»Eine literarische Sensation!«
Denis Scheck
»Ich halte dieses Buch für ein Wunder.«
Thea Dorn, Literarisches Quartett
Wie kaum eine Autorin ihrer Zeit hat Susanne Kerckhoff den Verlust der moralischen Integrität der Deutschen, ihre Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus und die Frage der daraus resultierenden geistigen Neuorientierung zum Mittelpunkt ihres literarischen Schaffens gemacht. Ein bedeutendes Zeugnis dieser Auseinandersetzung ist ihr kurzer, 1948 erschienener halbfiktiver Briefroman »Berliner Briefe«.
»In ein bestimmtes Lager gehöre ich - in das Lager derjenigen, die sich noch in gar keiner Weise beruhigt haben. Über Nationalsozialismus und Krieg, über Sozialismus und Kapitalismus, über Schuld und Sühne, über eigene Schuld und eigene Sühne kann ich mich nicht beruhigen.« Susanne Kerckhoff
»Die Wiederentdeckung dieser halb vergessenen Schriftstellerin
löst ungläubiges Staunen aus: so differenziert,
so radikal, so klug analysierend ging eine junge Frau mit
sich und Deutschland 1948 ins Gericht.«
Denis Scheck, Leseempfehlung für das Kölner Literaturhaus
»Susanne Kerckhoff war eine Frau von wahrhaft messerscharfem
Verstand und mit einer brillanten Formulierungsgabe
gesegnet. Und sie verpflichtete sich zu einer wirklich
unbestechlichen Suche nach der Wahrheit.«
Annemarie Stoltenberg, NDR
»Was für eine Stimme! Voller Unruhe und Sehnsucht,
rücksichtslos selbstkritisch, desillusioniert und doch
kämpferisch benennt hier eine fiktive Briefeschreiberin,
wie stark das Gift der Diktatur im 'Volkskörper' nachwirkt.«
Carsten Hueck, Deutschlandfunk Kultur
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Denis Scheck
»Ich halte dieses Buch für ein Wunder.«
Thea Dorn, Literarisches Quartett
Wie kaum eine Autorin ihrer Zeit hat Susanne Kerckhoff den Verlust der moralischen Integrität der Deutschen, ihre Schuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus und die Frage der daraus resultierenden geistigen Neuorientierung zum Mittelpunkt ihres literarischen Schaffens gemacht. Ein bedeutendes Zeugnis dieser Auseinandersetzung ist ihr kurzer, 1948 erschienener halbfiktiver Briefroman »Berliner Briefe«.
»In ein bestimmtes Lager gehöre ich - in das Lager derjenigen, die sich noch in gar keiner Weise beruhigt haben. Über Nationalsozialismus und Krieg, über Sozialismus und Kapitalismus, über Schuld und Sühne, über eigene Schuld und eigene Sühne kann ich mich nicht beruhigen.« Susanne Kerckhoff
»Die Wiederentdeckung dieser halb vergessenen Schriftstellerin
löst ungläubiges Staunen aus: so differenziert,
so radikal, so klug analysierend ging eine junge Frau mit
sich und Deutschland 1948 ins Gericht.«
Denis Scheck, Leseempfehlung für das Kölner Literaturhaus
»Susanne Kerckhoff war eine Frau von wahrhaft messerscharfem
Verstand und mit einer brillanten Formulierungsgabe
gesegnet. Und sie verpflichtete sich zu einer wirklich
unbestechlichen Suche nach der Wahrheit.«
Annemarie Stoltenberg, NDR
»Was für eine Stimme! Voller Unruhe und Sehnsucht,
rücksichtslos selbstkritisch, desillusioniert und doch
kämpferisch benennt hier eine fiktive Briefeschreiberin,
wie stark das Gift der Diktatur im 'Volkskörper' nachwirkt.«
Carsten Hueck, Deutschlandfunk Kultur
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 19.06.2020In der Konditorei am Olivaer Platz
Susanne Kerckhoffs „Berliner Briefe“ werden gerade wiederentdeckt. Nur schade, wie wenig man
in der Neuausgabe über das Leben und die Zeit dieser Autorin erfährt. Dabei gäbe es viel zu wissen
VON JENS BISKY
Immer wieder treffen sich die Mädchen, „Töchter gutbürgerlicher Familien des Berliner Westens“, zum Klassentag in der Konditorei von Robert Heil am Olivaer Platz. Wie es dabei zuging, hat eine von ihnen, Susanne Kerckhoff, drei Jahre nach Kriegsende aufgeschrieben. Sie hatten 1937 Abitur gemacht. Von den neuen Mädchen waren „zwei nazifeindlich, zwei Halbjüdinnen, zwei begeisterte BDM-Mädel und die übrigen uninteressierte Mitläufer“. Viele wollten damals nicht länger abseitsstehen und wurden Nazis oder versuchten, das Regime, „objektiv“ zu sehen. Beim Klassentag 1938 war eine der Schulfreundinnen nach Frankreich emigriert, und als die Nachricht eintraf, dass die Kameradin Paul „sich am Heimweh nach Deutschland in Haifa vom Dach gestürzt hatte“, da nannte in der Konditorei schon keine mehr ihren Namen: „Ein sonderbarer Gleichmut lag wie frisch gefallener Opportunistenschnee auf den Seelen der lieblichen Gefährtinnen“. Mit Kriegsbeginn schieden sich die Geister in jene, die an den Sieg glaubten, und die anderen, die eine Niederlage Deutschlands erhofften. Sie trafen sich nicht mehr.
Zwei Jahre nach Kriegsende geht die Erzählerin wieder zur Konditorei, wo „die BDM-Führerin und ärgste Antisemitin“ der Schule sie „mit einem gönnerhaften Lächeln“ empfängt. Die Ex-Nazisse sieht „bezaubernd aus, gepflegt, gut ernährt, lebensvoll, charmant, jünger als sie ist“. Sie arbeitet als Dolmetscherin bei den Amerikanern, „keine Frage, kein Gram, kein Erschrecken haben ihre Stirn mit einer Falte verunziert“. Die Mädchen, die an den Sieg geglaubt haben, schimpfen auf die Alliierten und sprechen das Wort „Schuld“ „mit behandschuhter Ironie aus“. Es empört Susanne Kerckhoff, dass sie beim Alten geblieben sind, dass sie geistig und ethisch „nach wie vor das seichte Wattenmeer bürgerlicher Anschauungen“ durchqueren.
Aus Empörung darüber, dass so viele Deutsche nach Verbrechen und Krieg so mir nichts, dir nichts zur Tagesordnung übergehen wollen, dass sie ihre Alltagssorgen mit den Leiden der Verfolgten und Ermordeten verrechnen, hat Susanne Kerckhoff die „Berliner Briefe“ geschrieben. Sie glaubt nicht, dass man nach diesem Dritten Reich umstandslos zu irgendeiner Normalität zurückkehren könne, sie will ein neues, ganz anderes Deutschland aufbauen und fragt, warum eine Mehrheit anders denkt, sich anders verhält. Sie will aufklären und analysieren zugleich, „Schuldbewußtsein und Sühnebereitschaft“ befördern und verstehen, warum es so schlecht gelang, diese der „deutschen Allgemeinheit“ aufzunötigen. Aus diesem doppelten Impuls bezieht ihr Briefroman seine Spannung, daher gewinnt er seinen existenziellen Ernst, deshalb ist er reich an Alltagsbeobachtungen und politisch-philosophischen Überlegungen, deshalb schwankt er zwischen Leitartikel und Feuilleton, zwischen Appell und Selbstbefragung.
Die „Berliner Briefe“ sind 1948 im Wedding-Verlag, also im französischen Sektor, erschienen und danach, wie die Autorin, lange Zeit vergessen worden. Seit den Neunzigern haben Ines Geipel und Monika Melchert mit Aufsätzen und Büchern Susanne Kerkchoff und ihr Werk dem Vergessen entrissen. Im Frühjahr dieses Jahres hat der kleine Verlag Das kulturelle Gedächtnis die „Berliner Briefe“ neu herausgegeben, aber in diese Neuauflage denkbar wenig Überlegung und Anstrengung investiert. Zwar gibt es ein Nachwort, aber Informationen auf dem möglichen Stand der Kenntnisse sucht man vergeblich. Weder Leben noch Werk noch Zeitumstände werden angemessen erhellt. Schwungvoll, aber uninformiert ist das Buch jüngst auch im „Literarischen Quartett“ besprochen worden, woraufhin Ines Geipel in der Berliner Zeitung die größten Irrtümer korrigierte.
Der Roman umfasst dreizehn Briefe einer in der Viersektorenstadt lebenden Helene an den Jugendfreund Hans Scholem in Paris, der vor den Nazis geflohen war.
Helene trägt in vielem die Züge Susanne Kerckhoffs, die in den Briefen aus ihrer Sicht parteilich und ganz subjektiv zugleich die Wirklichkeit Nachkriegsdeutschlands schildert. Ein Kommentar zu den Personen und Ereignissen, die sie Revue passieren lässt, wäre unbedingt erforderlich gewesen. So erzählt sie, der Weiß Ferdl sei in München vor seinem Publikum erschienen, auf der einen Schulter vier Zwiebeln, auf der anderen eine: „In der Nazizeit hat uns einer gezwiebelt – jetzt zwiebeln uns vier!“ Angesichts dieser Gleichsetzung von Nazi-Diktatur und alliierter Besatzung hätte man doch gern erfahren, dass der deutsche Humorist Weiß Ferdl früh mit den Nazis sympathisierte, oft antisemische Witze erzählte, nach Kriegsbeginn in die NSDAP eintrat und bis heute mit einem Brunnendenkmal auf dem Viktualienmarkt geehrt wird.
Das Leben Susanne Kerckhoffs war gewiss nicht typisch, kein Durchschnittsschicksal, aber es erklärt ihre Überzeugungen, ihre Widersprüchlichkeit. Sie wurde 1918, im letzten Kriegsjahr, in Berlin geboren, ihr Vater war der Literaturhistoriker Walther Harich, ihre Mutter die Cembalistin Eta Harich-Schneider, der die Tochter die Bekanntschaft mit ihren Lieblingsdichtern verdankte, Jean Paul, Brentano, dann Goethe. Die Eltern ließen sich scheiden, Wolfgang Harich, später der eigensinnigste marxistische Philosoph in der DDR, war Susanne Kerckhoffs Halbbruder. Sie half ihm, als er, der Wehrmachtsdeserteur, sich verstecken musste, so wie sie untergetauchte Juden unterstützte und bei sich in Berlin-Karolinenhof aufnahm. Früh heiratete sie den Buchhändler Hermann Kerckhoff, bekam drei Kinder und hatte als jüngstes Mitglied der Reichsschrifttumskammer mit Unterhaltungsromanen Erfolg. Die Ufa verfilmte ihren Roman „Tochter aus gutem Hause“.
Das Kriegsende erlebte sie im Emsland, sie arbeitete in Hannover als Dolmetscherin für die Briten, dann übersiedelte Kerckhoff, die in den Dreißigern wohl eine „religiöse Sozialistin“ geworden war, in die SBZ, nach Berlin. Ihre Gedichte, meist konventionell und liedhaft, manchmal berückend schön, fanden viele Bewunderer. Auf dem Ersten Deutschen Schriftstellerkongress sprach sie 1947 von der Schamlosigkeit, die darin liege, von „innerer Emigration“ zu reden, „bloß weil wir feige waren – ich übrigens auch“.
Dann wurde sie Feuilletonredakteurin der Berliner Zeitung, in deren Chefredakteur Georg Stibi sie sich verliebte. Er war verheiratet, sie geschieden, ihre Kinder lebten im Westen, ein Gericht sprach allein ihrem Ex-Mann Sorge- und Umgangsrecht zu. Ihr Geliebter geriet in die Mühlen der auch antisemitisch motivierten stalinistischen Kampagne gegen Noel Field und trennte sich von ihr. Weil sie Nico Rosts Buch „Goethe in Dachau“ in der Zeitung antipolnische Ressentiments vorwarf, widersprachen ihr viele Genossen heftig, auch herabsetzend. Obwohl sie die SED in den „Berliner Briefen“ über Seiten scharf kritisierte, etwa wegen der versagten Pressefreiheit, trat sie dann doch in die Partei ein.
Am 11. März 1950 veröffentlichte die Berliner Zeitung ihr Gedicht „Volkslied“, das persönliche Not in ein Bild allgemeiner Verzweiflung, Enttäuschung verwandelt: „War es im Walde, / waren die Wege verschneit, /gingen die Kinder, /gingen im Walde zu weit. // Über die Heide /sangen sie, lachten sie gern, /hörten vom Berge / Stimmchen wie Silber so fern.// Schön sind die Tannen, / duftig das funkelnde Eis. / Furcht auf den Wangen / glüht wie ein Öfchen so heiß.// Daß ich dich liebe – / bin wie die Kinder im Wald. / Sie sind erfroren. / Folg ihnen bald.“ In der Nacht vom 14. auf den 15. März 1950 nahm sie sich das Leben. Es ist an der Zeit, es ist überfällig, ihr Werk vollständig und sachkundig kommentiert herauszugeben.
Susanne Kerckhoff: Berliner Briefe. Hrsg. von Peter Graf. Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2020. 112 Seiten, 20 Euro.
Sie glaubte nicht, dass man nach
diesem Dritten Reich zu einer
Normalität zurückkehren könne
Obwohl sie die SED in den
„Berliner Briefen“ scharf
kritisierte, trat sie in die Partei ein
Einen „Schutthaufen bei Potsdam“ nannte Bertolt Brecht Berlin nach dem Krieg. So sah es aus, als Susanne Kerckhoff in ihre Heimatstadt zurückkehrte.
Foto: SZ Photo
„Daß ich dich liebe – / bin wie die Kinder im Wald. / Sie sind erfroren. / Folg ihnen bald“ – Susanne Kerckhoff (1918 – 1950).
Foto: ullstein bild / Getty Images
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Susanne Kerckhoffs „Berliner Briefe“ werden gerade wiederentdeckt. Nur schade, wie wenig man
in der Neuausgabe über das Leben und die Zeit dieser Autorin erfährt. Dabei gäbe es viel zu wissen
VON JENS BISKY
Immer wieder treffen sich die Mädchen, „Töchter gutbürgerlicher Familien des Berliner Westens“, zum Klassentag in der Konditorei von Robert Heil am Olivaer Platz. Wie es dabei zuging, hat eine von ihnen, Susanne Kerckhoff, drei Jahre nach Kriegsende aufgeschrieben. Sie hatten 1937 Abitur gemacht. Von den neuen Mädchen waren „zwei nazifeindlich, zwei Halbjüdinnen, zwei begeisterte BDM-Mädel und die übrigen uninteressierte Mitläufer“. Viele wollten damals nicht länger abseitsstehen und wurden Nazis oder versuchten, das Regime, „objektiv“ zu sehen. Beim Klassentag 1938 war eine der Schulfreundinnen nach Frankreich emigriert, und als die Nachricht eintraf, dass die Kameradin Paul „sich am Heimweh nach Deutschland in Haifa vom Dach gestürzt hatte“, da nannte in der Konditorei schon keine mehr ihren Namen: „Ein sonderbarer Gleichmut lag wie frisch gefallener Opportunistenschnee auf den Seelen der lieblichen Gefährtinnen“. Mit Kriegsbeginn schieden sich die Geister in jene, die an den Sieg glaubten, und die anderen, die eine Niederlage Deutschlands erhofften. Sie trafen sich nicht mehr.
Zwei Jahre nach Kriegsende geht die Erzählerin wieder zur Konditorei, wo „die BDM-Führerin und ärgste Antisemitin“ der Schule sie „mit einem gönnerhaften Lächeln“ empfängt. Die Ex-Nazisse sieht „bezaubernd aus, gepflegt, gut ernährt, lebensvoll, charmant, jünger als sie ist“. Sie arbeitet als Dolmetscherin bei den Amerikanern, „keine Frage, kein Gram, kein Erschrecken haben ihre Stirn mit einer Falte verunziert“. Die Mädchen, die an den Sieg geglaubt haben, schimpfen auf die Alliierten und sprechen das Wort „Schuld“ „mit behandschuhter Ironie aus“. Es empört Susanne Kerckhoff, dass sie beim Alten geblieben sind, dass sie geistig und ethisch „nach wie vor das seichte Wattenmeer bürgerlicher Anschauungen“ durchqueren.
Aus Empörung darüber, dass so viele Deutsche nach Verbrechen und Krieg so mir nichts, dir nichts zur Tagesordnung übergehen wollen, dass sie ihre Alltagssorgen mit den Leiden der Verfolgten und Ermordeten verrechnen, hat Susanne Kerckhoff die „Berliner Briefe“ geschrieben. Sie glaubt nicht, dass man nach diesem Dritten Reich umstandslos zu irgendeiner Normalität zurückkehren könne, sie will ein neues, ganz anderes Deutschland aufbauen und fragt, warum eine Mehrheit anders denkt, sich anders verhält. Sie will aufklären und analysieren zugleich, „Schuldbewußtsein und Sühnebereitschaft“ befördern und verstehen, warum es so schlecht gelang, diese der „deutschen Allgemeinheit“ aufzunötigen. Aus diesem doppelten Impuls bezieht ihr Briefroman seine Spannung, daher gewinnt er seinen existenziellen Ernst, deshalb ist er reich an Alltagsbeobachtungen und politisch-philosophischen Überlegungen, deshalb schwankt er zwischen Leitartikel und Feuilleton, zwischen Appell und Selbstbefragung.
Die „Berliner Briefe“ sind 1948 im Wedding-Verlag, also im französischen Sektor, erschienen und danach, wie die Autorin, lange Zeit vergessen worden. Seit den Neunzigern haben Ines Geipel und Monika Melchert mit Aufsätzen und Büchern Susanne Kerkchoff und ihr Werk dem Vergessen entrissen. Im Frühjahr dieses Jahres hat der kleine Verlag Das kulturelle Gedächtnis die „Berliner Briefe“ neu herausgegeben, aber in diese Neuauflage denkbar wenig Überlegung und Anstrengung investiert. Zwar gibt es ein Nachwort, aber Informationen auf dem möglichen Stand der Kenntnisse sucht man vergeblich. Weder Leben noch Werk noch Zeitumstände werden angemessen erhellt. Schwungvoll, aber uninformiert ist das Buch jüngst auch im „Literarischen Quartett“ besprochen worden, woraufhin Ines Geipel in der Berliner Zeitung die größten Irrtümer korrigierte.
Der Roman umfasst dreizehn Briefe einer in der Viersektorenstadt lebenden Helene an den Jugendfreund Hans Scholem in Paris, der vor den Nazis geflohen war.
Helene trägt in vielem die Züge Susanne Kerckhoffs, die in den Briefen aus ihrer Sicht parteilich und ganz subjektiv zugleich die Wirklichkeit Nachkriegsdeutschlands schildert. Ein Kommentar zu den Personen und Ereignissen, die sie Revue passieren lässt, wäre unbedingt erforderlich gewesen. So erzählt sie, der Weiß Ferdl sei in München vor seinem Publikum erschienen, auf der einen Schulter vier Zwiebeln, auf der anderen eine: „In der Nazizeit hat uns einer gezwiebelt – jetzt zwiebeln uns vier!“ Angesichts dieser Gleichsetzung von Nazi-Diktatur und alliierter Besatzung hätte man doch gern erfahren, dass der deutsche Humorist Weiß Ferdl früh mit den Nazis sympathisierte, oft antisemische Witze erzählte, nach Kriegsbeginn in die NSDAP eintrat und bis heute mit einem Brunnendenkmal auf dem Viktualienmarkt geehrt wird.
Das Leben Susanne Kerckhoffs war gewiss nicht typisch, kein Durchschnittsschicksal, aber es erklärt ihre Überzeugungen, ihre Widersprüchlichkeit. Sie wurde 1918, im letzten Kriegsjahr, in Berlin geboren, ihr Vater war der Literaturhistoriker Walther Harich, ihre Mutter die Cembalistin Eta Harich-Schneider, der die Tochter die Bekanntschaft mit ihren Lieblingsdichtern verdankte, Jean Paul, Brentano, dann Goethe. Die Eltern ließen sich scheiden, Wolfgang Harich, später der eigensinnigste marxistische Philosoph in der DDR, war Susanne Kerckhoffs Halbbruder. Sie half ihm, als er, der Wehrmachtsdeserteur, sich verstecken musste, so wie sie untergetauchte Juden unterstützte und bei sich in Berlin-Karolinenhof aufnahm. Früh heiratete sie den Buchhändler Hermann Kerckhoff, bekam drei Kinder und hatte als jüngstes Mitglied der Reichsschrifttumskammer mit Unterhaltungsromanen Erfolg. Die Ufa verfilmte ihren Roman „Tochter aus gutem Hause“.
Das Kriegsende erlebte sie im Emsland, sie arbeitete in Hannover als Dolmetscherin für die Briten, dann übersiedelte Kerckhoff, die in den Dreißigern wohl eine „religiöse Sozialistin“ geworden war, in die SBZ, nach Berlin. Ihre Gedichte, meist konventionell und liedhaft, manchmal berückend schön, fanden viele Bewunderer. Auf dem Ersten Deutschen Schriftstellerkongress sprach sie 1947 von der Schamlosigkeit, die darin liege, von „innerer Emigration“ zu reden, „bloß weil wir feige waren – ich übrigens auch“.
Dann wurde sie Feuilletonredakteurin der Berliner Zeitung, in deren Chefredakteur Georg Stibi sie sich verliebte. Er war verheiratet, sie geschieden, ihre Kinder lebten im Westen, ein Gericht sprach allein ihrem Ex-Mann Sorge- und Umgangsrecht zu. Ihr Geliebter geriet in die Mühlen der auch antisemitisch motivierten stalinistischen Kampagne gegen Noel Field und trennte sich von ihr. Weil sie Nico Rosts Buch „Goethe in Dachau“ in der Zeitung antipolnische Ressentiments vorwarf, widersprachen ihr viele Genossen heftig, auch herabsetzend. Obwohl sie die SED in den „Berliner Briefen“ über Seiten scharf kritisierte, etwa wegen der versagten Pressefreiheit, trat sie dann doch in die Partei ein.
Am 11. März 1950 veröffentlichte die Berliner Zeitung ihr Gedicht „Volkslied“, das persönliche Not in ein Bild allgemeiner Verzweiflung, Enttäuschung verwandelt: „War es im Walde, / waren die Wege verschneit, /gingen die Kinder, /gingen im Walde zu weit. // Über die Heide /sangen sie, lachten sie gern, /hörten vom Berge / Stimmchen wie Silber so fern.// Schön sind die Tannen, / duftig das funkelnde Eis. / Furcht auf den Wangen / glüht wie ein Öfchen so heiß.// Daß ich dich liebe – / bin wie die Kinder im Wald. / Sie sind erfroren. / Folg ihnen bald.“ In der Nacht vom 14. auf den 15. März 1950 nahm sie sich das Leben. Es ist an der Zeit, es ist überfällig, ihr Werk vollständig und sachkundig kommentiert herauszugeben.
Susanne Kerckhoff: Berliner Briefe. Hrsg. von Peter Graf. Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2020. 112 Seiten, 20 Euro.
Sie glaubte nicht, dass man nach
diesem Dritten Reich zu einer
Normalität zurückkehren könne
Obwohl sie die SED in den
„Berliner Briefen“ scharf
kritisierte, trat sie in die Partei ein
Einen „Schutthaufen bei Potsdam“ nannte Bertolt Brecht Berlin nach dem Krieg. So sah es aus, als Susanne Kerckhoff in ihre Heimatstadt zurückkehrte.
Foto: SZ Photo
„Daß ich dich liebe – / bin wie die Kinder im Wald. / Sie sind erfroren. / Folg ihnen bald“ – Susanne Kerckhoff (1918 – 1950).
Foto: ullstein bild / Getty Images
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Andreas Kilb kann nichts literarisch Schönes finden an Susanne Kerckhoffs Briefen aus dem Krieg. Wie eine Flaschenpost kommt der "Monolog" der Schreiberin, die Kilb mit der Autorin gleichsetzt, auf den Rezensenten - leider ohne Register und Erläuterungen, wie Kilb bedauernd feststellt. Was ihn beeindruckt, ist vor allem die Wahrheit der Schilderungen über das in Trümmern liegende Berlin und später über die Teilung, die SED und kommunistische Kulturpolitik. Was der Band laut Kilb nicht ist: Ein Schlüsselroman über die deutsche Nachkriegszeit und eine autobiografische Erkundung "seelischer Trümmerfelder".
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.08.2020Der Riss zwischen Geist und Gesinnung
Verdrängte Schuld und Grabenkämpfe: Mit ihren "Berliner Briefen" von 1948 ist Susanne Kerckhoff neu zu entdecken
Dieses Buch ist eine Enttäuschung in doppelter Hinsicht. Es düpiert alle diejenigen, die sich, etwa nach der lobenden Besprechung im "Literarischen Quartett", einen Schlüsselroman zur deutschen Nachkriegszeit erhofft haben. Zugleich enttäuscht es auch die entgegengesetzte, durch den Klappentext und das Umschlagbild genährte Erwartung auf eine autobiographische Tour de Force zu den seelischen Trümmerfeldern der "Stunde null". Man tut sich leichter zu sagen, was es nicht ist, als seinen besonderen Sound und Gestus zu beschreiben. Aber eben darin, in seinem Eigensinn, ist dieses Buch groß.
Die "Berliner Briefe" sind auf den ersten Blick genau das, was der Titel verspricht - eine Folge von dreizehn Briefen einer Berlinerin namens Helene an ihren jüdischen Freund Hans, der den Verfolgungen im Nationalsozialismus entkommen ist und nun in Paris lebt. Auf den zweiten Blick aber sieht man, dass dieser jüdisch-deutsche Hans trotz seiner mehrfach erwähnten Antwortbriefe nur ein Mundstück ist, in das die Erzählerin hineinbläst, damit ihr Ton die ganze Welt erreicht. Schon deshalb ist der Gattungsbegriff "Briefroman", den der Verlag auf den Umschlag gesetzt hat, irreführend. In diesen Briefen wird keine Handlung entfaltet, keine Liebes- oder Kriegsgeschichte abgespult. Hier spricht nur eine einzige Stimme: die der Absenderin Helene und, durch sie hindurch, die der Autorin. Doch das, was sie sagt, ist derart, dass man nicht aufhören kann, ihr zuzuhören. Es ist, als hätte man in einem Tonbandarchiv einen Monolog entdeckt, der vor gut siebzig Jahren aufgenommen wurde, mit allen Hintergrundgeräuschen jener Zeit, dem ideologischen Gezänk ebenso wie dem Dröhnen und Knistern des Alltags.
Susanne Kerckhoff, die Verfasserin der "Berliner Briefe", war fünfzehn Jahre alt, als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen. Im "Dritten Reich" studierte sie Philosophie und machte als Autorin von Unterhaltungsromanen und jüngstes Mitglied der Reichsschrifttumskammer Karriere. Zugleich versteckte sie jüdische Kommilitonen im Keller ihres Elternhauses im Berliner Außenbezirk Karolinenhof. Nach Kriegsende trat sie mit ihrem Mann, dem Buchhändler Hermann Kerckhoff, in Hannover in die SPD ein. Dann aber verließ sie Kerckhoff, mit dem sie drei Kinder hatte, ging nach Ost-Berlin und wurde 1948 Mitglied der SED. Im gleichen Jahr erschienen die "Berliner Briefe" erstmals im Wedding-Verlag im französischen Sektor Berlins. Ein Jahr später wurde Susanne Kerckhoff Feuilletonredakteurin und kurz darauf Kulturchefin der "Berliner Zeitung". Im März 1950 nahm sie sich, von privatem Unglück und öffentlicher Hetze durch kommunistische Kulturfunktionäre zermürbt, das Leben.
Wie spiegelt sich nun diese Existenz, die von Widersprüchen und Unruhe, von Suchbewegungen und jähen Entscheidungen geprägt war, in den "Berliner Briefen"? Im ersten Brief schreibt Helene an Hans, sie fühle sich als "ein Teil des Trümmeratems von Berlin" - eine Symbolfigur der geteilten Stadt. Zugleich erklärt sie, sie spreche "für keine Gruppe, keine Partei, keine Kirche, keine Klasse, nicht einmal für meine Generation". In diesem Zwiespalt zwischen Selbstgespräch und Verkündertum schreitet das Buch voran, bis Helene hundert Seiten später resümiert, ihr sei zumute, "als hätte ich einen Felsblock den Berg hinaufgeschoben". Dieser Felsblock ist die deutsche Schuld.
Die Schuld am Krieg, an der Massenvernichtung der europäischen Juden, an der Zerstörung des eigenen Landes und anderer Länder - das ist ein Block, dessen Ausmaße drei Jahre nach Kriegsende schon sehr genau bekannt sind. Aber wie Sisyphos muss ihn die Erzählerin immer wieder neu bergauf wälzen, denn ihre Landsleute wollen von der eigenen Verstrickung nichts mehr wissen. "Wenn wir gesiegt hätten, dann wären Stalin und Churchill in Nürnberg aufgehängt worden!" Das hört Helene "in der Schlange vor dem Fleischerladen". Die "Profaschisten" sind überall, die "radikale Abrechnung" mit dem braunen Mob hat nicht stattgefunden. Aber auch an sich selbst entdeckt die Briefschreiberin den Makel des Mitläufertums: "Ich tastete mein charakterliches Rückgrat ab und fand es durchaus nicht so köstlich steif, wie ich es mir eingebildet hatte." Ihre Konsequenz ist, wenigstens im Gestischen, radikal: "Über Juden spricht man nicht, vor ihnen steht man auf."
Das ist die eine Seite dieses Monologs, der sich immer wieder zu modellhaften Szenen verdichtet wie jenem Klassentreffen im Nachkriegs-Berlin, bei dem die einstige BDM-Führerin und "ärgste Antisemitin" der Schule, inzwischen längst wieder "gut ernährt, lebensvoll, charmant", mit Anekdoten aus ihrer Dolmetschertätigkeit für die amerikanischen Besatzer glänzt. Die andere Seite ist die Schilderung der gerade entstehenden Parteienlandschaft mit ihren ideologischen Gräben, ihren scharfen Trennungen zwischen West und Ost. Dabei kriegt die West-SPD unter Führung Kurt Schumachers besonders heftig ihr Fett weg: "Die Sozialdemokratische Partei fischt im Trüben, ködert mit den Würmern einer russenfeindlichen Propaganda den Ressentiment-Deutschen." Der Zorn, der aus solchen Sätzen spricht, ist auch persönlich gefärbt. Susanne Kerckhoffs Ex-Mann blieb, anders als sie, Mitglied der SPD. Nach der Scheidung bekam er das Sorgerecht über die gemeinsamen Kinder zugesprochen. Gerade da, wo das Buch am politischsten wirkt, ist es von privaten Emotionen durchtränkt.
Aber auch über ihre eigene Partei hält Kerckhoff Gericht. "Ich werfe es der SED vor, dass sie die Interessen der Bauern und der Stadtbevölkerung zu wenig hilfreich unterstützt ... Ich werfe der SED vor, daß sie psychologische Taktiken der UdSSR imitiert, die hierzulande sinnlos und schädlich sind." So geht das mehrere Seiten lang, gipfelnd in dem Vorwurf, die Kommunisten trügen dazu bei, dass "der Friede verloren wird". Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie Susanne Kerckhoff mit solchen Ansichten in den Jahren der Berlin-Blockade und der Gründung von BRD und DDR bei den Genossen immer wieder aneckte, bis sie beschlossen, die unbequeme Parteigängerin kaltzustellen. Ihr Selbstmord war die Folge eines Rufmords.
Interessanterweise ist in diesem im Jahr von Susanne Kerckhoffs Parteieintritt erschienenen Buch von den Galionsfiguren der neuen kommunistischen Kulturpolitik - etwa Stephan Hermlin oder Kerckhoffs Halbbruder Wolfgang Harich - nie die Rede. Stattdessen fallen Namen wie Erich Kästner, Günther Weisenborn oder Hans Carossa, auch Carl Schmitt und Heidegger werden genannt. Der Riss zwischen Geist und Gesinnung, der die Kultur im Kalten Krieg prägen sollte, ging mitten durch Kerckhoffs Schreiben.
Auch deshalb ist es mehr als bedauerlich, dass der vorliegende Band weder ein Personenregister noch erklärende Fuß- oder Endnoten enthält. Es ist die dritte und größte Enttäuschung dieser Neuausgabe, denn ohne ergänzende Informationen etwa zur Funktion des Kulturbunds, der später zum Herrschaftsinstrument der DDR wurde, oder zur Rolle Kästners in den Debatten der Nachkriegszeit ist dieses Buch nicht zu verstehen. Dem Herausgeber Peter Graf "Zeitgeistcamouflage" und "Gedächtnisdesign" vorzuwerfen, wie es die Publizistin Ines Geipel in der "Neuen Zürcher Zeitung" getan hat, ist dennoch übertrieben. Graf hat seine Herausgeberschaft nicht missbraucht, sondern schlicht nicht ausreichend wahrgenommen. Er hat die "Berliner Briefe" abgeschickt, als wäre ihre Absenderin allgemein bekannt.
Susanne Kerckhoff sei "keine vergessene Autorin", schreibt Graf in seinem Nachwort. Das stimmt nicht. Zwar haben sich die obengenannte Ines Geipel und weitere Germanistinnen um ihre Rehabilitierung bemüht, aber im allgemeinen literarischen Gedächtnis ist Kerckhoff nicht präsent. Ob sich das mit diesem Buch ändert, bleibt abzuwarten. Eine große Romanautorin ist in diesem hundertseitigen, mit ebenso treffenden wie schiefen Bildern ("im Herzen des Volkes aus den Pantinen kippen") gespickten Monolog jedenfalls nicht zu entdecken. Trotzdem muss man die "Berliner Briefe" bewundern. Nicht weil sie so schön, sondern weil sie so wahr sind.
ANDREAS KILB
Susanne Kerckhoff: "Berliner Briefe".
Hrsg. und mit einem Nachwort von Peter Graf. Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2020. 112 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Verdrängte Schuld und Grabenkämpfe: Mit ihren "Berliner Briefen" von 1948 ist Susanne Kerckhoff neu zu entdecken
Dieses Buch ist eine Enttäuschung in doppelter Hinsicht. Es düpiert alle diejenigen, die sich, etwa nach der lobenden Besprechung im "Literarischen Quartett", einen Schlüsselroman zur deutschen Nachkriegszeit erhofft haben. Zugleich enttäuscht es auch die entgegengesetzte, durch den Klappentext und das Umschlagbild genährte Erwartung auf eine autobiographische Tour de Force zu den seelischen Trümmerfeldern der "Stunde null". Man tut sich leichter zu sagen, was es nicht ist, als seinen besonderen Sound und Gestus zu beschreiben. Aber eben darin, in seinem Eigensinn, ist dieses Buch groß.
Die "Berliner Briefe" sind auf den ersten Blick genau das, was der Titel verspricht - eine Folge von dreizehn Briefen einer Berlinerin namens Helene an ihren jüdischen Freund Hans, der den Verfolgungen im Nationalsozialismus entkommen ist und nun in Paris lebt. Auf den zweiten Blick aber sieht man, dass dieser jüdisch-deutsche Hans trotz seiner mehrfach erwähnten Antwortbriefe nur ein Mundstück ist, in das die Erzählerin hineinbläst, damit ihr Ton die ganze Welt erreicht. Schon deshalb ist der Gattungsbegriff "Briefroman", den der Verlag auf den Umschlag gesetzt hat, irreführend. In diesen Briefen wird keine Handlung entfaltet, keine Liebes- oder Kriegsgeschichte abgespult. Hier spricht nur eine einzige Stimme: die der Absenderin Helene und, durch sie hindurch, die der Autorin. Doch das, was sie sagt, ist derart, dass man nicht aufhören kann, ihr zuzuhören. Es ist, als hätte man in einem Tonbandarchiv einen Monolog entdeckt, der vor gut siebzig Jahren aufgenommen wurde, mit allen Hintergrundgeräuschen jener Zeit, dem ideologischen Gezänk ebenso wie dem Dröhnen und Knistern des Alltags.
Susanne Kerckhoff, die Verfasserin der "Berliner Briefe", war fünfzehn Jahre alt, als die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen. Im "Dritten Reich" studierte sie Philosophie und machte als Autorin von Unterhaltungsromanen und jüngstes Mitglied der Reichsschrifttumskammer Karriere. Zugleich versteckte sie jüdische Kommilitonen im Keller ihres Elternhauses im Berliner Außenbezirk Karolinenhof. Nach Kriegsende trat sie mit ihrem Mann, dem Buchhändler Hermann Kerckhoff, in Hannover in die SPD ein. Dann aber verließ sie Kerckhoff, mit dem sie drei Kinder hatte, ging nach Ost-Berlin und wurde 1948 Mitglied der SED. Im gleichen Jahr erschienen die "Berliner Briefe" erstmals im Wedding-Verlag im französischen Sektor Berlins. Ein Jahr später wurde Susanne Kerckhoff Feuilletonredakteurin und kurz darauf Kulturchefin der "Berliner Zeitung". Im März 1950 nahm sie sich, von privatem Unglück und öffentlicher Hetze durch kommunistische Kulturfunktionäre zermürbt, das Leben.
Wie spiegelt sich nun diese Existenz, die von Widersprüchen und Unruhe, von Suchbewegungen und jähen Entscheidungen geprägt war, in den "Berliner Briefen"? Im ersten Brief schreibt Helene an Hans, sie fühle sich als "ein Teil des Trümmeratems von Berlin" - eine Symbolfigur der geteilten Stadt. Zugleich erklärt sie, sie spreche "für keine Gruppe, keine Partei, keine Kirche, keine Klasse, nicht einmal für meine Generation". In diesem Zwiespalt zwischen Selbstgespräch und Verkündertum schreitet das Buch voran, bis Helene hundert Seiten später resümiert, ihr sei zumute, "als hätte ich einen Felsblock den Berg hinaufgeschoben". Dieser Felsblock ist die deutsche Schuld.
Die Schuld am Krieg, an der Massenvernichtung der europäischen Juden, an der Zerstörung des eigenen Landes und anderer Länder - das ist ein Block, dessen Ausmaße drei Jahre nach Kriegsende schon sehr genau bekannt sind. Aber wie Sisyphos muss ihn die Erzählerin immer wieder neu bergauf wälzen, denn ihre Landsleute wollen von der eigenen Verstrickung nichts mehr wissen. "Wenn wir gesiegt hätten, dann wären Stalin und Churchill in Nürnberg aufgehängt worden!" Das hört Helene "in der Schlange vor dem Fleischerladen". Die "Profaschisten" sind überall, die "radikale Abrechnung" mit dem braunen Mob hat nicht stattgefunden. Aber auch an sich selbst entdeckt die Briefschreiberin den Makel des Mitläufertums: "Ich tastete mein charakterliches Rückgrat ab und fand es durchaus nicht so köstlich steif, wie ich es mir eingebildet hatte." Ihre Konsequenz ist, wenigstens im Gestischen, radikal: "Über Juden spricht man nicht, vor ihnen steht man auf."
Das ist die eine Seite dieses Monologs, der sich immer wieder zu modellhaften Szenen verdichtet wie jenem Klassentreffen im Nachkriegs-Berlin, bei dem die einstige BDM-Führerin und "ärgste Antisemitin" der Schule, inzwischen längst wieder "gut ernährt, lebensvoll, charmant", mit Anekdoten aus ihrer Dolmetschertätigkeit für die amerikanischen Besatzer glänzt. Die andere Seite ist die Schilderung der gerade entstehenden Parteienlandschaft mit ihren ideologischen Gräben, ihren scharfen Trennungen zwischen West und Ost. Dabei kriegt die West-SPD unter Führung Kurt Schumachers besonders heftig ihr Fett weg: "Die Sozialdemokratische Partei fischt im Trüben, ködert mit den Würmern einer russenfeindlichen Propaganda den Ressentiment-Deutschen." Der Zorn, der aus solchen Sätzen spricht, ist auch persönlich gefärbt. Susanne Kerckhoffs Ex-Mann blieb, anders als sie, Mitglied der SPD. Nach der Scheidung bekam er das Sorgerecht über die gemeinsamen Kinder zugesprochen. Gerade da, wo das Buch am politischsten wirkt, ist es von privaten Emotionen durchtränkt.
Aber auch über ihre eigene Partei hält Kerckhoff Gericht. "Ich werfe es der SED vor, dass sie die Interessen der Bauern und der Stadtbevölkerung zu wenig hilfreich unterstützt ... Ich werfe der SED vor, daß sie psychologische Taktiken der UdSSR imitiert, die hierzulande sinnlos und schädlich sind." So geht das mehrere Seiten lang, gipfelnd in dem Vorwurf, die Kommunisten trügen dazu bei, dass "der Friede verloren wird". Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie Susanne Kerckhoff mit solchen Ansichten in den Jahren der Berlin-Blockade und der Gründung von BRD und DDR bei den Genossen immer wieder aneckte, bis sie beschlossen, die unbequeme Parteigängerin kaltzustellen. Ihr Selbstmord war die Folge eines Rufmords.
Interessanterweise ist in diesem im Jahr von Susanne Kerckhoffs Parteieintritt erschienenen Buch von den Galionsfiguren der neuen kommunistischen Kulturpolitik - etwa Stephan Hermlin oder Kerckhoffs Halbbruder Wolfgang Harich - nie die Rede. Stattdessen fallen Namen wie Erich Kästner, Günther Weisenborn oder Hans Carossa, auch Carl Schmitt und Heidegger werden genannt. Der Riss zwischen Geist und Gesinnung, der die Kultur im Kalten Krieg prägen sollte, ging mitten durch Kerckhoffs Schreiben.
Auch deshalb ist es mehr als bedauerlich, dass der vorliegende Band weder ein Personenregister noch erklärende Fuß- oder Endnoten enthält. Es ist die dritte und größte Enttäuschung dieser Neuausgabe, denn ohne ergänzende Informationen etwa zur Funktion des Kulturbunds, der später zum Herrschaftsinstrument der DDR wurde, oder zur Rolle Kästners in den Debatten der Nachkriegszeit ist dieses Buch nicht zu verstehen. Dem Herausgeber Peter Graf "Zeitgeistcamouflage" und "Gedächtnisdesign" vorzuwerfen, wie es die Publizistin Ines Geipel in der "Neuen Zürcher Zeitung" getan hat, ist dennoch übertrieben. Graf hat seine Herausgeberschaft nicht missbraucht, sondern schlicht nicht ausreichend wahrgenommen. Er hat die "Berliner Briefe" abgeschickt, als wäre ihre Absenderin allgemein bekannt.
Susanne Kerckhoff sei "keine vergessene Autorin", schreibt Graf in seinem Nachwort. Das stimmt nicht. Zwar haben sich die obengenannte Ines Geipel und weitere Germanistinnen um ihre Rehabilitierung bemüht, aber im allgemeinen literarischen Gedächtnis ist Kerckhoff nicht präsent. Ob sich das mit diesem Buch ändert, bleibt abzuwarten. Eine große Romanautorin ist in diesem hundertseitigen, mit ebenso treffenden wie schiefen Bildern ("im Herzen des Volkes aus den Pantinen kippen") gespickten Monolog jedenfalls nicht zu entdecken. Trotzdem muss man die "Berliner Briefe" bewundern. Nicht weil sie so schön, sondern weil sie so wahr sind.
ANDREAS KILB
Susanne Kerckhoff: "Berliner Briefe".
Hrsg. und mit einem Nachwort von Peter Graf. Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2020. 112 S., geb., 20,- [Euro].
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