»Ein Unvergleichlicher« - so wurde André Dhôtel schon zu Lebzeiten genannt. Die vermeintliche Harmlosigkeit der kristallklaren Sätze seiner Prosa täuscht nur auf den ersten Blick darüber hinweg, dass sie direkt in die unendlichen Weiten der »Weltinnenräume« unserer Seelen führen, wie Philippe Jaccottet notierte. Bernard der Faulpelz, ein typischer Charakter Dhôtels bukolisch anmutender Romane, wird getragen von einer stillen Sehnsucht: Lebend in einer Kleinstadt, die Augen offen für das Wunderbare in der Welt des Kleinen und Alltäglichen, entführt er den Leser in die wahre Wirklichkeit, die Dhôtel »in der Gestalt klar umrissener Rätsel« (Peter Handke) sichtbar macht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 27.04.2022Die heikle Kunst des Verirrens
Umgekehrte Liebe auf den ersten Blick: André Dhôtel erzählt in "Bernard der Faulpelz" eine Hassgeschichte - und ein Virtuosenstück.
Jean Paulhan, der Kritiker und legendäre Herrscher über die "Nouvelle Revue Française" hätte es besser wissen müssen: Auf die Nachwelt ist kein Verlass. Er selbst war überzeugt, diese Nachwelt werde André Dhôtel jenen höchsten Rang zusprechen, den er verdiente: "André Dhôtel ist unser Dickens." Aber trotz zahlreicher Fürsprecher - Maurice Blanchot, François Mauriac, Philippe Jaccottet -, trotz bedeutender Preise blieb Dhôtel mit seinem umfangreichen Werk ein Autor am Rand des geschäftigen Betriebs, und man hat nicht den Eindruck, dass er sich dort unwohl fühlte. Hat man ihn früh schon als altmodisch, überholt gescholten, so zeigt sich heute gerade das Unzeitgemäße als die Eigenschaft, durch die seine Romane alle Moden faszinierend überdauert haben.
Der 1900 in Attigny, einer Kleinstadt in den Ardennen, geborene und 1991 gestorbene Dhôtel zählt zu jener Autorenspezies, der abwechslungs- und vergnügungssüchtige Kritiker gern vorhalten, sie hätten zeitlebens immer dasselbe Buch verfasst - und das waren nicht wenige. Die anderen lieben gerade darin das lebenslange Abenteuer eines Erzählers, der abseits von ausgetretenen Wegen die heikle Kunst des Verirrens von Roman zu Roman mit Umsicht variiert, perfektioniert. Seine auf den ersten Blick so unspektakulären Helden des Alltags kämpfen ihren Kampf in der verkehrten Welt mit Vorliebe gegen sich selbst; selbstgewisse Konsequenz liegt ihnen ebenso fern wie die meisten anderen besonders romantypischen Leidenschaften.
Bernard Casmin ist ein solcher linkshändiger Held. "Stolpern fördert", heißt es irgendwo bei Goethe, aber das ist wohl bereits zu idealistisch gedacht. Bernard ist ein durch und durch sympathischer junger Mann, den alle Welt einen "Faulpelz" nennt, selbst wenn man nicht genau weiß, wieso. Seine hervorstechende Eigenschaft ist eine ungewöhnliche Harmlosigkeit, aber das wär's auch schon. Er lebt ein ruhiges Angestelltenleben in der Provinz, am Rand der Berge, im Hause seiner bürgerlich-provinziellen Cousins, wird rundum geschätzt, und seine Cousine Noémi plant deshalb das Notwendige für eine Heirat mit der wunderschönen Nachbarstochter Estelle Jarraudet als erwünschte Krönung dieser Laufbahn. Doch das Verhängnis tritt eines Tages durch die Bürotür, und zwar ausgerechnet in der bezaubernden Gestalt der fatalen Braut: "Es ist etwas sehr Einfaches passiert, sagte Bernard. Eine Art umgekehrte Liebe auf den ersten Blick. Von der ersten Sekunde an habe ich für sie einen wahrhaftigen Hass verspürt, und ich glaube, ihr ging es haargenau so, als sie mich gesehen hat."
Von nun an geht es nur noch um das eine, und Dhôtel verfolgt die Hassgeschichte zwischen Bernard und Estelle mit der gleichen Empathie, die andere gern der großen Liebe widmen - schwer zu erklären ist das eine wie das andere. Typisch aber für Dhôtel'sche Helden macht der verträumte Bernard sich weniger Sorgen um die ganze Affäre, die keine ist, als die kuriose Heerschar der rettungslos in Intrigen verrannten Provinzbewohner. Mit kunstvoller Akribie verwebt und verheddert der Autor die Handlungsfäden, lässt den staunenden Leser eine gute Weile im Abseits stehen, bis er wieder zurückstolpert zu Bernard, dem Helden, der zäh daran festhält, sein Glück trotz allem in diesem Nest zu suchen und zu finden, wo keiner ihn mehr will. Schließlich steht er nicht nur vor der Frage Liebe oder Hass, sondern auch vor der entscheidenden Wahl zwischen kleinem Gebrauchtwagen und Moped.
Was macht sie nur aus, diese ungewöhnliche Erzählstimme, für die es kaum einen Vergleich gibt im französischen Roman? Als hätten Adalbert Stifter und Wilhelm Genazino sich zusammengetan zum Studium eines japanischen Zen-Poeten: Vom einen stammt die epische Gelassenheit, die Versenkung ins Detail, die Liebe zum Kleinen und Kleinsten; vom anderen die Schrecken der Gewöhnlichkeit, der doppelte Boden von Witz, Paradox und sprachlichen Funken: "Blaiseau war ein Mann reiferen Alters. Bürstenartiger Schnurrbart. Etwas irre Blicke. Aber er galt zu Recht als besonnener Kaufmann." Man muss sich in Acht nehmen vor der offenkundigen Einfachheit der Dhôtel'schen Sätze, denn hinter ihnen lauert mehr als einmal der irre Blick, und ebenso vor seinen Kommentaren, die er wie nebenher einstreut in den Fluss des merkwürdigen Geschehens: "Bienen flogen vorbei, Hummeln . . . Bernard kam in den Sinn, dass der Wind nur an der Stelle zu wehen scheint, an der man sich befindet, aber in Wirklichkeit überall zugleich ist, über dem kleinen Tümpel in der Ebene, über der Doune, über den Weiden und den Tannen zwischen den Felsen und schließlich inmitten der feinsten Städte Europas. Derartige Überlegungen sind allerdings nicht dazu angetan, einen jungen Mann einer ertragreichen Karriere zuzuführen." Und man ahnt alsbald, dass Bernard tatsächlich weniger Interesse hat an einer solchen Karriere als vielmehr an der interesselos wohlgefälligen Kontemplation der irren Welt.
Diese Kontemplation teilt er mit seinem Autor. Doch was dieser Autor dem Helden voraus hat, das ist seine Genauigkeit, seine Intelligenz, aber auch das Vergnügen an der sprachlichen Volte, stets auf der Grenze zwischen scheinbarer Naivität und einer Weltweisheit, die sich durch keine spektakuläre Dramatik ins Bockshorn jagen lässt - obwohl der Roman in fast klassischer Manier dann doch in sein winterkaltes Finale rennt. "Die Fährten, die er legt, sind keinmal die in manchen Kriminalromanen handelsüblichen falschen", schreibt Peter Handke in seinem Vorwort: "Auch wenn es Wildfährten sind, scheinbar ziellose, nirgendwohin führende, führen sie weiter." Und wenn Anne Weber mit ihrem Namen und ihrer Übersetzungskunst bewirken kann, dass dieser verirrungssichere Fährtensucher in seinem Abseits jetzt auch auf Deutsch Verehrer bekommt, dann ist das sehr viel. Die Betrachtung des Windes führt wohl tatsächlich nicht zu einer ertragreichen Karriere, sie ist aber ein großer Gewinn für Leser, die in Romanen anderes suchen als einen bald schon vergessenen tagesaktuellen "Plot". Dieses andere finden sie ganz sicher bei André Dhôtel. WOLFGANG MATZ
André Dhôtel: "Bernard der Faulpelz."
Aus dem Französischen von Anne Weber. Vorwort von Peter Handke. Matthes & Seitz, Berlin 2022. 180 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Umgekehrte Liebe auf den ersten Blick: André Dhôtel erzählt in "Bernard der Faulpelz" eine Hassgeschichte - und ein Virtuosenstück.
Jean Paulhan, der Kritiker und legendäre Herrscher über die "Nouvelle Revue Française" hätte es besser wissen müssen: Auf die Nachwelt ist kein Verlass. Er selbst war überzeugt, diese Nachwelt werde André Dhôtel jenen höchsten Rang zusprechen, den er verdiente: "André Dhôtel ist unser Dickens." Aber trotz zahlreicher Fürsprecher - Maurice Blanchot, François Mauriac, Philippe Jaccottet -, trotz bedeutender Preise blieb Dhôtel mit seinem umfangreichen Werk ein Autor am Rand des geschäftigen Betriebs, und man hat nicht den Eindruck, dass er sich dort unwohl fühlte. Hat man ihn früh schon als altmodisch, überholt gescholten, so zeigt sich heute gerade das Unzeitgemäße als die Eigenschaft, durch die seine Romane alle Moden faszinierend überdauert haben.
Der 1900 in Attigny, einer Kleinstadt in den Ardennen, geborene und 1991 gestorbene Dhôtel zählt zu jener Autorenspezies, der abwechslungs- und vergnügungssüchtige Kritiker gern vorhalten, sie hätten zeitlebens immer dasselbe Buch verfasst - und das waren nicht wenige. Die anderen lieben gerade darin das lebenslange Abenteuer eines Erzählers, der abseits von ausgetretenen Wegen die heikle Kunst des Verirrens von Roman zu Roman mit Umsicht variiert, perfektioniert. Seine auf den ersten Blick so unspektakulären Helden des Alltags kämpfen ihren Kampf in der verkehrten Welt mit Vorliebe gegen sich selbst; selbstgewisse Konsequenz liegt ihnen ebenso fern wie die meisten anderen besonders romantypischen Leidenschaften.
Bernard Casmin ist ein solcher linkshändiger Held. "Stolpern fördert", heißt es irgendwo bei Goethe, aber das ist wohl bereits zu idealistisch gedacht. Bernard ist ein durch und durch sympathischer junger Mann, den alle Welt einen "Faulpelz" nennt, selbst wenn man nicht genau weiß, wieso. Seine hervorstechende Eigenschaft ist eine ungewöhnliche Harmlosigkeit, aber das wär's auch schon. Er lebt ein ruhiges Angestelltenleben in der Provinz, am Rand der Berge, im Hause seiner bürgerlich-provinziellen Cousins, wird rundum geschätzt, und seine Cousine Noémi plant deshalb das Notwendige für eine Heirat mit der wunderschönen Nachbarstochter Estelle Jarraudet als erwünschte Krönung dieser Laufbahn. Doch das Verhängnis tritt eines Tages durch die Bürotür, und zwar ausgerechnet in der bezaubernden Gestalt der fatalen Braut: "Es ist etwas sehr Einfaches passiert, sagte Bernard. Eine Art umgekehrte Liebe auf den ersten Blick. Von der ersten Sekunde an habe ich für sie einen wahrhaftigen Hass verspürt, und ich glaube, ihr ging es haargenau so, als sie mich gesehen hat."
Von nun an geht es nur noch um das eine, und Dhôtel verfolgt die Hassgeschichte zwischen Bernard und Estelle mit der gleichen Empathie, die andere gern der großen Liebe widmen - schwer zu erklären ist das eine wie das andere. Typisch aber für Dhôtel'sche Helden macht der verträumte Bernard sich weniger Sorgen um die ganze Affäre, die keine ist, als die kuriose Heerschar der rettungslos in Intrigen verrannten Provinzbewohner. Mit kunstvoller Akribie verwebt und verheddert der Autor die Handlungsfäden, lässt den staunenden Leser eine gute Weile im Abseits stehen, bis er wieder zurückstolpert zu Bernard, dem Helden, der zäh daran festhält, sein Glück trotz allem in diesem Nest zu suchen und zu finden, wo keiner ihn mehr will. Schließlich steht er nicht nur vor der Frage Liebe oder Hass, sondern auch vor der entscheidenden Wahl zwischen kleinem Gebrauchtwagen und Moped.
Was macht sie nur aus, diese ungewöhnliche Erzählstimme, für die es kaum einen Vergleich gibt im französischen Roman? Als hätten Adalbert Stifter und Wilhelm Genazino sich zusammengetan zum Studium eines japanischen Zen-Poeten: Vom einen stammt die epische Gelassenheit, die Versenkung ins Detail, die Liebe zum Kleinen und Kleinsten; vom anderen die Schrecken der Gewöhnlichkeit, der doppelte Boden von Witz, Paradox und sprachlichen Funken: "Blaiseau war ein Mann reiferen Alters. Bürstenartiger Schnurrbart. Etwas irre Blicke. Aber er galt zu Recht als besonnener Kaufmann." Man muss sich in Acht nehmen vor der offenkundigen Einfachheit der Dhôtel'schen Sätze, denn hinter ihnen lauert mehr als einmal der irre Blick, und ebenso vor seinen Kommentaren, die er wie nebenher einstreut in den Fluss des merkwürdigen Geschehens: "Bienen flogen vorbei, Hummeln . . . Bernard kam in den Sinn, dass der Wind nur an der Stelle zu wehen scheint, an der man sich befindet, aber in Wirklichkeit überall zugleich ist, über dem kleinen Tümpel in der Ebene, über der Doune, über den Weiden und den Tannen zwischen den Felsen und schließlich inmitten der feinsten Städte Europas. Derartige Überlegungen sind allerdings nicht dazu angetan, einen jungen Mann einer ertragreichen Karriere zuzuführen." Und man ahnt alsbald, dass Bernard tatsächlich weniger Interesse hat an einer solchen Karriere als vielmehr an der interesselos wohlgefälligen Kontemplation der irren Welt.
Diese Kontemplation teilt er mit seinem Autor. Doch was dieser Autor dem Helden voraus hat, das ist seine Genauigkeit, seine Intelligenz, aber auch das Vergnügen an der sprachlichen Volte, stets auf der Grenze zwischen scheinbarer Naivität und einer Weltweisheit, die sich durch keine spektakuläre Dramatik ins Bockshorn jagen lässt - obwohl der Roman in fast klassischer Manier dann doch in sein winterkaltes Finale rennt. "Die Fährten, die er legt, sind keinmal die in manchen Kriminalromanen handelsüblichen falschen", schreibt Peter Handke in seinem Vorwort: "Auch wenn es Wildfährten sind, scheinbar ziellose, nirgendwohin führende, führen sie weiter." Und wenn Anne Weber mit ihrem Namen und ihrer Übersetzungskunst bewirken kann, dass dieser verirrungssichere Fährtensucher in seinem Abseits jetzt auch auf Deutsch Verehrer bekommt, dann ist das sehr viel. Die Betrachtung des Windes führt wohl tatsächlich nicht zu einer ertragreichen Karriere, sie ist aber ein großer Gewinn für Leser, die in Romanen anderes suchen als einen bald schon vergessenen tagesaktuellen "Plot". Dieses andere finden sie ganz sicher bei André Dhôtel. WOLFGANG MATZ
André Dhôtel: "Bernard der Faulpelz."
Aus dem Französischen von Anne Weber. Vorwort von Peter Handke. Matthes & Seitz, Berlin 2022. 180 S., geb., 22,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Sehr liebevoll legt uns der frühere Hanser-Lektor Wolfgang Matz diesen Roman des französischen Autors André Dhôtel ans Herz, der sich stets und vielleicht auch gar nicht so ungern am Rande des Literaturbetriebs bewegte, wie Matz erklärt. Über den Roman verrät der Rezensent, dass es sich bei besagtem Bernhard Casmin um einen ganz unspektakulären Romanhelden handelt, der sein genügsames Leben in der Provinz fristet, bis er die Frau kennenlernt, die seine Cousine ihm als Braut auserwählt hat: Er entbrennt in wahrem "Hass auf den ersten Blick". Die Wendungen und Volten, die sich daraus ergeben, deutet Matz samt "winterkaltem Finale" nur an, denn viel wichtiger ist ihm Dhôtels besondere Erzählstimme, die er uns als eine Verbindung aus Adalbert Stifter, Wilhelm Genazino und Zen-Poesie empfiehlt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.06.2022Gesellschaftskritik durch Gleichgültigkeit
Ist André Dhôtels Werk gegenwärtiger als das von Jean-Paul Sartre? Anne Weber hat es nun übersetzt. Ein Gespräch
In Deutschland ist der 1991 gestorbene französische Schriftsteller André Dhôtels wenig bekannt. Peter Handke hält André Dhôtels Werk für gegenwärtiger als das von Jean-Paul Sartre, François Mauriac oder selbst Albert Camus. Mauriac sah in ihm „den Schöpfer der sonderbarsten all unserer Romanwelten“. Sie zu beschreiben, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Hier ein Versuch, es mit der Romanautorin Anne Weber, Übersetzerin von Dhôtels 1952 erschienenem Roman „Bernard der Faulpelz“, trotzdem zu tun.
SZ: Frau Weber, Geheimtipp, Entdeckung, Offenbarung – wie kamen Sie auf diesen Autor?
Anne Weber: Mein Schwiegervater, der Dichter Philippe Jaccottet, war mit André Dhôtel seit den Vierzigern befreundet und sprach oft bewundernd von ihm. Ich begann dann vor ein paar Jahren, ihn zu lesen, gleichzeitig mit Peter Handke. Und wir waren beide sofort sehr angetan von ihm, es ist ein ungeheures Leseglück. Ich sagte mir, das möchte ich gern übersetzen.
Was ist für Sie das Besondere an ihm?
Dass er in Erstaunen versetzt. „Das Wunder der sichtbaren Welt“ ist ein Zitat von La Bruyère, das als Motto vor einem seiner Romane steht, aber für alle gelten könnte. Alles erscheint wie neu, die Dinge zeigen sich wie von ihrer Rückseite her. Figuren, Situationen und Stimmungen wenden sich in ihr Gegenteil. Oder sie tragen dieses von Anfang an in sich. Hass verkehrt sich in Liebe, Eigensinn tarnt sich als Höflichkeit. So tut sich hinter der scheinbar einfachen Erzählung eine Wirklichkeit auf, die einem gleich wieder entwischt.
Dabei gibt es sehr wohl eine nacherzählbare Handlung, auch in diesem Roman.
Gewiss, doch ist damit wenig gesagt. Die Hauptfigur ist ein junger Mann namens Bernard Casmin. Er lebt in einem französischen Provinzstädtchen. Verwandte bieten ihm Unterkunft und besorgen ihm eine Stellung. Er begegnet einer jungen Frau und nun passiert etwas, was man „Hass auf den ersten Blick“ nennen könnte, jedenfalls scheint es so. Der junge Mann verliert darüber seine Stellung und es geht mit ihm, sozial gesehen, immer weiter bergab. Das Ganze läuft auf ein schlimmes Ende zu. Oder ist es vielleicht gar nicht schlimm? Es hat etwas von einem unausweichlichen Naturereignis.
Schon die im Titel anklingende Faulheit wirkt verwunderlich. Denn dieser „Faulpelz“ ist permanent unterwegs, kurvt mit dem Motorrad durch die Gegend, durchquert Wälder, erklimmt Berghöhen.
Er ist keineswegs ein Müßiggänger, faul ist er eher im Sinn einer Trägheit hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Stellung. Sozialer Ehrgeiz geht ihm vollkommen ab. Das Wort „Faulpelz“ ist deshalb nicht unbedingt die ideale Übersetzung, aber „träge“ hätte erst recht nicht gepasst. Dieser Bernard läuft durch die Welt, ohne etwas Bestimmtes zu suchen, aber mit einem stets offenen Blick. Diese wache Losgelöstheit von jedem konkreten Ziel kann man vielleicht auch als eine Art Weisheit verstehen. Es gibt im Buch eine eindrückliche Stelle, wo Bernard im Gras liegend den Blick ziellos über die Landschaft schweifen lässt und in einer Felsspalte plötzlich ein ihn beobachtendes Auge erkennt, das eines Wildhüters. Scharf wird der Blick, wenn er nichts Bestimmtes sucht, könnte man bei Dhôtels Figuren sagen.
Die seltsame Hassliebe zwischen Bernard und der jungen Estelle wird im französischen Text als ein „coup de foudre à l’envers“, ein umgekehrter Blitzschlag bezeichnet. Sie übersetzen das mit „umgekehrte Liebe auf den ersten Blick“.
„Coup de foudre“ ist auf Französisch ein sehr gängiger Ausdruck, wie eben die deutsche „Liebe auf den ersten Blick“. Was mich bei Ausdrücken wie „Blitzschlag“ oder „Liebesblitz“ gestört hätte, wäre der Effekt einer bildhaften Poetisierung. André Dhôtel ist ein wunderbarer Erzähler mit einem natürlich fließenden dichterischen Unterton. Man muss beim Übersetzen aufpassen, seine Prosa nicht zusätzlich zu poetisieren.
Das trifft wohl auch für die ganz eigene Stimmung in seinen Romanen zu, die sich aus der stets genauen und sachlichen Beschreibung der Landschaften, Straßen, Pflanzen, Gewässer ergibt, zwischen denen sich die Figuren bewegen und in denen man die Ardennen zu erkennen glaubt.
Ich weiß, dass die Ardennen für ihn persönlich wichtig waren. Als Leserin erscheint mir das aber eher sekundär. So präzise die Dinge beschrieben sein mögen, zeigt die Geografie in seinen Romanen eine gewisse Unschärfe. Die Ortsnamen sind fiktiv und es gelingt dem Autor, aus der jeweils konkret geschilderten Topographie ein spezifisches Irgendwo zu machen. Insofern sind seine Bücher alles andere als Heimatliteratur. Das einzige, was man sagen kann, ist, dass seine Geschichten nicht in Extremlagen spielen, nicht auf hohen Bergen oder am Meer, sondern immer in den Mittellagen. Dem entspricht die Schlichtheit seiner Darstellung. Man sollte dieser aber nicht auf den Leim gehen, denn das Dargestellte ist komplexer, als es scheint. Beim Lesen drängt sich der Eindruck auf, diese Figuren lebten in einer erweiterten Welt und hätten einen Sinn für Dinge, die nur für sie wahrnehmbar sind.
Peter Handke spricht im Vorwort von der „Gestalt klar umrissener Rätsel“.
Das finde ich eine besonders schöne Formulierung. Das Gegenteil von nebulös.
Auf den ersten Blick geht Dhôtel auch jede politische Dimension ab. Er lebte zurückgezogen und mischte sich nicht in öffentliche Debatten ein. Dennoch gerät Bernard in ein Milieu obskurer Gesellen, die ihn in ihre Machenschaften „gegen die da oben“ hineinziehen wollen.
Der Roman enthält keine direkte Gesellschaftskritik. Es entsteht aber ein Bild von Gesellschaft und die ist wenig sympathisch. Sie ist geprägt von Ehrgeiz, Erfolgsstreben, Sozialstatus, Gerüchten und übler Nachrede. Bernard, dieser immer höfliche Mann, wird von ihr zusehends geächtet. Er ist ein Außenseiter, der da nicht hineinpasst. Er will keinen besseren Posten oder höheren Lohn, will nicht dazugehören, macht daraus aber kein Prinzip. Er will einfach nur in Ruhe gelassen werden. Das ist auch eine Art von Gesellschaftskritik, vielleicht sogar eine viel radikalere Form. Eine Gesellschaftskritik durch Gleichgültigkeit oder durch Dissidenz.
Dhôtel gehörte keiner literarischen Schule an und hielt sich den Bewegungen fern. Ähnlich wie die Autoren des Nouveau Roman sprengte aber auch er das konventionelle Erzählen, indem er seinen Ablauf von innen aushöhlte.
Mit dem Unterschied allerdings, dass er dafür keine Theorie brauchte. Er erzählte Geschichten, wenn auch auf unkonventionelle Weise. Das macht sein Werk unabhängig von literarischen Moden oder Bewegungen und erklärt vielleicht auch, warum so unterschiedliche Leute sich für ihn interessierten wie Maurice Blanchot, sein Lektor Jean Paulhan, Philippe Jaccottet oder heute Peter Handke.
INTERVIEW: JOSEPH HANIMANN
„Scharf wird der Blick, wenn er nichts Bestimmtes sucht.“ – Anne Weber.
Foto: dpa
André Dhôtel:
Bernard der Faulpelz. Roman. Mit einem Vorwort von Peter Handke.
Aus dem Französischen von Anne Weber.
Matthes & Seitz,
Berlin 2022.
282 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ist André Dhôtels Werk gegenwärtiger als das von Jean-Paul Sartre? Anne Weber hat es nun übersetzt. Ein Gespräch
In Deutschland ist der 1991 gestorbene französische Schriftsteller André Dhôtels wenig bekannt. Peter Handke hält André Dhôtels Werk für gegenwärtiger als das von Jean-Paul Sartre, François Mauriac oder selbst Albert Camus. Mauriac sah in ihm „den Schöpfer der sonderbarsten all unserer Romanwelten“. Sie zu beschreiben, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Hier ein Versuch, es mit der Romanautorin Anne Weber, Übersetzerin von Dhôtels 1952 erschienenem Roman „Bernard der Faulpelz“, trotzdem zu tun.
SZ: Frau Weber, Geheimtipp, Entdeckung, Offenbarung – wie kamen Sie auf diesen Autor?
Anne Weber: Mein Schwiegervater, der Dichter Philippe Jaccottet, war mit André Dhôtel seit den Vierzigern befreundet und sprach oft bewundernd von ihm. Ich begann dann vor ein paar Jahren, ihn zu lesen, gleichzeitig mit Peter Handke. Und wir waren beide sofort sehr angetan von ihm, es ist ein ungeheures Leseglück. Ich sagte mir, das möchte ich gern übersetzen.
Was ist für Sie das Besondere an ihm?
Dass er in Erstaunen versetzt. „Das Wunder der sichtbaren Welt“ ist ein Zitat von La Bruyère, das als Motto vor einem seiner Romane steht, aber für alle gelten könnte. Alles erscheint wie neu, die Dinge zeigen sich wie von ihrer Rückseite her. Figuren, Situationen und Stimmungen wenden sich in ihr Gegenteil. Oder sie tragen dieses von Anfang an in sich. Hass verkehrt sich in Liebe, Eigensinn tarnt sich als Höflichkeit. So tut sich hinter der scheinbar einfachen Erzählung eine Wirklichkeit auf, die einem gleich wieder entwischt.
Dabei gibt es sehr wohl eine nacherzählbare Handlung, auch in diesem Roman.
Gewiss, doch ist damit wenig gesagt. Die Hauptfigur ist ein junger Mann namens Bernard Casmin. Er lebt in einem französischen Provinzstädtchen. Verwandte bieten ihm Unterkunft und besorgen ihm eine Stellung. Er begegnet einer jungen Frau und nun passiert etwas, was man „Hass auf den ersten Blick“ nennen könnte, jedenfalls scheint es so. Der junge Mann verliert darüber seine Stellung und es geht mit ihm, sozial gesehen, immer weiter bergab. Das Ganze läuft auf ein schlimmes Ende zu. Oder ist es vielleicht gar nicht schlimm? Es hat etwas von einem unausweichlichen Naturereignis.
Schon die im Titel anklingende Faulheit wirkt verwunderlich. Denn dieser „Faulpelz“ ist permanent unterwegs, kurvt mit dem Motorrad durch die Gegend, durchquert Wälder, erklimmt Berghöhen.
Er ist keineswegs ein Müßiggänger, faul ist er eher im Sinn einer Trägheit hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Stellung. Sozialer Ehrgeiz geht ihm vollkommen ab. Das Wort „Faulpelz“ ist deshalb nicht unbedingt die ideale Übersetzung, aber „träge“ hätte erst recht nicht gepasst. Dieser Bernard läuft durch die Welt, ohne etwas Bestimmtes zu suchen, aber mit einem stets offenen Blick. Diese wache Losgelöstheit von jedem konkreten Ziel kann man vielleicht auch als eine Art Weisheit verstehen. Es gibt im Buch eine eindrückliche Stelle, wo Bernard im Gras liegend den Blick ziellos über die Landschaft schweifen lässt und in einer Felsspalte plötzlich ein ihn beobachtendes Auge erkennt, das eines Wildhüters. Scharf wird der Blick, wenn er nichts Bestimmtes sucht, könnte man bei Dhôtels Figuren sagen.
Die seltsame Hassliebe zwischen Bernard und der jungen Estelle wird im französischen Text als ein „coup de foudre à l’envers“, ein umgekehrter Blitzschlag bezeichnet. Sie übersetzen das mit „umgekehrte Liebe auf den ersten Blick“.
„Coup de foudre“ ist auf Französisch ein sehr gängiger Ausdruck, wie eben die deutsche „Liebe auf den ersten Blick“. Was mich bei Ausdrücken wie „Blitzschlag“ oder „Liebesblitz“ gestört hätte, wäre der Effekt einer bildhaften Poetisierung. André Dhôtel ist ein wunderbarer Erzähler mit einem natürlich fließenden dichterischen Unterton. Man muss beim Übersetzen aufpassen, seine Prosa nicht zusätzlich zu poetisieren.
Das trifft wohl auch für die ganz eigene Stimmung in seinen Romanen zu, die sich aus der stets genauen und sachlichen Beschreibung der Landschaften, Straßen, Pflanzen, Gewässer ergibt, zwischen denen sich die Figuren bewegen und in denen man die Ardennen zu erkennen glaubt.
Ich weiß, dass die Ardennen für ihn persönlich wichtig waren. Als Leserin erscheint mir das aber eher sekundär. So präzise die Dinge beschrieben sein mögen, zeigt die Geografie in seinen Romanen eine gewisse Unschärfe. Die Ortsnamen sind fiktiv und es gelingt dem Autor, aus der jeweils konkret geschilderten Topographie ein spezifisches Irgendwo zu machen. Insofern sind seine Bücher alles andere als Heimatliteratur. Das einzige, was man sagen kann, ist, dass seine Geschichten nicht in Extremlagen spielen, nicht auf hohen Bergen oder am Meer, sondern immer in den Mittellagen. Dem entspricht die Schlichtheit seiner Darstellung. Man sollte dieser aber nicht auf den Leim gehen, denn das Dargestellte ist komplexer, als es scheint. Beim Lesen drängt sich der Eindruck auf, diese Figuren lebten in einer erweiterten Welt und hätten einen Sinn für Dinge, die nur für sie wahrnehmbar sind.
Peter Handke spricht im Vorwort von der „Gestalt klar umrissener Rätsel“.
Das finde ich eine besonders schöne Formulierung. Das Gegenteil von nebulös.
Auf den ersten Blick geht Dhôtel auch jede politische Dimension ab. Er lebte zurückgezogen und mischte sich nicht in öffentliche Debatten ein. Dennoch gerät Bernard in ein Milieu obskurer Gesellen, die ihn in ihre Machenschaften „gegen die da oben“ hineinziehen wollen.
Der Roman enthält keine direkte Gesellschaftskritik. Es entsteht aber ein Bild von Gesellschaft und die ist wenig sympathisch. Sie ist geprägt von Ehrgeiz, Erfolgsstreben, Sozialstatus, Gerüchten und übler Nachrede. Bernard, dieser immer höfliche Mann, wird von ihr zusehends geächtet. Er ist ein Außenseiter, der da nicht hineinpasst. Er will keinen besseren Posten oder höheren Lohn, will nicht dazugehören, macht daraus aber kein Prinzip. Er will einfach nur in Ruhe gelassen werden. Das ist auch eine Art von Gesellschaftskritik, vielleicht sogar eine viel radikalere Form. Eine Gesellschaftskritik durch Gleichgültigkeit oder durch Dissidenz.
Dhôtel gehörte keiner literarischen Schule an und hielt sich den Bewegungen fern. Ähnlich wie die Autoren des Nouveau Roman sprengte aber auch er das konventionelle Erzählen, indem er seinen Ablauf von innen aushöhlte.
Mit dem Unterschied allerdings, dass er dafür keine Theorie brauchte. Er erzählte Geschichten, wenn auch auf unkonventionelle Weise. Das macht sein Werk unabhängig von literarischen Moden oder Bewegungen und erklärt vielleicht auch, warum so unterschiedliche Leute sich für ihn interessierten wie Maurice Blanchot, sein Lektor Jean Paulhan, Philippe Jaccottet oder heute Peter Handke.
INTERVIEW: JOSEPH HANIMANN
„Scharf wird der Blick, wenn er nichts Bestimmtes sucht.“ – Anne Weber.
Foto: dpa
André Dhôtel:
Bernard der Faulpelz. Roman. Mit einem Vorwort von Peter Handke.
Aus dem Französischen von Anne Weber.
Matthes & Seitz,
Berlin 2022.
282 Seiten, 24 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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