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Parvenü der Großstädte, Labor der Moderne, Symbol des zerrissenen 20. Jahrhunderts: In Berlin konzentriert sich nicht nur deutsche, sondern auch europäische Geschichte. Beides hat Jens Bisky im Blick, wenn er die Entwicklung der Stadt seit ihrem Aufstieg zur preußischen Residenz schildert. Berlin war äußerst wandlungsfähig und offen: für die verfolgten französischen Hugenotten und die Denker der Aufklärung unter Hohenzollernherrschaft; später als Metropole der Proletarier und Großindustriellen, der Künstler und Journalisten und als "Place to be" der Goldenen Zwanziger. All das wird bei Bisky…mehr

Produktbeschreibung
Parvenü der Großstädte, Labor der Moderne, Symbol des zerrissenen 20. Jahrhunderts: In Berlin konzentriert sich nicht nur deutsche, sondern auch europäische Geschichte. Beides hat Jens Bisky im Blick, wenn er die Entwicklung der Stadt seit ihrem Aufstieg zur preußischen Residenz schildert. Berlin war äußerst wandlungsfähig und offen: für die verfolgten französischen Hugenotten und die Denker der Aufklärung unter Hohenzollernherrschaft; später als Metropole der Proletarier und Großindustriellen, der Künstler und Journalisten und als "Place to be" der Goldenen Zwanziger. All das wird bei Bisky anschaulich erfahrbar, genauso aber auch die Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und die spannungsgeladene Atmosphäre nach 1945, als sich hier die großen Machtblöcke gegenüberstehen.
Jens Bisky legt eine Gesamtdarstellung der Geschichte Berlins vor, wie es sie seit Jahrzehnten nicht gegeben hat, vom Dreißigjährigen Krieg bis in die Gegenwart. Eine faszinierende Erzählung über Entstehung und Aufstieg, Fall und Neubeginn - und zugleich ein packendes Panorama deutscher wie europäischer Geschichte im Spiegel einer einzigartigen Metropole.
Autorenporträt
Jens Bisky, geboren 1966 in Leipzig, studierte Kulturwissenschaften und Germanistik in Berlin. Er war lange Jahre Feuilletonredakteur der «Süddeutschen Zeitung» und arbeitet seit 2021 am Hamburger Institut für Sozialforschung. Er ist Autor mehrerer viel beachteter Bücher, darunter «Geboren am 13. August» (2004), «Unser König. Friedrich der Große und seine Zeit» (2011) und «Berlin. Biographie einer großen Stadt» (2019). 2017 verlieh ihm die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung den Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2019

Berlin ist ein Gewühl

Ewig jung aus Notwehr: Jens Bisky hat eine monumentale Liebeserklärung an die deutsche Hauptstadt geschrieben.

Der beste Song der inzwischen aufgelösten Berliner Indietronic-Band I Heart Sharks, deren Mitglieder - auch das prototypisch - aus New York, London und Bayern stammten, ist eine Berlin-Hymne, die von Schattentänzen erzählt, von Vernarbungen, bejahten Klischees und Autobahnen, von "Marlene" als Rollenmodell und Selbstermächtigung durch Lebenslust: "und wir machen neue Geschichte". Das traumtanzwütige Stück läuft auf eine Zeile zu, die als Motto und Fluch über der Spree-Metropole stehen könnte: "This is the Neuzeit". Berlin, viel zu jung für das, was die Stadt schon erlebt hat, ist in jeder Hinsicht Neuzeit, historisch, weil es als Hohenzollern-Residenz erst unter dem Großen Kurfürsten im siebzehnten Jahrhundert seinen Aufstieg begann - bis zu Baumeister Johann Gregor Memhardt war die Doppelstadt Berlin-Cölln ein mittelalterliches Nest -, aber auch programmatisch, weil das Tabula-rasa-Machen hier immer zum guten Ton gehört hat. Berlin ist vielleicht auch deshalb so schlecht gealtert, weil Anciennität nirgends sonst so wenig zählt. Jungbleiben aus Notwehr.

Selbstredend ist es unmöglich, ein halbes Jahrtausend Großstadtgeschichte in ein einziges Buch zu packen. Und doch muss man zugeben, dass der Autor und Journalist Jens Bisky mit diesem Vorhaben erstaunlich weit gekommen ist, auch wenn zu jedem Unterkapitel seiner monumentalen Berlin-Biographie ganze Bibliotheken an Quellen- und Forschungsmaterial existieren. Wer ermattet die letzte Seite wendet, hat sich einmal mehr durch die politische und kulturelle Entwicklung nicht nur Berlins, sondern ganz Deutschlands gelesen, schließlich hängt so gut wie alles, was gut und was böse an unserem Land war (oder ist), eng mit Berlin zusammen. Dieses Buch ist ein tausendseitiges Reich der Ideen, Hoffnungen, Freiheiten, Lügen, Tragödien und Verbrechen.

Man hat die Stadt auch danach nicht im Griff, aber man versteht besser, warum sie sich dem Zugriff entzieht. Es hat damit zu tun, dass Berlin, die Zuwandererstadt, mehr geformt wurde als gewachsen ist, was zu einem gestörten Selbstverständnis der Berliner führte, zur "Selbstmystifikation". Dass an der Spree zu den verschiedenen Epochen Stadtbürger und Fürstenuntertanen, jüdische Aufklärer und Antisemiten, Modernisten und Historisten, Kommunisten und Nationalsozialisten, Achtundsechziger und Springer-Leser, Wessis und Ossis miteinander lebten, dürfte dazu beigetragen haben, eher auf die Feier des Moments als auf die Diskurshoheit über die Erinnerung zu setzen. Bisky findet dafür die freundliche Formel "Ort für Individualisten, die gern in Gesellschaft anderer Freigeister leben".

Der Autor geht chronologisch vor, springt im Detail aber vor und zurück, fügt den einander durchkreuzenden stadt-, kultur-, kunst- und mentalitätsgeschichtlichen Linien immer wieder lebensnahe Anekdoten hinzu. Letztere sind meist überraschender als die Überblicksdarstellungen, zeigen uns etwa, wie ein Soldat (Ulrich Bräker) im Siebenjährigen Krieg gefühlt hat oder wie widerspenstig ein - geistlicher, anticalvinistischer - Liedermacher (Paul Gerhardt) schon zu Barockzeiten sein konnte. Überhaupt gibt es hier, schlicht faktisch, sehr viel zu lernen.

Die Lebensgeschichte Berlins stellt sich dabei auch als Geschichte der verpassten Chancen dar. Eine erste Gelegenheit verstrich schon im fünfzehnten Jahrhundert, als innerstädtischer Streit Kurfürst Friedrich II. die Machtübernahme leichtmachte, was verhinderte, dass aus der Vereinigung von Berlin und Cölln eine große Handelsstadt wurde. Unter dem Großen Kurfürsten erfolgte zwei Jahrhunderte später die "Verholländerung", inklusive Aufnahme der französischen Hugenotten-Calvinisten. "Auf lange Sicht profitierte die Stadt", zunächst aber stand man den Neuen fremd gegenüber. Auch die mit dem spendablen ersten Preußenkönig - hier eher positiv gezeichnet - und seinem Baumeister Andreas Schlüter angebrochene Kulturblüte blieb folgenlos. Sein sparsamer, soldatischer Sohn habe mit einer "Kulturrevolution von oben" die "atemberaubende Entwicklung" Berlins abgewürgt.

Friedrich der Große und die Berliner Aufklärung, das erscheint bei Bisky nicht als Traumhochzeit aus Macht und Geist. Der ichbesessene, aggressive Herrscher habe den in "Halbdistanz" bleibenden Neuerern, allen voran der Trias Mendelssohn/Lessing/Nicolai, jedoch genug Freiraum gelassen, um eine "urbane Kultur" samt Journalismus und Geselligkeit zu erschaffen. Sicher nicht ganz gerecht ist das kunstferne Urteil über Heinrich von Kleist, der hier nur als "Kriegstreiber" und pointensicherer Zeitungsmacher gilt. Zu Biskys Helden zählen die von der Reaktion schließlich kaltgestellten, aber nachhaltig wirksamen Reformer Karl August von Hardenberg und Wilhelm von Humboldt, der Staatskanzler und der Universitätsgründer. An Hardenberg fasziniert den Autor nicht zuletzt dessen Einsatz für die Emanzipation der Juden, während sich zeitgleich der Antisemitismus ausbreitete und etwa Achim von Arnims "Freßgesellschaft" kennzeichnete. Fichte, Schleiermacher, Clemens Brentano waren Teil der Tischrunde, Juden aber wurden ausgeschlossen: "Von dieser Klausel zur Akzeptanz der Arierparagraphen des Dritten Reiches führt ein ziemlich gerader Weg." Es sei dann an der Architektur der Schinkel-Schule gewesen, demokratische Ideen wenigstens im Stadtbild wachzuhalten.

Doch die Fehler der Erneuerer wurden immer fataler. Die tapsigen Republikaner vertändelten 1848 die Revolution (und ernteten einen "Polizeistaat"), die Sozialisten ließen im jungen Kaiserreich den Beginn der Wohnungsspekulation zu (das Mietskasernen-Elend begann), in Weimarer Zeit rieben sich SPD und KPD im "Bruderkrieg" auf und machten den Durchmarsch der Nationalsozialisten erst möglich. Zur selben Zeit aber formten Wilhelminismus, die Berliner Moderne und die "Goldenen Zwanziger", was man bis heute unter Berlin versteht. Stadtentwickler wie Johann A. W. Carstenn leisteten "Großartiges" im Wohnungsbau. Es entstand eine technophile, ästhetisch wagemutige, lebenshungrige und tolerante Öffentlichkeit - und ihr Gegenteil. Dieses Zugleich von Eskalation und Glorie, von Kandare und Freiraum (politisch, künstlerisch, sexuell) wird im Buch geradezu greifbar. Dann, auf die Spitze getrieben, kippte die Situation. Die keineswegs importierten Faschisten, wie Bisky gegen falsche Widerstandslegenden betont, zerstörten das Stadtgefüge physisch wie mental.

Berlin blieb danach Krisen- und Frontstadt, aber auch Faszinationsort. Freilich war nun alles in einen Schlummermodus versetzt. Bisky betont Gemeinsamkeiten der beiden Halbstädte: die ähnlichen Gegenkulturen, die symbolisch überformte Bebauung, hier Steglitzer Kreiselhochhaus, dort der Fernsehturm. Dass er sich bei der SED-Nachfolgepartei salomonisch zurückhält - "Die PDS galt einerseits als Partei der Mauerbauer und andererseits als Stimme des Ostens, was beides nicht falsch war, und doch stimmte beides nichts ganz" - mag man damit erklären, dass sein Vater diese Partei entscheidend mitgeprägt hat. Das muss man jedoch nicht, denn die Kritik an der DDR-Diktatur ist detailliert und unmissverständlich. Dagegen spricht auch nicht der wahre Satz: "Man konnte im Ost-Berlin der Achtziger ganz gut leben, wenn man nicht den Konflikt mit der Obrigkeit riskierte."

All diese Entwicklungen werden mit stupendem Kenntnisreichtum erzählt, weshalb man selbst bekannteste Episoden - Hitlers Machtergreifung, Luftbrücke, Nacht des Mauerfalls - mit Interesse liest. Angemessen böse stellt der Autor dar, wie "West-Berliner Lokalgrößen" die Stadt in den Neunzigern in den Ruin wirtschafteten. Je weiter das Buch sich in die Gegenwart vorarbeitet, desto mehr lässt das Energische des Zugriffs leider nach. Beim Abhaken von Love Parade, Techno-Club-Szene und "Sommermärchen" bekommt es einen leichten Stadtführer-Einschlag, die Debatte um den Schloss-Wiederaufbau wird eher pflichtschuldig rekapituliert, und mit der Miet- und Integrationsthematik taucht Bisky in tagespolitische Diskussionen ab, statt zum Abschluss eine übergreifende Charakteristik seiner Stadt zu versuchen. Dennoch darf das ewig junge, ewig wandlungsfähige Berlin stolz darauf sein, eine solch detailreiche und ehrliche Liebeserklärung zu erhalten.

OLIVER JUNGEN

Jens Bisky: "Berlin". Biographie einer großen Stadt. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019. 976 S., geb., 38,- [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

FAZ-Rezensent Oliver Jungen schwärmt in den höchsten Tönen von dieser Berlin-Biografie seines SZ-Kollegen Jens Bisky. Als "tausendseitiges Reich der Ideen, Hoffnungen, Freiheiten, Lügen, Tragödien und Verbrechen" erscheint ihm nicht nur Berlin, sondern auch das Buch, in dem er Bisky durch 500 Jahre chronologisch und anschaulich erzählte Großstadtgeschichten folgt und sich dabei an Anekdoten aus Berlin-Cölln bis zum Mauerfall und darüber hinaus erfreut. Faszination, Freigeist und Verwerfungen der Stadt kann ihm der Autor detailreich und bestens informiert greifbar machen. Je mehr sich Bisky allerdings der Gegenwart nähert, scheint ihn der Elan verlassen zu haben: Love-Parade, "Sommermärchen" und Schloss-Debatte werden eher abgehandelt, meint Jungen.

© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Zauberwerk, ein Standardwerk. An diesem Buch kommt man nicht vorbei. Knut Elstermann