Wirbel der "Schneekugel" - das ist Biermanns nicht gerade urbane Metapher für Berlins west-östlichen Schwebezustand - selbst mit fortgerissen wird.
Mafiose Profiteure der neuen Gründerzeit sind schuld daran, daß der Mord an Wigbert Lüsebringk, der durch eine ferngezündete Bombe auf dem Flughafen Tempelhof in die Luft gesprengt wird, ungeklärt bleibt. Der eigentliche Grund dafür ist aber die Absicht der zweimal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichneten Autorin, das bislang so erfolgreich betriebene Genre des Kriminalromans hintanzustellen. Das Attentat, das sich schnell als Fall von Vereinigungskriminalität entpuppt, ist nur der Notnagel, an dem ein Sittenbild pluraler Berliner Lebensstile aufgehängt werden soll. Um Kriminalfall, Zeitgeschichte, Wendeproblematik, Großstadtdynamik, Lebensschicksale unter den Hut eines sozialkritischen Unterhaltungsromans zu bringen, wählt Biermann den topographischen Weg. Auf dem in der Nähe des Polizeipräsidiums liegenden Flughafen Tempelhof kreuzen sich immer wieder die Wege der mehr oder weniger zwielichtigen Personen wie die ihrer Verfolger. Zugleich symbolisiert die nationalsozialistische Monumentalarchitektur des bis zur Wende hauptsächlich von der amerikanischen Luftwaffe genutzten Flughafens auch die dramatische Berliner Zeitgeschichte. Weil Tempelhof Erinnerungen an die Bombennächte des Zweiten Weltkrieges, die Luftbrücke, den Kalten Krieg weckt, soll dieser "verrückte Ort" so etwas wie das begehbare kollektive Unbewußte Berlins sein.
Freilich, auch ein Roman superlight entsteht nicht im Handumdrehen. Biermanns Idee, den Mord zur Nebensache zu erklären, läßt den Fall weitgehend Fall und die Spannung Spannung sein. Das an die Stelle konturierter Protagonisten tretende Gewimmel gleichberechtigter Figuren führt jedoch auch nicht zur erstrebten zeithistorischen Momentaufnahme, in der Berlin die Hauptrolle spielt. Wo ein James Ellroy dem Leser mit abgründigen Täterpsychologien die moralischen Standbeine wegschlägt oder ein Armistead Maupin mit seinen Stadtgeschichten aus San Francisco hinreißende Kultursoziologie mit literarischen Mitteln schreibt, waltet bei Pieke Biermann die schiere Treuherzigkeit. Sie ist auf dem Humus mentaler Altlasten gewachsen. Der Roman versucht vergeblich, die von inneren Widersprüchen und harten Ernüchterungen geprägte Dissensgesellschaft des wiedervereinigten Berlin im Geist der realitätsarmen Konsensgesellschaft des guten alten West-Berlin vorzuführen, zu dessen linksalternativem Milieu die Autorin seit langem gehört. Also frönen die Romanfiguren einem seinerzeit geübten Hauptvergnügen: Sie reden, plaudern, schwätzen bis zum Steinerweichen. Berlinisch und Sächsisch wechseln im Duett, von Franzosen, Balten und Russen geradebrechtes Deutsch spendet die Dreingaben. Dieses babylonische Sprachgewirr, dessen lautsprachliche Wiedergabe zu entziffern viel Geduld verlangt, soll die spannungsreiche kulturelle und ethnische Vielfalt des neuen Berlin bezeugen. Den Realitätsgehalt des Romans steigert diese beflissene Mimikry der Sprachen jedoch kaum.
Die Erklärung für die eigentümliche Anämie des turbulenten Romans liefert ein Erzählband der Autorin mit dem ebenso ambitionierten wie inhaltsleeren Titel "Berlin, Kabbala". Die Treuherzigkeit, mit der Pieke Biermann Zwietracht stets als verkappte Eintracht darstellt, erweist sich darin als Konsequenz des romantischen Glaubens, Multiethnizität sei im Kern friedliche Symbiose. Der Roman "Vier, Fünf, Sechs" setzt diesen Kinderglauben in einen gleichmacherischen Szenejargon um, in dem die Dunkelmänner wie all die KommissarInnen mit ihren politisch und feministisch korrekten heterosexuellen, schwulen und lesbischen Beziehungskisten ihre "Schdories" erzählen. Solche Selbstbezüglichkeit weiß vom anonymen Leser nichts, sie ist an ihresgleichen adressiert, an das Milieu der West-Berliner Kiezhocker. In dem "Credits" genannten Abspann ihres Romans bedankt sich die Autorin denn auch bei diversen Ratgebern mit nostalgieverdächtigem, an die seligen Zeiten der späten achtziger Jahre erinnerndem "Schappoh & Schämpehn". "Berlin, Kabbala" gibt allenfalls durch Abkürzungen Rätsel auf - DGST, NAW, RFW, Sony-Dat -, mit denen sich die Autorin in ihre Welt rund um den Olivaer Platz einspinnt. Verruchtheit, Tragik, Verbrechen sind auch hier nur der Vorwand für Milieuschutz mit literarischen Mitteln. "Liebling Kreuzberg" ist da schon seit Jahren weiter. THOMAS MEDICUS
Pieke Biermann: "Vier, Fünf, Sechs". Roman. Manhattan by Goldmann, München 1997. 255 S., br., 18,- DM.
Pieke Biermann: "Berlin, Kabbala". Short Stories. Transit Buchverlag, Berlin 1997. 142 S., geb., 28,- DM.
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