Aus dem Russischen von Kristine ListauMit einem Nachwort von Anita Leocádia Prestes"Es ist bereits halb elf. Jemand schlägt vor, 'zusammen Eis essen zu gehen!' Alle sind einverstanden. Auf der Bergstraße gibt es ein kleines Café, wo eine Portion Eis zehn Pfennig kostet. Dorthin macht sich die ganze Bande auf. Das Eis ist herrlich! Doch es zieht ein Unwetter auf. Der Inhaber des Cafés bezahlt seine Angestellten zu niedrigeren Sätzen als nach Tarif. Als wir davon Wind bekommen, entscheiden wir, es zu boykottieren. Der Boykott dauert eine Woche, bis der Unternehmer aufgibt, weil er Angst hat, mit…mehr
Aus dem Russischen von Kristine ListauMit einem Nachwort von Anita Leocádia Prestes"Es ist bereits halb elf. Jemand schlägt vor, 'zusammen Eis essen zu gehen!' Alle sind einverstanden. Auf der Bergstraße gibt es ein kleines Café, wo eine Portion Eis zehn Pfennig kostet. Dorthin macht sich die ganze Bande auf. Das Eis ist herrlich! Doch es zieht ein Unwetter auf. Der Inhaber des Cafés bezahlt seine Angestellten zu niedrigeren Sätzen als nach Tarif. Als wir davon Wind bekommen, entscheiden wir, es zu boykottieren. Der Boykott dauert eine Woche, bis der Unternehmer aufgibt, weil er Angst hat, mit uns seine wichtigsten Kunden zu verlieren. Die Angestellten erhalten ihren Lohn nach Tarif, und wir suchen das Lokal wieder auf."Mit 21 Jahren schreibt dies Olga Benario in Moskau, wohin sie nach der aufsehenerregenden Befreiung von Otto Braun geflohen ist. Ihr Buch, das den Alltag der Kommunistischen Jugend Berlins beschreibt, erscheint 1929 in Moskau auf Russisch.Da es sehr wenig Literatur zur Organisation und Arbeitsweise des KJVD gibt und Olga Benarios Erzählungen über nächtliches Plakatieren, Spendensammlungen oder die Parteibüros so schön wie erkenntnisreich sind, ist dieses Buch ein wichtiges Zeugnis. Und nicht zuletzt wird der ganz eigene Ton Benarios, der zwischen Stolz und Selbstironie changiert, alle Leser_innen begeistern.
Olga Benario wurde 1908 als jüngstes Kind einer jüdisch-sozialdemokratischen Anwaltsfamilie in München geboren. Mit 15 Jahren schloss sie sich der Kommunistischen Jugend an, 1925 ging sie mit Otto Braun nach Berlin, wo sie für den KJVD in Berlin-Neukölln und für die KPD arbeitete. Braun, wegen Hochverrat angeklagt, wurde von Benario und Genossen aus dem Moabiter Gericht befreit. Sie flüchteten nach Moskau, wo sie eine militärische Ausbildung bekam, infolge derer sie als Komintern-Agentin tätig war. 1936 wurde sie in Brasilien mit Luís Carlos Prestes verhaftet und, obwohl schwanger, nach Nazi-Deutschland ausgeliefert. In der Haft kam ihre Tochter Anita Leocádia Prestes zur Welt, die - nach einer weltweiten Kampagne für ihre Befreiung - 1938 an die Schwiegermutter übergeben wurde. Olga Benario wurde 1942 in der NS-Tötungsanstalt Bernburg ermordet.
Rezensionen
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Olga Benario kennt Rezensentin Liane von Billerbeck als "kommunistische Ikone", in diesem von Kristine Listau übersetzten Tagebuch kann sie sie nun auch als junge Frau kennenlernen: Sie musste in den 1920ern aus Deutschland in die Sowjetunion fliehen, weil sie in einer "tollkühnen gemeinschaftlichen Aktion" einen Freund aus der Haft befreit hatte. Hier erzählt sie von Agitationsarbeit und jugendlichen Boykottaktionen, die den Mitarbeitern einer Eisdiele einen besseren Lohn bescheren, berichtet Billerbeck, die den besonderen Sound auch der gelungenen Übersetzung zuschreibt. Auch mit der ideologischen Färbung ein beeindruckendes Dokument einer aufregenden Zeit, schließt sie.