Die drei Gedichtbände »Was will Niyazi in der Naunynstraße«^(1973), »Der kurze Traum aus Kagithane« (1974) und »Die Fremde ist auch ein Haus« (1980) bilden zusammen die »Berliner Trilogie«. Die Poeme waren unter den ersten literarisch anspruchsvollen und erfolgreichen Texten, die in Deutschland die Situation türkischer Arbeitsmigrant_innen überhaupt thematisierten. »Was will Niyazi in der Naunynstraße«, der Auftakt der Trilogie, diente als Vorlage für mehrere Filme und wurde 1987 von Tayfun Erdem vertont. Ören stellt in diesen Texten das Leben von Arbeiter_innen in der Bundesrepublik und in Berlin in all seiner Widersprüchlichkeit dar. Mit dieser Edition erscheinen die überaus erfolgreichen Bücher nun erstmals in einem Band, mit einem neuen Vorwort des Verfassers.»Aras Ören ist es gelungen, die Spannungen zwischen der trüben Umwelt der Naunynstraße und der Erinnerung an die Türkei, die sich mit den Jahren zur Illusion verdichtet, sowie die Illusion vom Leben in Deutschland und die soziale Realität in der Türkei in kräftigen Bildern und Handlungsabläufen wiederzugeben - ein Zeugnis der türkischen Odyssee und mehr, Zeugnis einer Erfahrung, die nicht nur auf die Türkei zurückwirken wird«, schrieb Ingeborg Drewitz 1973 im Tagesspiegel.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.01.2020Pinien, Zypressen
Aras Ören hat in den Siebzigerjahren Gastarbeiter in Berlin-Kreuzberg porträtiert.
Seine „Berliner Trilogie“ ist der türkische Klassiker der deutschen Migrantenliteratur
VON FELIX STEPHAN
Anfang der Sechzigerjahre war der Teil von Berlin-Kreuzberg zwischen dem Bethanien und dem Kottbusser Tor, in dem Wohnungen heute kaum mehr zu bekommen sind, weitgehend aufgegeben. Die Häuser waren leer und verriegelt, nur in vereinzelten Wohnungen lebten noch vereinzelte Senioren und teilten sich die Toiletten im Treppenhaus. Hundert Meter weiter stand die Mauer, aber die Gegend sah aus, als läge sie schon dahinter. Dann kamen die Türken. Sie saßen in den Kneipen, eröffneten kleine Läden, plötzlich roch es in der Naunynstraße nach Hammelfleisch und Hummus. Die deutschen Hausbesitzer montierten die Bretter vor den Türen direkt wieder ab und vermieteten die Wohnungen, wie sie waren.
Die meisten Türken kamen im Zuge des Anwerbeabkommens von 1961 aus Anatolien und den Slums der türkischen Großstädte, viele von ihnen Hilfsarbeiter, Hirten und Bauern, häufig Analphabeten. Unter ihnen war aber auch, und das war nicht unbedingt vorgesehen, ein junger Istanbuler Autor namens Aras Ören.
Ören ist damals nach Berlin gezogen wie heute Amerikaner: aus Neugierde und Abenteuerlust und außerdem, weil zu Hause die Religiösen mit Knüppeln vor den Türen seines experimentellen Theaters aufliefen. Örens Familie gehörte mütterlicherseits zur Crème des kulturellen Istanbuls: Der Stiefvater seiner Mutter war zweiter Sekretär in der Botschaft des osmanischen Reiches in Berlin, sein Großonkel bekannter Maler und Gründer des Hagia-Sophia-Museums. Eine behandschuhte Welt, als Kind begrüßte Ören seinen Großonkel respektvoll mit Handkuss. Als Aras Ören sechs Jahre alt war, hat ihn dieser Großonkel einmal mitgenommen auf Motivsuche, um zu schauen, ob der Kleine das Zeug zum Maler hatte, und am Ende dieser Geschichte wurde Ören Autor.
Soeben ist Aras Ören achtzig Jahre alt geworden und aus diesem Anlass hat der Berliner Verbrecher Verlag noch einmal eines seiner wichtigsten Bücher aufgelegt: Die „Berliner Trilogie“, bestehend aus drei Langgedichten, die der junge Ören in den Siebzigern in Kreuzberg geschrieben hat, als er gerade angekommen war und einigermaßen erschüttert feststellte, unter welchen Bedingungen seine Landsleute hier lebten.
Die „Berliner Trilogie“ ist im Grunde eine Sozialreportage in Versen. Die Figuren sind nah an ihren realen Vorbildern, die Geschichten basieren auf langen Gesprächen mit den Nachbarn. Für die Form des Gedichtes hatte er sich entschieden, weil Gedichte weniger Platz benötigen als Prosa, und das Buch dann also dünner sei und es sich schneller lese. Das Publikum, das er vor Augen hatte, hatte nach vierzehn Stunden in der Fabrik keinen Nerv mehr für dicke Bücher. Von Brecht stammte die Losung, die Arbeiter hätten keine Zeit für tausend Seiten Dostojewski. Außerdem war er stur und wollte keine Bücher schreiben, die seinen dichterstolzen Ansprüchen nicht genügten. Aber weil man von Renitenz nicht leben kann, musste er arbeiten: bei Telefunken, Osram, Borsig, AEG. Dabei vollzog sich eine Verwandlung. Während er in der Türkei zur urbanen, kosmopolitischen, westlich orientierten Elite gehörte, die Brecht und Beckett las und mit den anatolischen Provinzlern nichts zu tun hatte, war er jetzt von ihnen ununterscheidbar geworden. Unter dem Blick der Deutschen war er kein Avantgardist mehr, kein Intellektueller, kein Liberaler, kein Istanbulien, sondern eine neuartige Kreatur: ein Türke, wie es ihn in der Türkei nicht gab.
Heute lebt Aras Ören im feinen Wilmersdorf und verbringt die Tage damit, geduldig die Besuche und Anrufe der Journalisten entgegenzunehmen, die sich noch einmal erklären lassen wollen, wie es sich genau lebt als von Deutschen erfundener Türke. Umrahmt von osmanischen Kalligrafien sitzt Ören im Schaukelstuhl, gravitätisch wie ein Dichterfürst, schwenkt den Rotwein und die Erinnerungen, und holt dann die türkische Ausgabe der „Berliner Trilogie“ aus dem Schrank, an den Rändern überall Anmerkungen, Unterstreichungen, Überschreibungen.
Heißt das etwa, Moment, dass er die Gedichte, die vor über vierzig Jahren erschienen sind, bis heute überarbeitet? Ören, zum ersten Mal an diesem Nachmittag wirklich fröhlich: Ganz genau, das heiße es, wenngleich nur in der türkischen Ausgabe. Er verbessere Melodie und Rhythmus, tausche einzelne Wörter aus, finde neue Ausdrücke. Das muss sie sein, die Akribie, die Juwelen wie diese hervorbringt, eine Strophe in der „Berliner Trilogie“, die möglicherweise kürzeste Flüchtlingsgeschichte der Literaturgeschichte: „Wollte er alles erzählen, was er sah / es würde in kein Buch passen / aber eines Abends war Kemal in Berlin“.
Das erste der drei Langgedichte, das berühmteste, trägt schon im Titel die Frage, um die sich Örens Gesamtwerk im Grunde den Rest seines Lebens drehen wird: „Was will Niyazi in der Naunynstraße“. Der Protagonist heißt mit vollem Namen Niyazi Gümüşkiliç, stammt aus Istanbul und arbeitet als Stanzer bei der Preussag. Bei minus drei Grad sitzt er in seiner Wohnung in der Naunynstraße und denkt zurück an Istanbul-Bebek, an die „Pinien, Zypressen, Magnolien / Judasbäume und Kastanien / – an heißen Augusttagen / violetter Dunst über allem“. In Deutschland, dem „kleinen Amerika“, hatte man ihm gesagt, werde er leben wie die „Reichen von Bebek“.
Das Buch reiht die Geschichten der Gastarbeiter aneinander, jedes Gedicht ein Porträt eines Bewohner der Naunynstraße: Atifet, Halime, Süleyman, Ali. Sie arbeiten Tag und Nacht für einen Stundenlohn von Dreimarkzehn, schieben widerspruchslos Überstunden, weil sie ihre Rechte nicht kennen, werden von deutschen Arbeitgebern den Maschinen zum Fraß vorgeworfen und von deutschen Arbeitern zusammengeschlagen, weil sie die Löhne kaputtmachen. Jeden Monat schicken sie eifrig Geld nach Hause. Der türkische Staat hatte ihnen zum Abschied hinterhergerufen, sie seien Helden der Nation. An einer Stelle hält Niyazi einen Vortrag beim „Sozialisten-Verband der Naunynstraße“ und schlägt dort vor, die Geschichtsschreibung fortan selbst zu übernehmen, um sie nicht den Mächtigen zu überlassen: „wir werden die Geschichte unserer Klasse schreiben. / Sie wird anders sein als die andere, / und das ist es, / was ich begreiflich machen will“. In der „Zeit“ war damals das Kompliment zu lesen, Örens Gedichte handelten von „unseren Negern“.
Ören hatte das Buch auf Türkisch geschrieben und noch bevor es ins Deutsche übersetzt wurde, kursierte es bereits unter den Berliner Gastarbeitern. Als dann die deutsche Version erschien, so erzählt er es heute, drückten die Gastarbeiter es ihren deutschen Kollegen in die Hand mit dem Vermerk: „Hier, das sind wir.“ Am Ende hat sich das Buch 30 000 Mal verkauft, eine außerirdische Zahl für einen Gedichtband. Jetzt, in seinem Wilmersdorfer Schaukelstuhl, sagt er, ohne ihn dem Journalisten ins Notizheft zu diktieren, den Königssatz des Dichters im fortgeschrittenen Alter: „Ich bin zufrieden. Ich werde bleiben.“
Für deutsch-türkische Publizisten wie Hatice Akyün, Schriftsteller wie Deniz Utlu, Lyrikerinnen wie Safiye Can ist Aras Ören seit Jahrzehnten eine zentrale Figur. Cem Özdemir, der kürzlich fast deutscher Außenminister geworden wäre, bezeichnet er als seinen Ziehsohn, gerade gestern hätten sie telefoniert. Während des Interviews klingelt einmal das Telefon, am anderen Ende der Leitung ist ein deutscher Journalist, der Aras Ören für ein Fernsehinterview gewinnen will. Das Telefonat beginnt auf Deutsch, doch bald wechselt man ins Türkische. Wenn die deutsch-türkische Community ein Land wäre, so kann man sich das vielleicht vorstellen, wäre Aras Ören ihr Nationaldichter. Und es erzählt eine betrübliche Geschichte über den deutschen Integrationsbegriff, dass die allermeisten Deutsch-Deutschen von diesem Autor noch nie gehört haben. Ören bezeichnet sich als „treuen deutschen Staatsbürger“, aber natürlich sei er kein Deutscher.
Wie viele Avantgardisten der Sechzigerjahre ist auch Ören eigentlich ein konservativer Autor. In Örens Poetik beginnt der Identitätsverlust der Türken nicht erst mit dem Anwerbeabkommen von 1961, sondern im Grunde schon 1876, als sich das Osmanische Reich eine Verfassung nach französischem Vorbild gab. Seit 200 Jahren versuche die türkische Elite die Europäer nachzuahmen und reiche so das Bild des überlegenen Westens in die eigene Provinz weiter. Die türkischen Bauern hätten eine Istanbuler Elite vor Augen, deren Identität selbst nur eine Kopie sei, und versuchten diese wiederum nachzuahmen, wobei eine Kopie der Kopie herauskomme, eine Art koloniales Simulacrum. Auf diese Weise entstehe Identitätslosigkeit und vor diesem Hintergrund müsse man sich auch den Erfolg des türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan vergegenwärtigen. Er sei seit ewigen Zeiten der erste türkische Politiker, der den Türken auf dem Land sage, dass ihre Lebensweise einen eigenen Wert habe.
Im ersten Weltkrieg kämpften die Osmanen auf der Seite des Kaiserreichs, mit Waffen von Krupp zogen sie als Fußsoldaten durch die syrische Wüste, um einen europäischen Krieg auszufechten, und in den Hinterköpfen der Kreuzberger Gastarbeiter hallen diese traumatischen Entfremdungserfahrungen auch fünfzig Jahre später noch nach: „Wir marschierten / von einem Land zum andern; / die winzigen Sandkörner / an unseren Fußsohlen / waren das Höllenfeuer, / und in unserem Rücken steckte / Yezids krummer Dolch: Verrat / aller Schattierungen. / Und doch marschierten wir. / Nach den Depeschen aus Berlin / marschierten wir, / die verstaubte Enveriye auf dem Kopf, / wie ein Sieb durchlöchert / die Haare verlaust und der Bart.“
Die Geschichte der Türkei, das diktiert Ören dem Journalisten jetzt doch in den Notizblock, sei eine Geschichte des Identitätsverlustes, und übrigens sei es seinem Vater ganz genauso gegangen. Örens Vater stammte aus einem kleinen Dorf, in dem kaum Türkisch gesprochen wurde, aber weil seine Noten exzellent waren, bekam er ein Stipendium für die Technische Universität Istanbul und heiratete sich nach seinem Abschluss in die Istanbuler Oberschicht ein. Der Preis für das neue Leben bestand darin, seine bäuerliche Herkunft fortan zu verleugnen und nach westlichen Idealen zu leben. In Örens Poetik beginnt die Fremde für die türkische Seele im Grunde schon in dem Moment, in dem die Asphaltstraßen, die sich von Istanbul aus ins Landesinnere fräsen, das eigene Dorf erreichen und alle schon ahnen, dass am anderen Ende die Straße Deutschland wartet. Wie Tentakel greifen diese Straßen nach den Türken, um sie den Schichtleitern bei Krupp oder Borsig zuzuführen.
Identität bestehe aus drei Pfeilern, sagt Ören: Sprache, Religion und Lebensgewohnheiten. Die zweite und dritte Generation der Türken in Deutschland habe ihre Sprache weitgehend aufgegeben und das bereite ihm einige Sorgen. Weil die türkischstämmigen Deutschen nie ganz Deutsche werden können, selbst wenn sie wollten, dürften sie diese Seite ihrer Identität nicht vergessen, sonst verlören sie die Orientierung. Assimilation sei für die türkischstämmigen Deutschen unmöglich, auch wenn man sich das gern einrede in den oberen Etagen, unter Ärzten, Anwälten und Professoren. Aber sobald ein Mehmet oder ein Hamit bei einer Behörde auftauche, werde er umgehend geduzt. Als Belit Onay, der neue Bürgermeister von Hannover, kürzlich in einem Interview sagte, er sei seinem Vater heute dankbar, dass er ihn einst genötigt habe, als Kind Türkisch zu lernen, und dass er es mit seinen eigenen Kindern heute genauso halte, war Aras Ören so entzückt, dass er ihm eines seiner Bücher schickte. Die Neuauflage seiner „Berliner Trilogie“ hat er nun den Kindern und Enkeln der Türken gewidmet, die damals ihre Dörfer zurückgelassen haben, um nach Deutschland überzusiedeln, und die sich dort verwandelten in „namenlose Niemands, eine anonyme, nicht eben vertrauenswürdige Masse Mensch“. Ihre Kinder, „ob Dönerverkäufer oder Fabrikant, Rechtsanwalt, Arzt, ob Polizist oder Mechaniker, Geschäftsmann oder Mitglied des Parlaments“ seien alle längst Europäer geworden. Diese Trilogie, so schreibt es Aras Ören im Oktober 2019 als Widmung auf die erste Seite, möge ihnen dabei helfen, „der Geschichte ihrer Väter und Mütter näher zu kommen und sie vor dem Vergessen zu bewahren“.
Aras Ören: Berliner Trilogie. Drei Poeme. Aus dem Türkischen von H. Achmed Schmiede, Johannes Schenk, Jürgen Theobaldy und Gisela Kraft. Verbrecher Verlag, Berlin 2019. 229 Seiten, 22 Euro.
In Deutschland war er
plötzlich kein Intellektueller
mehr, sondern Türke
Wäre die deutsch-türkische
Community ein Land, wäre Aras
Ören ihr Nationaldichter
Europa, deine Geschichte
ist eine riesige blutende Wunde.
Und wenn das Blut in der Wunde trocknet,
bleibt die Narbe
und bleibt auch morgen im Blick,
in eurem
und in unserem.“
„Ich bin zufrieden. Ich werde bleiben“: Der Schriftsteller Aras Ören in seiner Wohnung in Berlin-Wilmersdorf.
Foto: ullstein bild / Thielker
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Aras Ören hat in den Siebzigerjahren Gastarbeiter in Berlin-Kreuzberg porträtiert.
Seine „Berliner Trilogie“ ist der türkische Klassiker der deutschen Migrantenliteratur
VON FELIX STEPHAN
Anfang der Sechzigerjahre war der Teil von Berlin-Kreuzberg zwischen dem Bethanien und dem Kottbusser Tor, in dem Wohnungen heute kaum mehr zu bekommen sind, weitgehend aufgegeben. Die Häuser waren leer und verriegelt, nur in vereinzelten Wohnungen lebten noch vereinzelte Senioren und teilten sich die Toiletten im Treppenhaus. Hundert Meter weiter stand die Mauer, aber die Gegend sah aus, als läge sie schon dahinter. Dann kamen die Türken. Sie saßen in den Kneipen, eröffneten kleine Läden, plötzlich roch es in der Naunynstraße nach Hammelfleisch und Hummus. Die deutschen Hausbesitzer montierten die Bretter vor den Türen direkt wieder ab und vermieteten die Wohnungen, wie sie waren.
Die meisten Türken kamen im Zuge des Anwerbeabkommens von 1961 aus Anatolien und den Slums der türkischen Großstädte, viele von ihnen Hilfsarbeiter, Hirten und Bauern, häufig Analphabeten. Unter ihnen war aber auch, und das war nicht unbedingt vorgesehen, ein junger Istanbuler Autor namens Aras Ören.
Ören ist damals nach Berlin gezogen wie heute Amerikaner: aus Neugierde und Abenteuerlust und außerdem, weil zu Hause die Religiösen mit Knüppeln vor den Türen seines experimentellen Theaters aufliefen. Örens Familie gehörte mütterlicherseits zur Crème des kulturellen Istanbuls: Der Stiefvater seiner Mutter war zweiter Sekretär in der Botschaft des osmanischen Reiches in Berlin, sein Großonkel bekannter Maler und Gründer des Hagia-Sophia-Museums. Eine behandschuhte Welt, als Kind begrüßte Ören seinen Großonkel respektvoll mit Handkuss. Als Aras Ören sechs Jahre alt war, hat ihn dieser Großonkel einmal mitgenommen auf Motivsuche, um zu schauen, ob der Kleine das Zeug zum Maler hatte, und am Ende dieser Geschichte wurde Ören Autor.
Soeben ist Aras Ören achtzig Jahre alt geworden und aus diesem Anlass hat der Berliner Verbrecher Verlag noch einmal eines seiner wichtigsten Bücher aufgelegt: Die „Berliner Trilogie“, bestehend aus drei Langgedichten, die der junge Ören in den Siebzigern in Kreuzberg geschrieben hat, als er gerade angekommen war und einigermaßen erschüttert feststellte, unter welchen Bedingungen seine Landsleute hier lebten.
Die „Berliner Trilogie“ ist im Grunde eine Sozialreportage in Versen. Die Figuren sind nah an ihren realen Vorbildern, die Geschichten basieren auf langen Gesprächen mit den Nachbarn. Für die Form des Gedichtes hatte er sich entschieden, weil Gedichte weniger Platz benötigen als Prosa, und das Buch dann also dünner sei und es sich schneller lese. Das Publikum, das er vor Augen hatte, hatte nach vierzehn Stunden in der Fabrik keinen Nerv mehr für dicke Bücher. Von Brecht stammte die Losung, die Arbeiter hätten keine Zeit für tausend Seiten Dostojewski. Außerdem war er stur und wollte keine Bücher schreiben, die seinen dichterstolzen Ansprüchen nicht genügten. Aber weil man von Renitenz nicht leben kann, musste er arbeiten: bei Telefunken, Osram, Borsig, AEG. Dabei vollzog sich eine Verwandlung. Während er in der Türkei zur urbanen, kosmopolitischen, westlich orientierten Elite gehörte, die Brecht und Beckett las und mit den anatolischen Provinzlern nichts zu tun hatte, war er jetzt von ihnen ununterscheidbar geworden. Unter dem Blick der Deutschen war er kein Avantgardist mehr, kein Intellektueller, kein Liberaler, kein Istanbulien, sondern eine neuartige Kreatur: ein Türke, wie es ihn in der Türkei nicht gab.
Heute lebt Aras Ören im feinen Wilmersdorf und verbringt die Tage damit, geduldig die Besuche und Anrufe der Journalisten entgegenzunehmen, die sich noch einmal erklären lassen wollen, wie es sich genau lebt als von Deutschen erfundener Türke. Umrahmt von osmanischen Kalligrafien sitzt Ören im Schaukelstuhl, gravitätisch wie ein Dichterfürst, schwenkt den Rotwein und die Erinnerungen, und holt dann die türkische Ausgabe der „Berliner Trilogie“ aus dem Schrank, an den Rändern überall Anmerkungen, Unterstreichungen, Überschreibungen.
Heißt das etwa, Moment, dass er die Gedichte, die vor über vierzig Jahren erschienen sind, bis heute überarbeitet? Ören, zum ersten Mal an diesem Nachmittag wirklich fröhlich: Ganz genau, das heiße es, wenngleich nur in der türkischen Ausgabe. Er verbessere Melodie und Rhythmus, tausche einzelne Wörter aus, finde neue Ausdrücke. Das muss sie sein, die Akribie, die Juwelen wie diese hervorbringt, eine Strophe in der „Berliner Trilogie“, die möglicherweise kürzeste Flüchtlingsgeschichte der Literaturgeschichte: „Wollte er alles erzählen, was er sah / es würde in kein Buch passen / aber eines Abends war Kemal in Berlin“.
Das erste der drei Langgedichte, das berühmteste, trägt schon im Titel die Frage, um die sich Örens Gesamtwerk im Grunde den Rest seines Lebens drehen wird: „Was will Niyazi in der Naunynstraße“. Der Protagonist heißt mit vollem Namen Niyazi Gümüşkiliç, stammt aus Istanbul und arbeitet als Stanzer bei der Preussag. Bei minus drei Grad sitzt er in seiner Wohnung in der Naunynstraße und denkt zurück an Istanbul-Bebek, an die „Pinien, Zypressen, Magnolien / Judasbäume und Kastanien / – an heißen Augusttagen / violetter Dunst über allem“. In Deutschland, dem „kleinen Amerika“, hatte man ihm gesagt, werde er leben wie die „Reichen von Bebek“.
Das Buch reiht die Geschichten der Gastarbeiter aneinander, jedes Gedicht ein Porträt eines Bewohner der Naunynstraße: Atifet, Halime, Süleyman, Ali. Sie arbeiten Tag und Nacht für einen Stundenlohn von Dreimarkzehn, schieben widerspruchslos Überstunden, weil sie ihre Rechte nicht kennen, werden von deutschen Arbeitgebern den Maschinen zum Fraß vorgeworfen und von deutschen Arbeitern zusammengeschlagen, weil sie die Löhne kaputtmachen. Jeden Monat schicken sie eifrig Geld nach Hause. Der türkische Staat hatte ihnen zum Abschied hinterhergerufen, sie seien Helden der Nation. An einer Stelle hält Niyazi einen Vortrag beim „Sozialisten-Verband der Naunynstraße“ und schlägt dort vor, die Geschichtsschreibung fortan selbst zu übernehmen, um sie nicht den Mächtigen zu überlassen: „wir werden die Geschichte unserer Klasse schreiben. / Sie wird anders sein als die andere, / und das ist es, / was ich begreiflich machen will“. In der „Zeit“ war damals das Kompliment zu lesen, Örens Gedichte handelten von „unseren Negern“.
Ören hatte das Buch auf Türkisch geschrieben und noch bevor es ins Deutsche übersetzt wurde, kursierte es bereits unter den Berliner Gastarbeitern. Als dann die deutsche Version erschien, so erzählt er es heute, drückten die Gastarbeiter es ihren deutschen Kollegen in die Hand mit dem Vermerk: „Hier, das sind wir.“ Am Ende hat sich das Buch 30 000 Mal verkauft, eine außerirdische Zahl für einen Gedichtband. Jetzt, in seinem Wilmersdorfer Schaukelstuhl, sagt er, ohne ihn dem Journalisten ins Notizheft zu diktieren, den Königssatz des Dichters im fortgeschrittenen Alter: „Ich bin zufrieden. Ich werde bleiben.“
Für deutsch-türkische Publizisten wie Hatice Akyün, Schriftsteller wie Deniz Utlu, Lyrikerinnen wie Safiye Can ist Aras Ören seit Jahrzehnten eine zentrale Figur. Cem Özdemir, der kürzlich fast deutscher Außenminister geworden wäre, bezeichnet er als seinen Ziehsohn, gerade gestern hätten sie telefoniert. Während des Interviews klingelt einmal das Telefon, am anderen Ende der Leitung ist ein deutscher Journalist, der Aras Ören für ein Fernsehinterview gewinnen will. Das Telefonat beginnt auf Deutsch, doch bald wechselt man ins Türkische. Wenn die deutsch-türkische Community ein Land wäre, so kann man sich das vielleicht vorstellen, wäre Aras Ören ihr Nationaldichter. Und es erzählt eine betrübliche Geschichte über den deutschen Integrationsbegriff, dass die allermeisten Deutsch-Deutschen von diesem Autor noch nie gehört haben. Ören bezeichnet sich als „treuen deutschen Staatsbürger“, aber natürlich sei er kein Deutscher.
Wie viele Avantgardisten der Sechzigerjahre ist auch Ören eigentlich ein konservativer Autor. In Örens Poetik beginnt der Identitätsverlust der Türken nicht erst mit dem Anwerbeabkommen von 1961, sondern im Grunde schon 1876, als sich das Osmanische Reich eine Verfassung nach französischem Vorbild gab. Seit 200 Jahren versuche die türkische Elite die Europäer nachzuahmen und reiche so das Bild des überlegenen Westens in die eigene Provinz weiter. Die türkischen Bauern hätten eine Istanbuler Elite vor Augen, deren Identität selbst nur eine Kopie sei, und versuchten diese wiederum nachzuahmen, wobei eine Kopie der Kopie herauskomme, eine Art koloniales Simulacrum. Auf diese Weise entstehe Identitätslosigkeit und vor diesem Hintergrund müsse man sich auch den Erfolg des türkischen Präsidenten Tayyip Erdoğan vergegenwärtigen. Er sei seit ewigen Zeiten der erste türkische Politiker, der den Türken auf dem Land sage, dass ihre Lebensweise einen eigenen Wert habe.
Im ersten Weltkrieg kämpften die Osmanen auf der Seite des Kaiserreichs, mit Waffen von Krupp zogen sie als Fußsoldaten durch die syrische Wüste, um einen europäischen Krieg auszufechten, und in den Hinterköpfen der Kreuzberger Gastarbeiter hallen diese traumatischen Entfremdungserfahrungen auch fünfzig Jahre später noch nach: „Wir marschierten / von einem Land zum andern; / die winzigen Sandkörner / an unseren Fußsohlen / waren das Höllenfeuer, / und in unserem Rücken steckte / Yezids krummer Dolch: Verrat / aller Schattierungen. / Und doch marschierten wir. / Nach den Depeschen aus Berlin / marschierten wir, / die verstaubte Enveriye auf dem Kopf, / wie ein Sieb durchlöchert / die Haare verlaust und der Bart.“
Die Geschichte der Türkei, das diktiert Ören dem Journalisten jetzt doch in den Notizblock, sei eine Geschichte des Identitätsverlustes, und übrigens sei es seinem Vater ganz genauso gegangen. Örens Vater stammte aus einem kleinen Dorf, in dem kaum Türkisch gesprochen wurde, aber weil seine Noten exzellent waren, bekam er ein Stipendium für die Technische Universität Istanbul und heiratete sich nach seinem Abschluss in die Istanbuler Oberschicht ein. Der Preis für das neue Leben bestand darin, seine bäuerliche Herkunft fortan zu verleugnen und nach westlichen Idealen zu leben. In Örens Poetik beginnt die Fremde für die türkische Seele im Grunde schon in dem Moment, in dem die Asphaltstraßen, die sich von Istanbul aus ins Landesinnere fräsen, das eigene Dorf erreichen und alle schon ahnen, dass am anderen Ende die Straße Deutschland wartet. Wie Tentakel greifen diese Straßen nach den Türken, um sie den Schichtleitern bei Krupp oder Borsig zuzuführen.
Identität bestehe aus drei Pfeilern, sagt Ören: Sprache, Religion und Lebensgewohnheiten. Die zweite und dritte Generation der Türken in Deutschland habe ihre Sprache weitgehend aufgegeben und das bereite ihm einige Sorgen. Weil die türkischstämmigen Deutschen nie ganz Deutsche werden können, selbst wenn sie wollten, dürften sie diese Seite ihrer Identität nicht vergessen, sonst verlören sie die Orientierung. Assimilation sei für die türkischstämmigen Deutschen unmöglich, auch wenn man sich das gern einrede in den oberen Etagen, unter Ärzten, Anwälten und Professoren. Aber sobald ein Mehmet oder ein Hamit bei einer Behörde auftauche, werde er umgehend geduzt. Als Belit Onay, der neue Bürgermeister von Hannover, kürzlich in einem Interview sagte, er sei seinem Vater heute dankbar, dass er ihn einst genötigt habe, als Kind Türkisch zu lernen, und dass er es mit seinen eigenen Kindern heute genauso halte, war Aras Ören so entzückt, dass er ihm eines seiner Bücher schickte. Die Neuauflage seiner „Berliner Trilogie“ hat er nun den Kindern und Enkeln der Türken gewidmet, die damals ihre Dörfer zurückgelassen haben, um nach Deutschland überzusiedeln, und die sich dort verwandelten in „namenlose Niemands, eine anonyme, nicht eben vertrauenswürdige Masse Mensch“. Ihre Kinder, „ob Dönerverkäufer oder Fabrikant, Rechtsanwalt, Arzt, ob Polizist oder Mechaniker, Geschäftsmann oder Mitglied des Parlaments“ seien alle längst Europäer geworden. Diese Trilogie, so schreibt es Aras Ören im Oktober 2019 als Widmung auf die erste Seite, möge ihnen dabei helfen, „der Geschichte ihrer Väter und Mütter näher zu kommen und sie vor dem Vergessen zu bewahren“.
Aras Ören: Berliner Trilogie. Drei Poeme. Aus dem Türkischen von H. Achmed Schmiede, Johannes Schenk, Jürgen Theobaldy und Gisela Kraft. Verbrecher Verlag, Berlin 2019. 229 Seiten, 22 Euro.
In Deutschland war er
plötzlich kein Intellektueller
mehr, sondern Türke
Wäre die deutsch-türkische
Community ein Land, wäre Aras
Ören ihr Nationaldichter
Europa, deine Geschichte
ist eine riesige blutende Wunde.
Und wenn das Blut in der Wunde trocknet,
bleibt die Narbe
und bleibt auch morgen im Blick,
in eurem
und in unserem.“
„Ich bin zufrieden. Ich werde bleiben“: Der Schriftsteller Aras Ören in seiner Wohnung in Berlin-Wilmersdorf.
Foto: ullstein bild / Thielker
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