Produktdetails
  • Verlag: Philo
  • ISBN-13: 9783825701451
  • ISBN-10: 382570145X
  • Artikelnr.: 25233038
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Heinrich Detering bespricht zwei Bücher, die Ort und Zeit miteinander gemeinsam haben, das Berlin der 40er Jahren des 19. Jahrhunderts nämlich, und die Tatsache, dass jeweils die Berlinerfahrungen von zwei bedeutenden dänischen Autoren im Mittelpunkt stehen: "Berliner Tagebücher" von Sören Kierkegaard und "Hans Christian Andersen in Berlin" von Heinz Barüske.
1) Sören Kierkegaard: "Berliner Tagebücher"
Detering setzt uns zunächst in eine Vorlesung Schellings im Semester 1841/42 und lässt uns dort unter den Zuhörern auch die Humboldt-Brüder, Ranke, Friedrich Engels, Savigny, Lassalle, Jakob Burckhardt, Bakunin und schließlich den jungen Kierkegaard entdecken. Dann lässt der Rezensent uns Kierkegaards Gedanken lesen, sofern dieser sie in seinen Tagebüchern aufgeschrieben hat. "Was in seinen Berliner Tagebüchern heranwächst", meint Detering, ergebe "nicht weniger als die Grundlage" für Kierkegaards Werk. Von der "Außenwelt der Stadt" allerdings dringe kaum etwas in Kierkegaards Aufzeichnungen. Ein Lob für den Herausgeber, der die Tagebücher aus den hinterlassenen Papieren des "Dichterphilosophen" "rekonstruiert, glänzend neu übersetzt und so kompetent wie knapp erläutert" hat.
2) Heinz Barüske: " Hans Christian Andersen in Berlin"
Auf der Straße Unter den Linden lässt Heinrich Detering uns dann Hans Christian Andersen begegnen. Deutlich spürt man das Bedauern des Rezensenten, diesen Dichter durch die Brille Heinz Barüskes betrachten zu müssen. Dessen Darstellung eines Andersen-Aufenthalts in Berlin findet er zwar &quot…mehr

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.06.2000

Das Kind des Gedankens hüpft
Kierkegaard und Andersen gehen nach Berlin · Von Heinrich Detering

Man stelle sich einen Hörsaal vor, in dem unter den Zuhörern Alexander von Humboldt, Ranke und Jakob Burckhardt, Friedrich Engels und Bakunin, Lassalle, Savigny und der junge Kierkegaard säßen: Ein Professor, der dieses Auditorium für seine eigene Weltanschauung gewinnen wollte, müsste entweder größenwahnsinnig sein oder Schelling. "Ich bin so froh, Schellings zweite Stunde gehört zu haben", notiert der Kopenhagener Gasthörer, der sich eben noch "den unstetesten von allen Menschen" genannt hatte. Erweckt zur "Klarheit" inmitten seiner "philosophischen Leiden und Qualen", fühlt er sich unversehens guter Hoffnung. "Da", notiert er begeistert, "hüpfte das Kind des Gedankens in mir vor Freude wie in Elisabeth", wie die werdende Mutter des Täufers sieht er sich der schwangeren Maria Schelling begegnen. Wenig später ist die Hoffnung zerstoben; nun vertraut er einem Freund brieflich an, Schelling "salbadert unerträglich".

Als er das schrieb, war Kierkegaard eben promoviert worden und hatte sich fast gleichzeitig von Regine Olsen entlobt; damit fehlt von den biografischen Fundamenten, auf denen er ein existenzphilosophisches Lebenswerk zu errichten begann, nur noch eine neue intellektuelle Provokation und die Ruhe, um ihr schreibend zu begegnen. Beides fand er in Berlin: die Muße in seiner Beletage-Wohnung in der Jägerstraße, die Provokation in Schellings Hörsaal. Denn auch wenn er sich in der philosophischen Erlösergestalt getäuscht hatte - seine eigene Geistesschwangerschaft war nicht eingebildet. Was in seinen Berliner Tagebüchern heran wächst, ergibt nicht weniger als die Grundlagen für die philosophisch-theologischen Studie "Entweder - Oder", also auch für das darin eingegangene "Tagebuch des Verführers", sein bis heute meistgelesenes Buch; auch die "Wiederholung" und einige der "Erbaulichen Reden" bereiten sich in den Berliner Notizen vor. Er notiert während des Schelling-Semesters 1841/42 die ersten Stichworte; bei weiteren Aufenthalten in den Jahren 1843, 1845 und 1846, jedes Mal im Mai, kommen Ideen hinzu - Selbsterforschungen, philosophische und theologische Reflexionen, Bilder und Erinnerungsfragmente, Gebete, Skizzen zu Erzählungen und imaginären Predigten; das alles von abbreviaturhafter Dichte, zusammengedrängt auf wenige Seiten, angetrieben von Wahrheitsdrang und existenzieller Angst.

Die Außenwelt der Stadt dringt in diesen Weltinnenraum nur selten ein, sichtbar kaum, allenfalls hörbar. Der Gesang eines Leierkastenmannes unterm Zimmerfenster gibt Anlass zu neuen Lebensfragen; Opernbesuche lassen Mozarts "Don Giovanni" aufleben, mit weit reichenden Folgen für sein Konzept seines erotischen "Ästhetikers". Was immer den Eremiten an Lebensmaterial erreicht, es geht ein in das Werk, das sich in den vier kleinen "Berliner Tagebüchern" vorbereitet. Tim Hagemann hat sie aus den hinterlassenen Papieren des Dichterphilosophen rekonstruiert, glänzend neu übersetzt und so kompetent wie knapp erläutert. Herausgekommen ist ein schmaler und reicher Band, in dem man wenig über Berlin erfährt, aber dafür einiges über Gott und die Welt.

Es hätte nicht viel gefehlt, und Kierkegaard wäre Unter den Linden seinem Kopenhagener Antipoden begegnet. Immerhin sieben Mal hielt sich (dies der Titel von Heinz Barüskes materialreicher Darstellung) "Hans Christian Andersen in Berlin" auf, manchmal blieb er für mehrere Wochen. In Kierkegaards Wintersemester 1841/1842 traf auch er auf Schelling, mit dem er freilich, was auf Gegenseitigkeit beruhte, nichts Rechtes anzufangen wusste; das Tagebuch vermerkt knapp: "Amüsierte mich nicht." Im Übrigen aber war der Weitgereiste auch in Berlin durchaus amused; rastlos wie immer, fortwährend unterwegs zu Audienzen bei Standespersonen bis zu Friedrich Wilhelm V., zum Tee bei Tieck und den Brüdern Grimm, bei Theaterleuten, Verlegern und Journalisten; ein Promotor seiner selbst und zugleich ein fortwährend und wahllos Beobachtender. Vor lauter Notizen über Stadtklatsch und Sehenswürdigkeiten allerdings kommen seine Briefe und Tagebuchaufzeichnungen kaum zu einem ruhigen Gedanken, so dass die Freundschaft mit Chamisso das literarisch folgenreichste Ereignis dieser Besuche blieb. Im Gegensatz zu seinem Landsmann hat Andersen in Berlin viel erlebt und sich erstaunlich wenig dabei gedacht.

Anders als London und Paris hat Berlin den immer Neugierigen nicht zu poetischen Texten über sein Lieblingsthema von romantischer Tradition und industrieller Revolution inspiriert. Nein, unter den Metropolen der Moderne hat Berlin für Andersen eine eher nachrangige Rolle gespielt; weshalb Barüske seinen Bericht um eine Fülle von Mitteilungen anreichern muss, die zwar mit Andersen, aber gar nichts mit der Stadt zu tun haben. Mehr als ein Drittel des Bandes handelt von anderen Themen; und in den verbleibenden Teilen unterbricht nach jedem irgend geeigneten Stichwort ein Exkurs nach Art eines Lexikonartikels den Lesefluss, gleich ob es sich um Kunstwerke oder Gebäude handelt oder die Namen von (so der stehende Ausdruck) "Kulturpersönlichkeiten".

Nicht nur in der Anlage wirkt der Band unredigiert, sondern auch im Detail. Was Barüske über Andersen weiß, ist eine Menge; aber es geht hier unter in einem gewaltigen Kuddelmuddel aus Paraphrasen, Spekulationen und Banalitäten. Zu Versen aus Oehlenschlägers dänischer Nationalhymne weiß der Kommentator: "Auch bekannte deutsche Persönlichkeiten waren von Dänemarks Buchen begeistert." In jeder gelungenen Tagebuchpassage "merkt man sofort wieder den Dichter Andersen"; und dessen Ausdauer im Reisen und Schreiben ist Gegenstand dauernder Bewunderung: "Man muss sich immer wieder fragen, wie er das alles geschafft hat", "Immer wieder muss man seine Schaffenskraft bewundern", "erstaunlich, dass er trotzdem so viel schreiben konnte". Erstaunlich, allerdings; und kein Wunder deshalb, dass diesem Tausendsassa in Berlin so reichlich zuteil wurde, worauf der stille Kierkegaard noch lange warten musste: "großartige Akzeptanz".

Sören Kierkegaard: "Berliner Tagebücher". Aus dem Dänischen übersetzt und herausgegeben von Tim Hagemann. Philo Verlagsgesellschaft, Berlin und Wien 2000. 88 S., br., 20,- DM.

Heinz Barüske: "Hans Christian Andersen in Berlin". Hendrik Bäßler Verlag, Berlin 2000. 154 S., br., 14,80 DM.

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