Produktdetails
- Verlag: Pahl-Rugenstein Nachfolger
- Seitenzahl: 452
- Deutsch
- Abmessung: 205mm
- Gewicht: 548g
- ISBN-13: 9783891443453
- ISBN-10: 3891443455
- Artikelnr.: 12152090
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2003Posten im Aussterbeetat
Der Historiker Wolfgang Ruge blickt auf seine Leidenszeit als Emigrant und Arbeitsarmist zurück / Von Babette Heusterberg
Wolfgang Ruge, Jahrgang 1917, ist vor allem unter Historikern bekannt. Er gehörte zu den profiliertesten und produktivsten Geschichtswissenschaftlern der DDR: Von 1956 bis zu seiner Emeritierung 1982 war er an der Akademie der Wissenschaften tätig. Untersuchungen zur Geschichte der Weimarer Republik waren der Schwerpunkt seiner Forschungen, so unter anderem die Biographien über Gustav Stresemann, Paul von Hindenburg, Matthias Erzberger und Adolf Hitler, allerdings nur bis zu dessen "Machtergreifung". Das Jahr 1933 war auch im persönlichen Leben Ruges eine Zäsur. Ihr folgten 23 Jahre eines zunächst freiwilligen, dann unfreiwilligen Aufenthaltes in der Sowjetunion. Prägende Jahre, die in der Laudatio der "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" noch zu seinem 70. Geburtstag auf den einen Satz reduziert blieben: "Von den Faschisten in die Emigration gezwungen, studierte er in der Sowjetunion Geschichte."
Die politischen Veränderungen zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts schufen dann die Rahmenbedingungen, daß sich Ruge zunächst als Historiker öffentlich mit dem "Stalinismus. Sackgasse im Labyrinth der Geschichte" (1991) auseinandersetzte. In seinen Memoiren vermittelt er nun eine Vorstellung davon, was es bedeutete, ein Leben als sogenannter Arbeitsarmist im "Truppenteil" der mobilisierten Deutschen in der sowjetischen Verbannung zu führen.
Da die Eltern sich früh trennen und ihr politisches, teilweise konspiratives Engagement die ganze Aufmerksamkeit beansprucht, sind Wolfgang und sein zwei Jahre älterer Bruder Walter Ruge schon frühzeitig zur Selbständigkeit angehalten. Obwohl die gesamte Familie 1933 auf getrennten Wegen in die Sowjetunion emigriert, vermag sie dem heranwachsenden jungen Mann dort nur wenig Halt und Unterstützung zu bieten. Das Verhältnis zur Mutter Charlotte, die gemeinsam mit ihrem Partner Hans Baumgartner ganz in ihrer Arbeit für die Komintern aufzugehen scheint, ist unterkühlt. Die Beziehung zum Vater Erwin leidet unter dem Einfluß seiner neuen Partnerin. Mit dem schon immer als dominierend empfundenen Bruder kommt es schließlich zum Zerwürfnis, als dieser bei aller Wohnungsknappheit in Moskau auch noch das gemeinsame Zimmer der Brüder für sich und seine Geliebte beansprucht und Wolfgang herauswirft.
Der Einzelgänger Wolfgang verbringt die Jahre bis zum Kriegsbeginn 1939 zurückgezogen an der Seite einer älteren Frau, die er 1937 heiratet. In Veronika, die er einige Zeit später beim Studium an einer Erwachsenenuniversität kennenlernt, findet er schließlich eine Partnerin, die seine politischen Interessen teilt. 1940 heiratet er zum zweiten Mal. Obwohl beide sowjetische Staatsbürger sind, werden sie nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Sowjetunion 1941 auf Grund seiner deutschen Abstammung gemeinsam aus Moskau nach Kasachstan ausgewiesen. Resignierend muß er feststellen: "Der Vorzeigesatz: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung steht zwar in den Zeitungen, doch in Wirklichkeit werden die Menschen nach anderen Kriterien eingestuft." Das Verbindende der Menschen auf jenen Transporten ist lediglich ihr deutscher Nachname, der oftmals nur noch als das einzige Erbe längst vergessener Vorfahren getragen wird. Am 9. Januar 1942 trifft dort der Mobilisierungs- beziehungsweise Einberufungsbefehl für alle Deutschen männlichen Geschlechts unter 55 Jahren ein. Damit beginnt seine Odyssee durch verschiedene Arbeitslager, an der auch seine zweite Beziehung zerbrechen wird.
Ehrfurchtsvoll und voller jugendlicher Naivität kommt Ruge 1933 "ins gelobte Land". Die letzten Meter über die finnisch-russische Grenze in die rauhe sowjetische Wirklichkeit aus Schmutz, Armut, Not und voller entwurzelter Menschen legt er zu Fuß zurück. Neben den Sprachkenntnissen fehlt ihm zunächst auch ein erlernter Beruf. Sein "jungkommunistischer Optimismus" brach jedoch nach ersten "Ernüchterungsschocks" nicht zusammen - so wie überhaupt die ständige Reflexion seiner kommunistischen Überzeugungen den Kern seiner Memoiren ausmacht: als die stalinistischen Säuberungen sein privates Umfeld erreichen; als das Land der Oktoberrevolution Verträge mit dem "Dritten Reich" schließt ("Ein Bündnis des Nazichefs mit dem Kreml!") und als er - der vor den Nationalsozialisten geflohene deutsche Kommunist - nun auch im Asyl auf Grund seiner Nationalität gemeinsam mit seiner in Sippenhaft genommenen Ehefrau zum Verfolgten wird. In solchen Momenten stellte er sich immer wieder die Frage, ob er nicht "zwischen liebgewordener Traumwelt und realistischer Wahrnehmung zweigeteilt ist". Aber nur selten plagen ihn innere Zweifel an seinen kommunistischen Idealen.
Als er seine Mutter 1955 wieder trifft, muß er enttäuscht feststellen, daß sie unbequeme Fragen, "ob man sich durch immer größere Ungerechtigkeiten stets weiter von den ursprünglichen Gleichheitsidealen entfernt", grundsätzlich ablehnt. 1956 kann er gemeinsam mit seiner dritten Frau und seinem Sohn endlich die Ausreise nach Deutschland antreten, das heißt dem - auch seiner Familie vorbestimmten - Schicksal eines "Rußlanddeutschen" entfliehen. Das Ziel ist selbstredend die DDR. So wie einst bei der Emigration nach Moskau, so hat er auch bei seiner Rückkehr nach Berlin viele Ideale im Gepäck. Der Aufstieg vom "völlig Rechtlosen zunächst in den Vorhof der Begünstigten und dann, schon in Deutschland, in die Schar der Bevorzugten" läßt ihn jedoch rasch das erlittene Unrecht zwar niemals vergessen, aber doch in den Hintergrund seines Erinnerungsvermögens treten.
Das Verdienst des Buches ist es, zahlreiche Einzelschicksale dem Vergessen und der scheinbaren Bedeutungslosigkeit zu entreißen. Die Personen in Ruges Anekdoten erinnern stellvertretend an all die namenlos gebliebenen Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft. Ein Personenregister verweist nicht nur auf prominente Zeitgenossen. Ruge erzählt auf eindrucksvolle Weise vom brutalen Alltag der auf den "Aussterbeetat" Gesetzten, deren Überleben nicht nur von der täglichen Normerfüllung abhing. Er macht deutlich, wie bereits eine Scheibe Brot über Leben und Tod entscheiden konnte. Er berichtet von eigenen Strategien, unter unvorstellbaren physischen und psychischen Extremsituationen zu überleben, sowie von seiner Sehnsucht, endlich von "Säge und Beil" des Holzfällers loszukommen.
Dankbar und ehrfurchtsvoll besinnt sich der Atheist Ruge immer wieder darauf, wie ihn der Zufall als sein persönliches "Fatum" mehr als einmal vor dem Tod bewahrte. Mit dem Auge des Historikers wiederum analysiert er die Mechanismen, Funktionsweisen und Hierarchien der Lager und stellt diese dar. Dabei wird erschreckend deutlich: Das System förderte bewußt Mißgunst und Mißtrauen unter den Unfreien; Denunziation wurde zu einer festen Größe im Plan der Lagerverwaltung, und selbst schriftliche Verpflichtungen zur Spitzeltätigkeit gehörten zur Routine regelmäßiger NKWD-Verhöre! Zudem sollten auch die turnusmäßigen Verschiebungen der überlebenden Lagerinsassen Freundschaften und Vertrauensverhältnisse bereits im Ansatz ersticken. Einzelne Lager konnten in Abhängigkeit von den jeweiligen persönlichen, nicht selten korrupten Interessen der örtlichen Nomenklatura und weit entfernt von der offiziellen Beschlußlage durchaus auch ein gewisses Eigenleben entwickeln.
Das ersehnte Kriegsende und seine Versetzung in die "Hauptstadt" der vielen Lager, nach Sosswa, brachten zwar schrittweise Erleichterungen im Alltag, aber Ruges Status als Unfreier änderte sich nicht grundlegend. Der vielen Gesuche, Bittschriften und Eingaben offensichtlich müde, schrieb der Ministerrat der Sowjetunion 1948 die vorgenommenen Aussiedlungen für die Ewigkeit fest. So, wie es dem politischen Flüchtling Ruge nicht vergönnt war, an der Seite der Rotarmisten gegen den "Hitlerfaschismus" zu kämpfen, schien auch seine Sehnsucht, am Aufbau eines neuen Deutschland aktiv mitwirken zu dürfen, zunächst ebenfalls unerfüllbar zu bleiben. Unter großen Schwierigkeiten und abenteuerlichen Bedingungen nahm er ein Fernstudium an der Universität Swerdlowsk auf, das er mit dem Diplom als Geschichtslehrer abschloß.
Ruge ist ein guter Beobachter mit Liebe zum Detail. Er beschreibt an seinen unterschiedlichen Stationen Land, Leute, die russische Seele, deren Obrigkeitstreue und natürlich den sprichwörtlichen "russischen Schlendrian". Er erzählt humorvoll, setzt hin und wieder die Schlagworte und Parolen des Systems provozierend ein. Mit seinem Buch werden nicht nur bedeutende Ereignisse der sowjetischen Geschichte aus der Sicht des einzelnen erklärt. Vielmehr erfährt eine weitere, mitunter ausgeblendete und in sich inhomogene Opfergruppe des Zweiten Weltkrieges ihre besondere Würdigung. Der 86 Jahre alte Wolfgang Ruge hat ein sehr persönliches, ehrliches und aufklärendes Buch geschrieben.
Wolfgang Ruge: Berlin - Moskau - Sosswa. Stationen einer Emigration. Pahl-Rugenstein-Verlag, Bonn 2003. 452 Seiten, 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Der Historiker Wolfgang Ruge blickt auf seine Leidenszeit als Emigrant und Arbeitsarmist zurück / Von Babette Heusterberg
Wolfgang Ruge, Jahrgang 1917, ist vor allem unter Historikern bekannt. Er gehörte zu den profiliertesten und produktivsten Geschichtswissenschaftlern der DDR: Von 1956 bis zu seiner Emeritierung 1982 war er an der Akademie der Wissenschaften tätig. Untersuchungen zur Geschichte der Weimarer Republik waren der Schwerpunkt seiner Forschungen, so unter anderem die Biographien über Gustav Stresemann, Paul von Hindenburg, Matthias Erzberger und Adolf Hitler, allerdings nur bis zu dessen "Machtergreifung". Das Jahr 1933 war auch im persönlichen Leben Ruges eine Zäsur. Ihr folgten 23 Jahre eines zunächst freiwilligen, dann unfreiwilligen Aufenthaltes in der Sowjetunion. Prägende Jahre, die in der Laudatio der "Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" noch zu seinem 70. Geburtstag auf den einen Satz reduziert blieben: "Von den Faschisten in die Emigration gezwungen, studierte er in der Sowjetunion Geschichte."
Die politischen Veränderungen zum Ende des zwanzigsten Jahrhunderts schufen dann die Rahmenbedingungen, daß sich Ruge zunächst als Historiker öffentlich mit dem "Stalinismus. Sackgasse im Labyrinth der Geschichte" (1991) auseinandersetzte. In seinen Memoiren vermittelt er nun eine Vorstellung davon, was es bedeutete, ein Leben als sogenannter Arbeitsarmist im "Truppenteil" der mobilisierten Deutschen in der sowjetischen Verbannung zu führen.
Da die Eltern sich früh trennen und ihr politisches, teilweise konspiratives Engagement die ganze Aufmerksamkeit beansprucht, sind Wolfgang und sein zwei Jahre älterer Bruder Walter Ruge schon frühzeitig zur Selbständigkeit angehalten. Obwohl die gesamte Familie 1933 auf getrennten Wegen in die Sowjetunion emigriert, vermag sie dem heranwachsenden jungen Mann dort nur wenig Halt und Unterstützung zu bieten. Das Verhältnis zur Mutter Charlotte, die gemeinsam mit ihrem Partner Hans Baumgartner ganz in ihrer Arbeit für die Komintern aufzugehen scheint, ist unterkühlt. Die Beziehung zum Vater Erwin leidet unter dem Einfluß seiner neuen Partnerin. Mit dem schon immer als dominierend empfundenen Bruder kommt es schließlich zum Zerwürfnis, als dieser bei aller Wohnungsknappheit in Moskau auch noch das gemeinsame Zimmer der Brüder für sich und seine Geliebte beansprucht und Wolfgang herauswirft.
Der Einzelgänger Wolfgang verbringt die Jahre bis zum Kriegsbeginn 1939 zurückgezogen an der Seite einer älteren Frau, die er 1937 heiratet. In Veronika, die er einige Zeit später beim Studium an einer Erwachsenenuniversität kennenlernt, findet er schließlich eine Partnerin, die seine politischen Interessen teilt. 1940 heiratet er zum zweiten Mal. Obwohl beide sowjetische Staatsbürger sind, werden sie nach dem Einmarsch deutscher Truppen in die Sowjetunion 1941 auf Grund seiner deutschen Abstammung gemeinsam aus Moskau nach Kasachstan ausgewiesen. Resignierend muß er feststellen: "Der Vorzeigesatz: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung steht zwar in den Zeitungen, doch in Wirklichkeit werden die Menschen nach anderen Kriterien eingestuft." Das Verbindende der Menschen auf jenen Transporten ist lediglich ihr deutscher Nachname, der oftmals nur noch als das einzige Erbe längst vergessener Vorfahren getragen wird. Am 9. Januar 1942 trifft dort der Mobilisierungs- beziehungsweise Einberufungsbefehl für alle Deutschen männlichen Geschlechts unter 55 Jahren ein. Damit beginnt seine Odyssee durch verschiedene Arbeitslager, an der auch seine zweite Beziehung zerbrechen wird.
Ehrfurchtsvoll und voller jugendlicher Naivität kommt Ruge 1933 "ins gelobte Land". Die letzten Meter über die finnisch-russische Grenze in die rauhe sowjetische Wirklichkeit aus Schmutz, Armut, Not und voller entwurzelter Menschen legt er zu Fuß zurück. Neben den Sprachkenntnissen fehlt ihm zunächst auch ein erlernter Beruf. Sein "jungkommunistischer Optimismus" brach jedoch nach ersten "Ernüchterungsschocks" nicht zusammen - so wie überhaupt die ständige Reflexion seiner kommunistischen Überzeugungen den Kern seiner Memoiren ausmacht: als die stalinistischen Säuberungen sein privates Umfeld erreichen; als das Land der Oktoberrevolution Verträge mit dem "Dritten Reich" schließt ("Ein Bündnis des Nazichefs mit dem Kreml!") und als er - der vor den Nationalsozialisten geflohene deutsche Kommunist - nun auch im Asyl auf Grund seiner Nationalität gemeinsam mit seiner in Sippenhaft genommenen Ehefrau zum Verfolgten wird. In solchen Momenten stellte er sich immer wieder die Frage, ob er nicht "zwischen liebgewordener Traumwelt und realistischer Wahrnehmung zweigeteilt ist". Aber nur selten plagen ihn innere Zweifel an seinen kommunistischen Idealen.
Als er seine Mutter 1955 wieder trifft, muß er enttäuscht feststellen, daß sie unbequeme Fragen, "ob man sich durch immer größere Ungerechtigkeiten stets weiter von den ursprünglichen Gleichheitsidealen entfernt", grundsätzlich ablehnt. 1956 kann er gemeinsam mit seiner dritten Frau und seinem Sohn endlich die Ausreise nach Deutschland antreten, das heißt dem - auch seiner Familie vorbestimmten - Schicksal eines "Rußlanddeutschen" entfliehen. Das Ziel ist selbstredend die DDR. So wie einst bei der Emigration nach Moskau, so hat er auch bei seiner Rückkehr nach Berlin viele Ideale im Gepäck. Der Aufstieg vom "völlig Rechtlosen zunächst in den Vorhof der Begünstigten und dann, schon in Deutschland, in die Schar der Bevorzugten" läßt ihn jedoch rasch das erlittene Unrecht zwar niemals vergessen, aber doch in den Hintergrund seines Erinnerungsvermögens treten.
Das Verdienst des Buches ist es, zahlreiche Einzelschicksale dem Vergessen und der scheinbaren Bedeutungslosigkeit zu entreißen. Die Personen in Ruges Anekdoten erinnern stellvertretend an all die namenlos gebliebenen Opfer der stalinistischen Gewaltherrschaft. Ein Personenregister verweist nicht nur auf prominente Zeitgenossen. Ruge erzählt auf eindrucksvolle Weise vom brutalen Alltag der auf den "Aussterbeetat" Gesetzten, deren Überleben nicht nur von der täglichen Normerfüllung abhing. Er macht deutlich, wie bereits eine Scheibe Brot über Leben und Tod entscheiden konnte. Er berichtet von eigenen Strategien, unter unvorstellbaren physischen und psychischen Extremsituationen zu überleben, sowie von seiner Sehnsucht, endlich von "Säge und Beil" des Holzfällers loszukommen.
Dankbar und ehrfurchtsvoll besinnt sich der Atheist Ruge immer wieder darauf, wie ihn der Zufall als sein persönliches "Fatum" mehr als einmal vor dem Tod bewahrte. Mit dem Auge des Historikers wiederum analysiert er die Mechanismen, Funktionsweisen und Hierarchien der Lager und stellt diese dar. Dabei wird erschreckend deutlich: Das System förderte bewußt Mißgunst und Mißtrauen unter den Unfreien; Denunziation wurde zu einer festen Größe im Plan der Lagerverwaltung, und selbst schriftliche Verpflichtungen zur Spitzeltätigkeit gehörten zur Routine regelmäßiger NKWD-Verhöre! Zudem sollten auch die turnusmäßigen Verschiebungen der überlebenden Lagerinsassen Freundschaften und Vertrauensverhältnisse bereits im Ansatz ersticken. Einzelne Lager konnten in Abhängigkeit von den jeweiligen persönlichen, nicht selten korrupten Interessen der örtlichen Nomenklatura und weit entfernt von der offiziellen Beschlußlage durchaus auch ein gewisses Eigenleben entwickeln.
Das ersehnte Kriegsende und seine Versetzung in die "Hauptstadt" der vielen Lager, nach Sosswa, brachten zwar schrittweise Erleichterungen im Alltag, aber Ruges Status als Unfreier änderte sich nicht grundlegend. Der vielen Gesuche, Bittschriften und Eingaben offensichtlich müde, schrieb der Ministerrat der Sowjetunion 1948 die vorgenommenen Aussiedlungen für die Ewigkeit fest. So, wie es dem politischen Flüchtling Ruge nicht vergönnt war, an der Seite der Rotarmisten gegen den "Hitlerfaschismus" zu kämpfen, schien auch seine Sehnsucht, am Aufbau eines neuen Deutschland aktiv mitwirken zu dürfen, zunächst ebenfalls unerfüllbar zu bleiben. Unter großen Schwierigkeiten und abenteuerlichen Bedingungen nahm er ein Fernstudium an der Universität Swerdlowsk auf, das er mit dem Diplom als Geschichtslehrer abschloß.
Ruge ist ein guter Beobachter mit Liebe zum Detail. Er beschreibt an seinen unterschiedlichen Stationen Land, Leute, die russische Seele, deren Obrigkeitstreue und natürlich den sprichwörtlichen "russischen Schlendrian". Er erzählt humorvoll, setzt hin und wieder die Schlagworte und Parolen des Systems provozierend ein. Mit seinem Buch werden nicht nur bedeutende Ereignisse der sowjetischen Geschichte aus der Sicht des einzelnen erklärt. Vielmehr erfährt eine weitere, mitunter ausgeblendete und in sich inhomogene Opfergruppe des Zweiten Weltkrieges ihre besondere Würdigung. Der 86 Jahre alte Wolfgang Ruge hat ein sehr persönliches, ehrliches und aufklärendes Buch geschrieben.
Wolfgang Ruge: Berlin - Moskau - Sosswa. Stationen einer Emigration. Pahl-Rugenstein-Verlag, Bonn 2003. 452 Seiten, 29,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Sehr lobend bespricht Fritz Klein die Erinnerungen Wolfgang Ruges an sein Exil in der Sowjetunion. Ruge war einer von 6.000 deutschen Antifaschisten, die nach 1933 ins "gelobte Land" des Sozialismus gingen, einer von Tausenden, deren Enthusiasmus an den sowjetischen Realitäten abstumpfte und nach dem sowjetischen Kriegseintritt in sibirischen Lagern erfror. Ein "düsteres Bild" sei es, das Ruge entwerfe, doch zugleich auch ein "farbiges", denn in "anrührend erzählten Episoden" werde nicht allein sein eigener Überlebungskampf, sondern eine "Fülle von Schicksalen" lebendig. Später, berichtet Klein, ging Ruge in die DDR und wurde zu einem wichtigen Historiker und Nationalpreisträger. Wie sich das mit seinen Erfahrungen im großen Bruderland vertrug, darüber hätte Klein gern auch etwas erfahren. Doch das ansonsten gute Buch breche 1956 ab.
© Perlentaucher Medien GmbH
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