"Aus einem kaukasischen Städtchen über Leningrad bis nach Berlin führt das grandiose Roman-Debüt von Nellja Veremej, das seine geographischen und kulturellen Motive schon im Titel trägt. "Berlin liegt im Osten" heißt das Buch, in dem von den städtischen Enklaven russischer Migranten ebenso farbig erzählt wird wie von Provinzkindheiten in der ehemaligen Sowjetunion. Das Berlin dieses Romans, der rund um den Alexanderplatz spielt, hat seine Reservate der Einsamkeit und der Lebensfreude, und es wird durch die unnachahmliche Stimme einer Ich-Erzählerin lebendig, die den nur scheinbar unspektakulären Beruf einer Altenpflegerin ausübt. Durch sie hindurch wandern die Lebensgeschichten der Klienten und verbinden sich mit ihrer eigenen Biografie. Darin gibt es neben dem aberwitzigen, fast surrealen Osten auch ein Deutschland, in dem diese Frau endgültig anzukommen versucht. "Berlin liegt im Osten" lebt von der zarten Zuneigung der Autorin zu ihren Figuren, der Roman entwirft ein großes Panorama aus Geschichten und Geschichte, und er handelt vom Anfang allen Erzählens: von der Erinnerung."
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.06.2013Wem der Osten noch am Gaumen klebt
Franz Biberkopfs späte Erbin: Das Romandebüt der aus Russland stammenden Nellja Veremej ist eine verzaubernde Liebeserklärung an eine rauhe Stadt.
Auf dem Nachttisch von Herrn Seitz liegt ein zerlesenes Exemplar von "Berlin Alexanderplatz". Sein Vater kommt im Buch als einer der vielen Komparsen vor, er springt mit zwei gelben Paketen im Arm am Rosenthaler Platz von der Tram und hat dabei, wie es bei Döblin mit den Worten des Schupos heißt, "Schwein gehabt mit seine Pakete". Herr Seitz ist auch jenseits von Alfred Döblins Werken ziemlich bildungsfest, er war Journalist bei einer Ostberliner Zeitung, mit Büro in der Karl-Liebknecht-Straße und Blick auf den Alex. Dann kam die Wende und für Herrn Seitz die Frührente. Das ist jetzt fast ein viertel Jahrhundert her, und inzwischen benötigt der ältere Herr Hilfe in den Dingen des täglichen Lebens.
Die bekommt er von Lena, die auch belesen ist, weil sie einst in Leningrad Philologie studiert hat. Ihre Wende hieß Perestroika, der folgten Chaos und die Idee, mit Mann und Tochter nach Deutschland auszuwandern. Schura, ihr Mann, ist ein Hallodri, ein windiger Geschäftemacher, der nach jedem kaufmännischen Flop für Wochen in die Depression absackt. Seit Jahren leben beide getrennt. Längst hat Lena ihre hochfliegenden Träume von Kunst und Kommerz auf den Schultern der begabten Tochter abgelegt, und wie so viele Neuberliner aus fernen Landen die Not in eine Tugend verwandelt. Seit geraumer Zeit pflegt sie die kränkelnden und vergesslichen Rentner der Stadt. Wie einst Döblins Biberkopf, so begleiten wir heute die schöne Mittvierzigerin aus dem Osten ein gutes Jahr durch die urbane Landschaft ihres unbehausten Lebens, von Weihnachten zu Weihnachten, von Hoffnung zu Hoffnung, von Dunkelheit zu Dunkelheit.
Lena und Herr Seitz teilen nicht nur die Liebe zur Kultur des Ostens, der Osten ist auch ein Schatten, den beide wie Adelbert von Chamissos Peter Schlehmil nicht loswerden. Sie haben einen Großteil ihres Lebens unter roten Fahnen verbracht, die Antennen bleiben noch immer nach links gerichtet, auch wenn sie sich alle Mühe geben, sie stets geradezu rücken. "Der Verstand weiß Bescheid, die Seele aber zweifelt und will nicht glauben, dass all die Erfahrungen der untergegangenen Zivilisation nutzlos und lächerlich waren."
In der Torstraße, im einstigen jüdisch geprägten Scheunenviertel, ist Ulf Seitz großgeworden, als ein Kind, das den Vater im Krieg und die Mutter an die Russen, die sie vergewaltigten, verlor. Doch dann schien es aufwärts zu gehen, mit Frau und Sohn lebte er bescheiden und glücklich weiter in jener Torstraßenwohnung, bis das Lebensglück zerbarst wie die ideologische Zukunftsvision. "Go West?" nannte er seine letzte große und ziemlich staatstragende Reportage über DDR-Flüchtlinge im Westen, für die der Konsum zum Tanz ums goldene Kalb geworden war. Wenig später tanzte der ganze Staat kollektiv gen Westen, nur Herr Seitz, so scheint es, ging nicht mit. Geblieben sind ihm die Wohnung und die Erinnerung und eine Unbehaustheit in den neuen Verhältnissen, an die er schließlich auch den Sohn am fernen Hindukusch verliert, jenen Sohn, der wie Lena im sowjetischen Leningrad studiert hatte und dann keinen rechten Fuß fasste in der neuen Zeit.
Aus einer Sprache, die nicht ihre Muttersprache ist, zaubert die 1963 in der Sowjetunion geborene Nellja Veremej eine wundervolle Berlin-Geschichte und einen lebensklugen Wenderoman, eine melancholische Symphonie dieser rauhen Großstadt, die in den vergangenen zwanzig Jahren nahezu die Hälfte ihrer Einwohnerschaft ausgetauscht hat. Es ist ein spätes, reifes Romandebüt, kein Fräuleinwunder- oder Hipster-Buch, eines, das unter den vielen neuen Berlin-Romanen wirklich gefehlt hat, eines, das beim Lesen unter die Haut geht.
Lena wollte immer nach Westen, der Westen aber rückte mit jeder Etappe der Wanderschaft weiter von ihr weg. Im Ural, wo sie geboren wurde, begann er noch gleich hinter den Bergen, vom Nordkaukasus aus betrachtet war Leningrad, das heutige Sankt Petersburg, ein Stück der weiten Welt, und von dort wiederum schien Berlin im gelobten Abendland zu liegen. Jetzt klebt Lena der Osten am Gaumen und an den Sohlen. Im russischen Lebensmittelladen "Heimat" in der Torstraße essen die Neuberliner Salami mit Brot und lästern über Trennkost, deutsche Geschmacksverstärker, das verworrene Schulsystem hierzulande und saure deutsche Heringe, "aber da, wo die Heringe salzig und die Halwa süß ist, wollen wir eigentlich nicht hin. Haben wir dafür Tausende Kilometer zurückgelegt?"
Heimat ist eben eine ziemlich vertrackte Sache, sie ist irgendwie immer da, wo man gerade nicht ist. Mit dem Erfolg und der Liebe verhält es sich in aller Regel ebenso. Ein Arzt aus München kommt mit dem ersten Schnee, doch dann ist alles plötzlich schon wieder ganz anders. Als die Mutter im Kaukasus einsam in einem Krankenhaus stirbt, pflegt Lena die Alten in Berlin. Als sie zurück im Haus ihrer Kindheit einsame Nächte verbringt, fühlt sie sich fremder denn je. Das Leben ist eine Kette von Niederlagen, deren Herausforderung darin besteht, sie in einen wenn auch noch so kleinen Sieg zu verwandeln.
In Nellja Veremejs erstem Roman geht es um Lebenslügen und Selbstbetrug, falsche Hoffnungen und richtige, wenn auch späte Einsichten, um Sehnsucht und darum, wie man das Flüchtige der Städte bewohnt. Berlin, jene Durchgangsstation, wie Joseph Roth es einmal formulierte, in der man aus zwingenden Gründen länger bleibt, bietet dafür wie vor fast hundert Jahren eine grandiose Bühne. Dass dieses Buch bei Jung und Jung, einem in Salzburg und Wien ansässigen Verlag mit großartigem Gespür für literarische Talente, erscheint, ist für das kulturell so selbstbewusst auftrumpfende und protzende Berlin kein Ruhmesblatt. Berlin liegt zwar schon im Osten, aber Wien liegt eben doch noch ein bisschen östlicher.
SABINE BERKING
Nellja Veremej: "Berlin liegt im Osten". Roman.
Jung und Jung, Salzburg und Wien 2013. 315 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Franz Biberkopfs späte Erbin: Das Romandebüt der aus Russland stammenden Nellja Veremej ist eine verzaubernde Liebeserklärung an eine rauhe Stadt.
Auf dem Nachttisch von Herrn Seitz liegt ein zerlesenes Exemplar von "Berlin Alexanderplatz". Sein Vater kommt im Buch als einer der vielen Komparsen vor, er springt mit zwei gelben Paketen im Arm am Rosenthaler Platz von der Tram und hat dabei, wie es bei Döblin mit den Worten des Schupos heißt, "Schwein gehabt mit seine Pakete". Herr Seitz ist auch jenseits von Alfred Döblins Werken ziemlich bildungsfest, er war Journalist bei einer Ostberliner Zeitung, mit Büro in der Karl-Liebknecht-Straße und Blick auf den Alex. Dann kam die Wende und für Herrn Seitz die Frührente. Das ist jetzt fast ein viertel Jahrhundert her, und inzwischen benötigt der ältere Herr Hilfe in den Dingen des täglichen Lebens.
Die bekommt er von Lena, die auch belesen ist, weil sie einst in Leningrad Philologie studiert hat. Ihre Wende hieß Perestroika, der folgten Chaos und die Idee, mit Mann und Tochter nach Deutschland auszuwandern. Schura, ihr Mann, ist ein Hallodri, ein windiger Geschäftemacher, der nach jedem kaufmännischen Flop für Wochen in die Depression absackt. Seit Jahren leben beide getrennt. Längst hat Lena ihre hochfliegenden Träume von Kunst und Kommerz auf den Schultern der begabten Tochter abgelegt, und wie so viele Neuberliner aus fernen Landen die Not in eine Tugend verwandelt. Seit geraumer Zeit pflegt sie die kränkelnden und vergesslichen Rentner der Stadt. Wie einst Döblins Biberkopf, so begleiten wir heute die schöne Mittvierzigerin aus dem Osten ein gutes Jahr durch die urbane Landschaft ihres unbehausten Lebens, von Weihnachten zu Weihnachten, von Hoffnung zu Hoffnung, von Dunkelheit zu Dunkelheit.
Lena und Herr Seitz teilen nicht nur die Liebe zur Kultur des Ostens, der Osten ist auch ein Schatten, den beide wie Adelbert von Chamissos Peter Schlehmil nicht loswerden. Sie haben einen Großteil ihres Lebens unter roten Fahnen verbracht, die Antennen bleiben noch immer nach links gerichtet, auch wenn sie sich alle Mühe geben, sie stets geradezu rücken. "Der Verstand weiß Bescheid, die Seele aber zweifelt und will nicht glauben, dass all die Erfahrungen der untergegangenen Zivilisation nutzlos und lächerlich waren."
In der Torstraße, im einstigen jüdisch geprägten Scheunenviertel, ist Ulf Seitz großgeworden, als ein Kind, das den Vater im Krieg und die Mutter an die Russen, die sie vergewaltigten, verlor. Doch dann schien es aufwärts zu gehen, mit Frau und Sohn lebte er bescheiden und glücklich weiter in jener Torstraßenwohnung, bis das Lebensglück zerbarst wie die ideologische Zukunftsvision. "Go West?" nannte er seine letzte große und ziemlich staatstragende Reportage über DDR-Flüchtlinge im Westen, für die der Konsum zum Tanz ums goldene Kalb geworden war. Wenig später tanzte der ganze Staat kollektiv gen Westen, nur Herr Seitz, so scheint es, ging nicht mit. Geblieben sind ihm die Wohnung und die Erinnerung und eine Unbehaustheit in den neuen Verhältnissen, an die er schließlich auch den Sohn am fernen Hindukusch verliert, jenen Sohn, der wie Lena im sowjetischen Leningrad studiert hatte und dann keinen rechten Fuß fasste in der neuen Zeit.
Aus einer Sprache, die nicht ihre Muttersprache ist, zaubert die 1963 in der Sowjetunion geborene Nellja Veremej eine wundervolle Berlin-Geschichte und einen lebensklugen Wenderoman, eine melancholische Symphonie dieser rauhen Großstadt, die in den vergangenen zwanzig Jahren nahezu die Hälfte ihrer Einwohnerschaft ausgetauscht hat. Es ist ein spätes, reifes Romandebüt, kein Fräuleinwunder- oder Hipster-Buch, eines, das unter den vielen neuen Berlin-Romanen wirklich gefehlt hat, eines, das beim Lesen unter die Haut geht.
Lena wollte immer nach Westen, der Westen aber rückte mit jeder Etappe der Wanderschaft weiter von ihr weg. Im Ural, wo sie geboren wurde, begann er noch gleich hinter den Bergen, vom Nordkaukasus aus betrachtet war Leningrad, das heutige Sankt Petersburg, ein Stück der weiten Welt, und von dort wiederum schien Berlin im gelobten Abendland zu liegen. Jetzt klebt Lena der Osten am Gaumen und an den Sohlen. Im russischen Lebensmittelladen "Heimat" in der Torstraße essen die Neuberliner Salami mit Brot und lästern über Trennkost, deutsche Geschmacksverstärker, das verworrene Schulsystem hierzulande und saure deutsche Heringe, "aber da, wo die Heringe salzig und die Halwa süß ist, wollen wir eigentlich nicht hin. Haben wir dafür Tausende Kilometer zurückgelegt?"
Heimat ist eben eine ziemlich vertrackte Sache, sie ist irgendwie immer da, wo man gerade nicht ist. Mit dem Erfolg und der Liebe verhält es sich in aller Regel ebenso. Ein Arzt aus München kommt mit dem ersten Schnee, doch dann ist alles plötzlich schon wieder ganz anders. Als die Mutter im Kaukasus einsam in einem Krankenhaus stirbt, pflegt Lena die Alten in Berlin. Als sie zurück im Haus ihrer Kindheit einsame Nächte verbringt, fühlt sie sich fremder denn je. Das Leben ist eine Kette von Niederlagen, deren Herausforderung darin besteht, sie in einen wenn auch noch so kleinen Sieg zu verwandeln.
In Nellja Veremejs erstem Roman geht es um Lebenslügen und Selbstbetrug, falsche Hoffnungen und richtige, wenn auch späte Einsichten, um Sehnsucht und darum, wie man das Flüchtige der Städte bewohnt. Berlin, jene Durchgangsstation, wie Joseph Roth es einmal formulierte, in der man aus zwingenden Gründen länger bleibt, bietet dafür wie vor fast hundert Jahren eine grandiose Bühne. Dass dieses Buch bei Jung und Jung, einem in Salzburg und Wien ansässigen Verlag mit großartigem Gespür für literarische Talente, erscheint, ist für das kulturell so selbstbewusst auftrumpfende und protzende Berlin kein Ruhmesblatt. Berlin liegt zwar schon im Osten, aber Wien liegt eben doch noch ein bisschen östlicher.
SABINE BERKING
Nellja Veremej: "Berlin liegt im Osten". Roman.
Jung und Jung, Salzburg und Wien 2013. 315 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Stark beeindruckt zeigt sich Felix Stephan vom erzählerischen Können Nellja Veremejs in ihrem Debütroman. Das einfühlsame Schreibenkönnen über das Private führt er, etwas sozialromantisch vielleicht, auf Veremejs Sozialisation in der UdSSR zurück. Jedenfalls hat er seit Anna Karenina keine Romanfigur derart beglückt und beglückend über deutsches Pflaster schweben sehen wie Veremejs Hauptfigur, die russische Emigrantin und Altenpflegerin Lena, auf den Spuren des goldenen Berlins. Vermittels ihrer Perspektive und einem plaudernden Stil gelingt der Autorin laut Rezensent nicht nur die Beschreibung eines kompletten Emigrantendaseins in wenigen Federstrichen, sondern ebenso das Panorama eines ganzen Jahrhunderts.
© Perlentaucher Medien GmbH
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