Die Osterweiterung der Europäischen Union steht vor der Tür, bis zur polnischen Grenze sind es keine achtzig Kilometer. Doch in Berlin blickt man NOCH IMMER Richtung Westen. Dabei kann man es überall hören und sehen: Die Osteuropäisierung steht in vollem Gange. Aber anstatt die Chancen einer Grenzstadt zum Osten zu begreifen, zieht man in Berlin lieber neue Grenzen. Schon ist von der Häßlichkeit des Ostens die Rede und von der »Zivilisation«, die es gegen den Ansturm der »neuen Barbaren« zu verteidigen gelte. Aus der Frontstadt Berlin ist die Frontier Town geworden.Doch wer, fragt Uwe Rada in diesem Buch, ist hier eigentlich barbarisch? Die, die den Westen beim Wort nehmen? Oder die, die aus dem Osten nichts als einen Angriff auf ihre »zivilen« Errungenschaften erwarten? Fragen, die angesichts eines wieder in die Diskussion gekommenen »Kampfes der Kulturen« aktueller sind denn je.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2001Schmutzig, häßlich, roh
Gen Osten: Uwe Rada beschreibt verpaßte Hauptstadtchancen
Das "Stadtforum", jene zum Plauderstündchen erodierte Diskussionsveranstaltung von Senators Gnaden, trifft sich in diesem Herbst nicht ein oder zwei, sondern gleich drei Mal, um über Berlin und den "Osten" zu verhandeln. "Osten" bezeichnet dabei, etwa so wie "11. September", einen Sachverhalt, der sich genauer Klassifizierung entzieht: Im "Osten" ist alles anders. Gewisse Diskursgrundlagen aber ließen sich mit dem humanistischen Bildungsmarschgepäck schaffen, denn bereits Tacitus hatte sich mit der terra incognita beschäftigt: "schmutzig, häßlich, roh und abstoßend" sind die Attribute, mit denen er germanische Stämme versieht; über deren einen, so weiß der antike Historiker zu berichten, munkelte man gar, daß sie "Antlitz und Mienen von Menschen, jedoch Rumpf und Glieder von Tieren haben." "Ich lasse das als unverbürgt auf sich beruhen" spricht Tacitus im letzten Satz und steigert damit nicht unbedingt die Reiselust der auf sich selbst gestellten Leser. Dennoch hat sich einer unter ihnen aufgemacht, ist in den "Osten" aufgebrochen, kam glücklich zurück, machte ein Buch daraus - und wird dafür nun vom Stadtforum ignoriert.
Uwe Radas Buch "Berliner Barbaren - Wie der Osten in den Westen kommt" handelt nicht nur von europäischen Grenzverschiebungen, sondern von den Verschiebungen der Wahrnehmung an sich. Unvoreingenommen und nüchtern sondiert er die Lage in Frankfurt an der Oder, durch das täglich Hunderte von Polen nach Berlin sickern, um sich abends wieder in die Heimat aufzumachen. Daß das Geschäft mit Handwerkern, Putzfrauen und Minidienstleistern auch jenseits von "Dussmann" floriert, ist längst kein Geheimnis mehr. Daher hat auch die Regierung reagiert und bei der Europäischen Union in Brüssel jenes vieldiskutierte, gleichwohl erniedrigende Abkommen erwirkt, das eine liberale Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Polen aufzuschieben sucht. Wie weit dadurch ein Teil der Erwerbswilligen in die Illegalität getrieben wird, läßt sich kaum absehen. Sicher aber werden die Pendler kaum auf ein anderes Land ausweichen. Ähnliche Beharrlichkeit zeigt sich auch etliche hundert Kilometer weiter in der polnischen Grenzstadt Przemysl, wo sich ein ähnliches Szenario wie in Frankfurt wiedertreffen läßt - nur daß die Polen diesmal im Westen sitzen und der Nachbar Weißrußland nicht einmal zu den Beitrittskandidaten des "freien" Europa zählt. So verschieben sich die europäischen Binnengrenzen weiter von Berlin weg, und die Stadt, die eine Reaktion bisher versäumt hat, droht endgültig aus dem Blickfeld zu geraten.
Im Osten Europas ist das nachpostmoderne Phantasiekonstrukt von der ultramobilen Gesellschaft längst Realität geworden. Wer nicht täglich kommt, der ist bereits fest installiert und versucht, auf diese Weise die drohende Sanktionierung der Geschäfte zu umgehen. Rada schildert die "Polen-Story" eindrücklich anhand von Erlebnissen und alltäglichen Erfahrungen; er entschlüsselt die Beobachtungen am Beispiel Berlins: Während von Polen aus das gelobte Land noch immer mit Wohlwollen gesehen wird, als Chance und Herausforderung gleichermaßen, schottet sich der Westen zunehmend ab.
Die für den Leser erstaunliche Konsequenz liegt in Radas Interpretation der Nachwendearchitektur deutlich vor Augen: Natursteinplatten, Blockrandbebauung, Traufhöhe, die bis zum Überdruß zitierten Parameter einer klaustrophobischen Baudoktrin, erscheinen plötzlich in einem neuen Licht und werden zu Chiffren der Angst. "Neuteutonia" hat sich architektonisch in sich selbst verkrochen, duckt sich vor den Realitäten einer turbokapitalistischen Welt - und verliert gerade damit die Chance, sich als offenherzige Drehscheibe nach Osteuropa zu etablieren.
Es mag bisweilen heikel erscheinen, von der phänomenologischen Ebene auf die psychologische Disposition zu schließen. In diesem Punkt aber, in der die Flucht vor der Realität unverblümt in eine Neuberliner Vergangenheitsseligkeit abrutscht, erscheint die Argumentation erschreckend plausibel. Daß Rada nicht den Weg der feuilletonistischen Philippika, sondern der ausgeglichenen, politisch neutralen Berichterstattung wählt, die ihren Gegenstand detailgenau von allen Seiten ins Visier nimmt, damit Erwartungshaltungen unterläuft und auf vordergründige Urteile verzichtet, macht die Erkenntnisse für den Leser um so erschreckender.
Während der Kommissar für die EU-Ost-Erweiterung, Günter Verheugen, in dieser Woche noch einmal dafür plädierte, die Chancen einer gesamteuropäischen Integration zu erkennen, fließt in der Hauptstadt die Zeit weiter ungenutzt ins Land. Verschämt resümierte das Stadtforum sein letztes Treffen in der Überschrift "Berlin ist eine Metropole in Mitteleuropa" - und schob schon in der Formulierung den nachhaltig tabuisierten Osten lieber wieder weg. Wie dieser aber auch jenseits aller lokalpolitischen Betroffenheiten längst seinen eigenen Weg nach Deutschland gefunden hat, davon weiß die Berliner Pflichtlektüre aus der Feder Uwe Radas Entscheidendes zu berichten.
CHRISTIAN WELZBACHER
Das Stadtforum trifft sich um 16 Uhr im Bärensaal des Stadthauses. Uwe Radas Buch "Berliner Barbaren - Wie der Osten in den Westen kommt" ist im Basisdruck-Verlag erschienen.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gen Osten: Uwe Rada beschreibt verpaßte Hauptstadtchancen
Das "Stadtforum", jene zum Plauderstündchen erodierte Diskussionsveranstaltung von Senators Gnaden, trifft sich in diesem Herbst nicht ein oder zwei, sondern gleich drei Mal, um über Berlin und den "Osten" zu verhandeln. "Osten" bezeichnet dabei, etwa so wie "11. September", einen Sachverhalt, der sich genauer Klassifizierung entzieht: Im "Osten" ist alles anders. Gewisse Diskursgrundlagen aber ließen sich mit dem humanistischen Bildungsmarschgepäck schaffen, denn bereits Tacitus hatte sich mit der terra incognita beschäftigt: "schmutzig, häßlich, roh und abstoßend" sind die Attribute, mit denen er germanische Stämme versieht; über deren einen, so weiß der antike Historiker zu berichten, munkelte man gar, daß sie "Antlitz und Mienen von Menschen, jedoch Rumpf und Glieder von Tieren haben." "Ich lasse das als unverbürgt auf sich beruhen" spricht Tacitus im letzten Satz und steigert damit nicht unbedingt die Reiselust der auf sich selbst gestellten Leser. Dennoch hat sich einer unter ihnen aufgemacht, ist in den "Osten" aufgebrochen, kam glücklich zurück, machte ein Buch daraus - und wird dafür nun vom Stadtforum ignoriert.
Uwe Radas Buch "Berliner Barbaren - Wie der Osten in den Westen kommt" handelt nicht nur von europäischen Grenzverschiebungen, sondern von den Verschiebungen der Wahrnehmung an sich. Unvoreingenommen und nüchtern sondiert er die Lage in Frankfurt an der Oder, durch das täglich Hunderte von Polen nach Berlin sickern, um sich abends wieder in die Heimat aufzumachen. Daß das Geschäft mit Handwerkern, Putzfrauen und Minidienstleistern auch jenseits von "Dussmann" floriert, ist längst kein Geheimnis mehr. Daher hat auch die Regierung reagiert und bei der Europäischen Union in Brüssel jenes vieldiskutierte, gleichwohl erniedrigende Abkommen erwirkt, das eine liberale Öffnung des deutschen Arbeitsmarktes für Polen aufzuschieben sucht. Wie weit dadurch ein Teil der Erwerbswilligen in die Illegalität getrieben wird, läßt sich kaum absehen. Sicher aber werden die Pendler kaum auf ein anderes Land ausweichen. Ähnliche Beharrlichkeit zeigt sich auch etliche hundert Kilometer weiter in der polnischen Grenzstadt Przemysl, wo sich ein ähnliches Szenario wie in Frankfurt wiedertreffen läßt - nur daß die Polen diesmal im Westen sitzen und der Nachbar Weißrußland nicht einmal zu den Beitrittskandidaten des "freien" Europa zählt. So verschieben sich die europäischen Binnengrenzen weiter von Berlin weg, und die Stadt, die eine Reaktion bisher versäumt hat, droht endgültig aus dem Blickfeld zu geraten.
Im Osten Europas ist das nachpostmoderne Phantasiekonstrukt von der ultramobilen Gesellschaft längst Realität geworden. Wer nicht täglich kommt, der ist bereits fest installiert und versucht, auf diese Weise die drohende Sanktionierung der Geschäfte zu umgehen. Rada schildert die "Polen-Story" eindrücklich anhand von Erlebnissen und alltäglichen Erfahrungen; er entschlüsselt die Beobachtungen am Beispiel Berlins: Während von Polen aus das gelobte Land noch immer mit Wohlwollen gesehen wird, als Chance und Herausforderung gleichermaßen, schottet sich der Westen zunehmend ab.
Die für den Leser erstaunliche Konsequenz liegt in Radas Interpretation der Nachwendearchitektur deutlich vor Augen: Natursteinplatten, Blockrandbebauung, Traufhöhe, die bis zum Überdruß zitierten Parameter einer klaustrophobischen Baudoktrin, erscheinen plötzlich in einem neuen Licht und werden zu Chiffren der Angst. "Neuteutonia" hat sich architektonisch in sich selbst verkrochen, duckt sich vor den Realitäten einer turbokapitalistischen Welt - und verliert gerade damit die Chance, sich als offenherzige Drehscheibe nach Osteuropa zu etablieren.
Es mag bisweilen heikel erscheinen, von der phänomenologischen Ebene auf die psychologische Disposition zu schließen. In diesem Punkt aber, in der die Flucht vor der Realität unverblümt in eine Neuberliner Vergangenheitsseligkeit abrutscht, erscheint die Argumentation erschreckend plausibel. Daß Rada nicht den Weg der feuilletonistischen Philippika, sondern der ausgeglichenen, politisch neutralen Berichterstattung wählt, die ihren Gegenstand detailgenau von allen Seiten ins Visier nimmt, damit Erwartungshaltungen unterläuft und auf vordergründige Urteile verzichtet, macht die Erkenntnisse für den Leser um so erschreckender.
Während der Kommissar für die EU-Ost-Erweiterung, Günter Verheugen, in dieser Woche noch einmal dafür plädierte, die Chancen einer gesamteuropäischen Integration zu erkennen, fließt in der Hauptstadt die Zeit weiter ungenutzt ins Land. Verschämt resümierte das Stadtforum sein letztes Treffen in der Überschrift "Berlin ist eine Metropole in Mitteleuropa" - und schob schon in der Formulierung den nachhaltig tabuisierten Osten lieber wieder weg. Wie dieser aber auch jenseits aller lokalpolitischen Betroffenheiten längst seinen eigenen Weg nach Deutschland gefunden hat, davon weiß die Berliner Pflichtlektüre aus der Feder Uwe Radas Entscheidendes zu berichten.
CHRISTIAN WELZBACHER
Das Stadtforum trifft sich um 16 Uhr im Bärensaal des Stadthauses. Uwe Radas Buch "Berliner Barbaren - Wie der Osten in den Westen kommt" ist im Basisdruck-Verlag erschienen.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Berlinbücher nehmen Rezensenten gerne zum Anlass, sich gehörig über ihr Verhältnis zur Stadt auszulassen. Über das zu besprechende Buch erfährt man wenig. So auch bei Wolfgang Engler, der dem vorliegenden Band gerade mal drei Absätze widmet. Dabei bezeichnet Engler das Buch des taz-Redakteurs Rada als "in hohem Maße notwendig". Dem Rezensenten gefällt, dass der Autor Berlins "illusionäre Selbstbilder" mit der Realität vergleicht und dabei etwa feststellt, dass die deutsche Hauptstadt nicht die "Ost-West-Drehscheibe" sei, die es "gerne geworden wäre". Der Buchautor habe sich mit Polen, Ukrainern und anderen Osteuropäern auf den Weg durch Berlin gemacht, um die Stadt zu erkunden. Dabei erfährt der Leser viel über die "tatsächliche" geographische Lage Berlins, schreibt der Rezensent. Die "Verostung" der Stadt hat längst stattgefunden, so Engler; diese ging nicht, wie "zu Wendezeiten" befürchtet, von Ostdeutschen, sondern von Osteuropäern aus. Weitere Einzelheiten sind leider Mangelware.
© Perlentaucher Medien GmbH
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