Der sechste Band der Berliner Ausgabe dokumentiert die Außen-, Europa- und Deutschlandpolitik Willy Brandts von 1966 bis 1974. Bereits als Außenminister der Großen Koalition setzte er neue Akzente - den Durchbruch aber erzielte Brandt als Bundeskanzler: Mit seiner Neuen Ostpolitik, für die er im Oktober 1971 den Friedensnobelpreis erhielt, verlieh er der internationalen Entspannung entscheidende Impulse.Die über 90 Dokumente dieses Bandes zeigen, wie es Willy Brandt gelang, die Ostverträge mit Moskau, Warschau und Prag, das Berlin-Abkommen sowie den Grundlagenvertrag mit der DDR gegen alle inneren und äußeren Widerstände durchzusetzen. Sie belegen darüber hinaus, wie der Bundeskanzler mit Erfolg die westeuropäische Integration vorantrieb und die transatlantische Kooperation in schwierigen Zeiten vertiefte.Besonderes Augenmerk gilt dem engen Gedankenaustausch Willy Brandts mit dem amerikanischen Präsidenten Richard Nixon: Der Schriftwechsel und die Gesprächsnotizen der Jahre 1969 bis 1974 werden hier erstmals in größerem Umfang erschlossen und in den jeweiligen weltpolitischen Zusammenhang - Vietnamkrieg, Nahostkonflikt, Erweiterung der Europäischen Gemeinschaft, SALT-Verhandlungen, KSZE und MBFR - eingebettet.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.2005Moralische Eroberungen
Willy Brandts Leistungen als Außenminister und Bundeskanzler in Dokumenten
Willy Brandt: Ein Volk der guten Nachbarn. Außen- und Deutschlandpolitik 1966-1974. Berliner Ausgabe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Band 6, bearbeitet von Frank Fischer. Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2005. 677 Seiten, 27,60 [Euro].
Zügig nähert sich die Willy-Brandt-Ausgabe ihrer Vollendung. Mit dem neuesten Quellenwerk zur Außen- und Deutschlandpolitik des Außenministers der Großen Koalition und Kanzlers der ersten sozial-liberalen Regierung liegen inzwischen acht der auf zehn Bände veranschlagten Edition vor. Die ausgewählten Dokumente umfassen veröffentlichtes und unveröffentlichtes Material; neben gedruckten Zeugnissen, Reden und Artikeln werden vor allem Briefe, Fernschreiben und Protokolle, Gesprächs- und Interviewvermerke sowie handschriftliche Notizen Brandts berücksichtigt, die in erster Linie dem im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn aufbewahrten Nachlaß entstammen. In seiner gut lesbaren "Einleitung" entwirft Bearbeiter Frank Fischer zudem ein rundum vorteilhaft gezeichnetes Porträt der äußeren Politik Brandts im Zeitraum der Jahre von 1966 bis 1974. Schließlich wird die Benutzbarkeit des Bandes durch eine ausgesprochen hilfreiche Kommentierung der Texte gefördert.
Diejenigen Dokumente, die sich auf den Zeitraum der Großen Koalition beziehen, geben anschaulich zu erkennen, welche Bedeutung die äußere Politik dieser Regierung für diejenige ihrer Nachfolgerin gehabt hat. Die bis dato verbindliche Grundlage der westdeutschen Außenpolitik, wonach Entspannung die Wiedervereinigung voraussetze, begann sich unter dem Zwang der Weltpolitik in die Überzeugung umzukehren, wonach Entspannung der Wiedervereinigung voranzugehen habe. Nicht zuletzt auf diesem Weg vermochte die neue Regierung "das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu ihren westlichen Verbündeten deutlich zu verbessern", urteilt Fischer zusammenfassend und setzt im Hinblick auf die siebziger Jahre hinzu: "Ostpolitisch wurde juristischer Ballast abgeworfen und konzeptionell vorgearbeitet." In der Tat: Egon Bahr, der außenpolitische Vordenker Willy Brandts, wußte nur zu gut, daß erst die Existenz der einen Regierung den Erfolg der anderen ermöglicht hat: "Ohne die drei Jahre der Großen Koalition", stellte er im Rückblick fest, "wäre der Grundriß für die Ostpolitik nicht entworfen worden; er erlaubte den unmittelbaren Start zur Umsetzung im Kanzleramt, scheinbar aus dem Stand."
Ohne Zweifel: Erstaunlich rasch, für Kritiker der neuen Ostpolitik verantwortungslos überstürzt, kam es schon am 12. August 1970 zur Unterzeichnung des Moskauer Vertrags, dem sich der Warschauer Vertrag am 7. Dezember desselben Jahres anschloß. Und im Gefolge des am 3. September 1971 vereinbarten Abkommens der vier Mächte über Berlin wurden diese innenpolitisch leidenschaftlich umstrittenen Verträge sodann am 17. Mai 1972 - weil die Opposition der CDU/CSU sich durch mehrheitliche Stimmenthaltung konstruktiv verhielt - vom Deutschen Bundestag gebilligt. Damit war gleichzeitig der Weg geebnet, um über den am 26. Mai 1972 zwischen der Bundesrepublik und der DDR unterzeichneten "Verkehrsvertrag" am 21. Dezember des Jahres zum "Grundlagenvertrag" zwischen beiden deutschen Staaten zu gelangen. Diese Entwicklungen wiederum ebneten das Terrain für den Eintritt beider deutscher Staaten in die UN am 18. September 1973 und führten nach Überwindung der besonders sperrigen tschechoslowakischen Hürde am Ende jenes Jahres, sieht man vom albanischen Sonderfall ab, zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen Bonns mit allen ost-, ostmittel- und südosteuropäischen Staaten.
Kein Wunder also, daß sich die Persönlichkeit und Politik des 1971 mit dem Friedensnobelpreis geehrten Brandt schon zeitgenössisch aufs engste mit seiner Ostpolitik verbanden. Das Bekenntnis des Kanzlers, er habe, zumal "unsere Westpolitik, unsere Ostpolitik und unsere Europapolitik . . . ein einheitliches Ganzes" bilden, "Westeuropa" zumindest ebensoviel an Aufmerksamkeit geschenkt, wurde vom geradezu galoppierenden Erfolg seiner Ostpolitik schlicht in den Schatten der Vergessenheit gestellt. Das hatte auch damit zu tun, daß unüberhörbare Besorgnisse des stellvertretenden SPD-Vorsitzenden und Bundesministers der Verteidigung, Helmut Schmidt, die sich in seine am 13. August 1970 an Brandt übermittelte Gratulation zum Erfolg des Moskauer Vertrags mischten, andernorts noch viel deutlicher ausfielen: "Aus meiner Sicht spricht vieles dafür, daß vis-à-vis Osten eine neue Ära begonnen hat. Der Westen und übrigens auch wesentliche Teile des eigenen Publikums (Bayern!) müssen aber spüren können, daß sich vis-à-vis Westen nichts ändern soll und wird."
Mißtrauen grassierte vor allem auf seiten des amerikanischen Hegemon, der sich, nicht zuletzt angesichts des Tête-à-tête von Oreanda zwischen Generalsekretär Breschnew und Bundeskanzler Brandt im September 1971, um die Allianztreue des westdeutschen Verbündeten sorgte. Der Briefwechsel zwischen Brandt und Präsident Nixon, der einen Schwerpunkt des Bandes bildet, gibt diese Verschlechterung des bilateralen Verhältnisses zwischen Washington und Bonn zu erkennen.
Als der deutsche Kanzler nicht nur Ehrgeiz zeigte, "der Adenauer der Ostpolitik", sondern, wie ihm unterstellt wurde, auch der "Washington Europas" werden zu wollen, erreichten die Spannungen, die durch amerikanische Eigenmächtigkeiten gegenüber der Bundesrepublik während des am 6. Oktober 1973 ausgebrochenen Jom-Kippur-Krieges nochmals angefacht wurden, einen Höhepunkt. Als dann an der Jahreswende 1973/74 der Ernstfall drohte und die DDR den Transitverkehr nachhaltig behinderte, versagte der direkte Kontakt des Bundeskanzlers mit Generalsekretär Breschnew. Wer Feind und Freund war, zeigte sich auf einmal ebenso unmißverständlich wie die Tatsache der wahren Machtverhältnisse. Schließlich mußte der Bundeskanzler den amerikanischen Präsidenten darum bitten, auf Moskau einzuwirken, um die störrische DDR zur Räson zu bringen. Alles in allem: Der vorliegende Band würdigt die unübersehbaren Leistungen Brandts auf dem Feld der Außen- und Deutschlandpolitik, der Europa- und Friedenspolitik. Es waren nicht zum geringsten moralische Eroberungen des Bundeskanzlers, die dem westdeutschen "Notgebilde", einem lange Zeit verdächtigen Staat, weltweit zum Vorteil gereichten.
KLAUS HILDEBRAND
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Willy Brandts Leistungen als Außenminister und Bundeskanzler in Dokumenten
Willy Brandt: Ein Volk der guten Nachbarn. Außen- und Deutschlandpolitik 1966-1974. Berliner Ausgabe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung, Band 6, bearbeitet von Frank Fischer. Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2005. 677 Seiten, 27,60 [Euro].
Zügig nähert sich die Willy-Brandt-Ausgabe ihrer Vollendung. Mit dem neuesten Quellenwerk zur Außen- und Deutschlandpolitik des Außenministers der Großen Koalition und Kanzlers der ersten sozial-liberalen Regierung liegen inzwischen acht der auf zehn Bände veranschlagten Edition vor. Die ausgewählten Dokumente umfassen veröffentlichtes und unveröffentlichtes Material; neben gedruckten Zeugnissen, Reden und Artikeln werden vor allem Briefe, Fernschreiben und Protokolle, Gesprächs- und Interviewvermerke sowie handschriftliche Notizen Brandts berücksichtigt, die in erster Linie dem im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn aufbewahrten Nachlaß entstammen. In seiner gut lesbaren "Einleitung" entwirft Bearbeiter Frank Fischer zudem ein rundum vorteilhaft gezeichnetes Porträt der äußeren Politik Brandts im Zeitraum der Jahre von 1966 bis 1974. Schließlich wird die Benutzbarkeit des Bandes durch eine ausgesprochen hilfreiche Kommentierung der Texte gefördert.
Diejenigen Dokumente, die sich auf den Zeitraum der Großen Koalition beziehen, geben anschaulich zu erkennen, welche Bedeutung die äußere Politik dieser Regierung für diejenige ihrer Nachfolgerin gehabt hat. Die bis dato verbindliche Grundlage der westdeutschen Außenpolitik, wonach Entspannung die Wiedervereinigung voraussetze, begann sich unter dem Zwang der Weltpolitik in die Überzeugung umzukehren, wonach Entspannung der Wiedervereinigung voranzugehen habe. Nicht zuletzt auf diesem Weg vermochte die neue Regierung "das Verhältnis der Bundesrepublik Deutschland zu ihren westlichen Verbündeten deutlich zu verbessern", urteilt Fischer zusammenfassend und setzt im Hinblick auf die siebziger Jahre hinzu: "Ostpolitisch wurde juristischer Ballast abgeworfen und konzeptionell vorgearbeitet." In der Tat: Egon Bahr, der außenpolitische Vordenker Willy Brandts, wußte nur zu gut, daß erst die Existenz der einen Regierung den Erfolg der anderen ermöglicht hat: "Ohne die drei Jahre der Großen Koalition", stellte er im Rückblick fest, "wäre der Grundriß für die Ostpolitik nicht entworfen worden; er erlaubte den unmittelbaren Start zur Umsetzung im Kanzleramt, scheinbar aus dem Stand."
Ohne Zweifel: Erstaunlich rasch, für Kritiker der neuen Ostpolitik verantwortungslos überstürzt, kam es schon am 12. August 1970 zur Unterzeichnung des Moskauer Vertrags, dem sich der Warschauer Vertrag am 7. Dezember desselben Jahres anschloß. Und im Gefolge des am 3. September 1971 vereinbarten Abkommens der vier Mächte über Berlin wurden diese innenpolitisch leidenschaftlich umstrittenen Verträge sodann am 17. Mai 1972 - weil die Opposition der CDU/CSU sich durch mehrheitliche Stimmenthaltung konstruktiv verhielt - vom Deutschen Bundestag gebilligt. Damit war gleichzeitig der Weg geebnet, um über den am 26. Mai 1972 zwischen der Bundesrepublik und der DDR unterzeichneten "Verkehrsvertrag" am 21. Dezember des Jahres zum "Grundlagenvertrag" zwischen beiden deutschen Staaten zu gelangen. Diese Entwicklungen wiederum ebneten das Terrain für den Eintritt beider deutscher Staaten in die UN am 18. September 1973 und führten nach Überwindung der besonders sperrigen tschechoslowakischen Hürde am Ende jenes Jahres, sieht man vom albanischen Sonderfall ab, zur Aufnahme diplomatischer Beziehungen Bonns mit allen ost-, ostmittel- und südosteuropäischen Staaten.
Kein Wunder also, daß sich die Persönlichkeit und Politik des 1971 mit dem Friedensnobelpreis geehrten Brandt schon zeitgenössisch aufs engste mit seiner Ostpolitik verbanden. Das Bekenntnis des Kanzlers, er habe, zumal "unsere Westpolitik, unsere Ostpolitik und unsere Europapolitik . . . ein einheitliches Ganzes" bilden, "Westeuropa" zumindest ebensoviel an Aufmerksamkeit geschenkt, wurde vom geradezu galoppierenden Erfolg seiner Ostpolitik schlicht in den Schatten der Vergessenheit gestellt. Das hatte auch damit zu tun, daß unüberhörbare Besorgnisse des stellvertretenden SPD-Vorsitzenden und Bundesministers der Verteidigung, Helmut Schmidt, die sich in seine am 13. August 1970 an Brandt übermittelte Gratulation zum Erfolg des Moskauer Vertrags mischten, andernorts noch viel deutlicher ausfielen: "Aus meiner Sicht spricht vieles dafür, daß vis-à-vis Osten eine neue Ära begonnen hat. Der Westen und übrigens auch wesentliche Teile des eigenen Publikums (Bayern!) müssen aber spüren können, daß sich vis-à-vis Westen nichts ändern soll und wird."
Mißtrauen grassierte vor allem auf seiten des amerikanischen Hegemon, der sich, nicht zuletzt angesichts des Tête-à-tête von Oreanda zwischen Generalsekretär Breschnew und Bundeskanzler Brandt im September 1971, um die Allianztreue des westdeutschen Verbündeten sorgte. Der Briefwechsel zwischen Brandt und Präsident Nixon, der einen Schwerpunkt des Bandes bildet, gibt diese Verschlechterung des bilateralen Verhältnisses zwischen Washington und Bonn zu erkennen.
Als der deutsche Kanzler nicht nur Ehrgeiz zeigte, "der Adenauer der Ostpolitik", sondern, wie ihm unterstellt wurde, auch der "Washington Europas" werden zu wollen, erreichten die Spannungen, die durch amerikanische Eigenmächtigkeiten gegenüber der Bundesrepublik während des am 6. Oktober 1973 ausgebrochenen Jom-Kippur-Krieges nochmals angefacht wurden, einen Höhepunkt. Als dann an der Jahreswende 1973/74 der Ernstfall drohte und die DDR den Transitverkehr nachhaltig behinderte, versagte der direkte Kontakt des Bundeskanzlers mit Generalsekretär Breschnew. Wer Feind und Freund war, zeigte sich auf einmal ebenso unmißverständlich wie die Tatsache der wahren Machtverhältnisse. Schließlich mußte der Bundeskanzler den amerikanischen Präsidenten darum bitten, auf Moskau einzuwirken, um die störrische DDR zur Räson zu bringen. Alles in allem: Der vorliegende Band würdigt die unübersehbaren Leistungen Brandts auf dem Feld der Außen- und Deutschlandpolitik, der Europa- und Friedenspolitik. Es waren nicht zum geringsten moralische Eroberungen des Bundeskanzlers, die dem westdeutschen "Notgebilde", einem lange Zeit verdächtigen Staat, weltweit zum Vorteil gereichten.
KLAUS HILDEBRAND
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
"Dieser sechste Band der auf zehn Bände angelegten Willy-Brandt-Ausgabe enthält Quellentexte zur Außen- und Deutschlandpolitik Brandts aus seiner Zeit als Außenminister der Großen Koalition und als Kanzler der ersten sozial-liberalen Regierung, informiert uns Rezensent Klaus Hildebrand. Im Mittelpunkt steht die Ostpolitik. Während der Großen Koalition hat sich die Prämisse - erst Wiedervereinigung, dann Entspannung - umgekehrt, erläutert Hildebrand. Darauf konnte die sozial-liberale Regierung dann aufbauen, bis hin zum umstrittenen Grundlagenvertrag mit der DDR von 1972. In dieser Zeit verschlechterte sich jedoch das Verhältnis Deutschlands zu den USA, so Hildebrand: Nixon zweifelte an der Allianztreue der Deutschen. Als die DDR jedoch 1973/74 versuchte, den Transitverkehr zu behindern, musste Brandt die Amerikaner bitten "auf Moskau einzuwirken". So gut wie er dachte, war Brandts Verhältnis zu Breschnew doch nicht, meint Hildebrand. Insgesamt hat der Rezensent diesen Band offensichtlich mit großem Interesse gelesen. Er würdigt die "gut lesbare" Einleitung von Frank Fischer, der die Außenpolitik Brandts "rundum vorteilhaft" beschreibe, und die "ausgesprochen hilfreiche" Kommentierung der in diesem Band enthaltenen Reden und Artikel, Briefe, Fernschreiben und Protokolle, Gesprächs- und Interviewvermerke sowie handschriftlichen Notizen.
© Perlentaucher Medien GmbH"
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