Produktdetails
  • Verlag: PHILO Fine Arts
  • ISBN-13: 9783364003030
  • ISBN-10: 3364003033
  • Artikelnr.: 24920097
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.05.2001

Ein Venezianer in Sachsen
Wo das Leben ganz pittoresk sein darf: Ein Band wandelt auf den Spuren Canalettos in Pirna

Der mehrfach gemalte Dresdner "Canalettoblick", vom Neustädter Ufer über die Elbe hinweg auf die Brühlsche Terrasse, ist so populär wie Raffaels Sixtinische Madonna, Giorgiones Schlummernde Venus und Liotards Schokoladenmädchen. Gleich ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg brachte der Dresdner Wolfgang Jess Verlag eine schön gestaltete Mappe mit acht Lichtdrucken, "Das alte Dresden", nach Radierungen Canalettos heraus; seine Bilder, schreibt der damalige Galeriedirektor Wolfgang Balzer, seien "beinahe das einzige, was vom barocken Dresden geblieben ist".

Ein Luxus-Devisen-Restaurant im Interhotel Bellevue schmückte sich in DDR-Zeiten mit dem Namen des augusteischen Hofmalers: "Canaletto"; ein italienisches Restaurant, der katholischen Hofkirche gegenüber, heißt heute "Bellotto". Der changierende Name des Künstlers - Bernardo Bellotto detto Canaletto, einmal nur Bellotto oder einmal nur Canaletto (nach dem Onkel) - mag manchen in Verwirrung stürzen.

Canaletto hier, Canaletto da. Venedig, Dresden, Wien, München und Warschau. Nun Canaletto und die sächsische Kleinstadt Pirna, die er fast genausooft gemalt hat wie Dresden. Warum Pirna, fragt Werner Schmidt, ehemaliger Direktor des Dresdner Kupferstich-Kabinetts, nach der Wende Generaldirektor der Staatlichen Kunstsammlungen und seit der Pensionierung Präsident der Sächsischen Akademie der Künste. Er hat freie Stunden des Alters genutzt, seiner Stadt - er ist in Pirna-Copitz geboren - ein Denkmal zu setzen, als Buchautor und Herausgeber eines Bandes mit dem barocken Titel "Bernardo Bellotto genannt Canaletto in Pirna und auf der Festung Königstein". Warum also Pirna? Harald Keller schon sprach einmal ausdrücklich vom "berühmten Bild des Marktplatzes in Pirna". Gewiß, Meißen elbabwärts ist beliebter als Pirna elbaufwärts, doch ist Pirna das Tor zum Elbsandsteingebirge, der "Sächsischen Schweiz", näher an der Residenz, über das Lustschloß Pillnitz und den Park von Großsedlitz rascher zu erreichen, zudem willkommene Zwischenstation in Richtung Osten. In kriegerischer Absicht wurde Pirna von Friedrich dem Großen wie von Napoleon heimgesucht.

Pirna, das war für den Venezianer das ganz andere: ältere Architektur, weniger italienisch vertraut, deutscher, fremder. Als Canaletto sein Dresden malte, war Dresden neu, aktuell. Moderne Architektur und zeitgenössische Malerei waren einander nicht feind - unvorstellbar, daß heute ein großer Künstler das neue Dresden als bildwürdig malen könnte. Künstler des zwanzigsten Jahrhunderts adaptierten und paraphrasierten den verehrten Gewährsmann einer besseren Vergangenheit.

Die geradezu geometrische und dank der Perspektiven gar stereometrische Strenge der Komposition begründete in Dresden, noch vor dem nüchtern-kahlen Romantiker Kersting, ein konstruktives, dem späteren Konstruktivismus holdes Moment, das noch in den Dächerlandschaften Hermann Glöckners kulminierte. Canalettos Kreuzkirchen-Ruine ist ein Solitär im OEuvre des Künstlers, ein realistisches Schreckbild, wie es nach 1945 in Dresden Wilhelm Rudolph zu seiner grauenerfüllten Domäne machen sollte. Der einstige ASSO-Maler Werner Hofmann sah neusachlich-neuromantisch die Brühlsche Terrasse mit einem Segelschiffchen "venezianisch", wie er auch den "Pieschener Winkel", durch Dix zunächst matrosenproletarisch besetzt, als einen Dresdner Lido nobilitierte. Ernst Hassebrauk verkehrte in einer Collage die Farbigkeit Canalettos mit Absicht expressiv in ihr Gegenteil. Schmidt-Kirstein löste in einer nervös feinen Kugelschreiberzeichnung eine Canaletto-Vedute impressiv auf.

Canaletto gibt Nahrung für viele. Hugo von Hofmannsthal, neurokokoselig, hat in genialem Mißverstehen (im Prolog zum "Anatol") Canaletto als eine Art Watteau sehen wollen. Eher ist Canaletto dem Haarlemer Pieter Saenredam verwandt. Schon die Farbigkeit ist eine ganz andere als die von Watteau. Bei Canaletto herrschen grau-beige Erdfarben vor, die Dächer sind matt rot gedämpft, das wenige Grün sonor. Manche schelten Canaletto "trocken", aber die Topographien des Vedutenmalers, mit der Camera obscura eingefangen, sind durchaus nicht gefüllte Form - Farbe und Linie sind synchron. Canalettos Menschen allerdings scheinen unter der Zeitkrankheit des Rokoko, dem Podagra, zu leiden, verraten bei genauem Hinsehen manchmal etwas Lazzaronihaftes wie bei Guardi, das bei Canaletto im Gegensatz zur strengen Architektur steht; es ist das menschliche Leben, das "pittoresk" sein darf.

Balzer hatte Canalettos "Gefühl für den Stein" gerühmt, aber in bezug auf die gemalte Architektur. Wer Canalettos Lust an den gewaltig aufsteigenden Felsen des Elbsandsteingebirges bei Pirna, dem Sonnenstein und dem Königstein mit der Festung, nachvollzieht, weiß, daß das Gefühl für den Stein in der Natur begründet liegt. Das Elbgebirge, das jenes Material hergab, aus dem Dresden errichtet ist, und die im Siebenjährigen Krieg zerschossene Kreuzkirche sind zwei Pole, die nachsinnen lassen.

Der Königstein ist heute touristisch verdorben; zu seinen Füßen blüht der Souvenirkitsch nicht weniger aufdringlich als auf dem Pariser Montmartre oder vor dem Straßburger Münster. - Schmidts Buch negiert solche Negationen. Es bildet dankenswerterweise viele Details ab, die den Blick für die Totale des Originals schärfen. Er läßt es aber nicht bei der Kunstgeschichte, sondern stellt auch die Lokalgeschichte Pirnas dar, vermerkt, daß die Restaurierung der Stadt im letzten Jahrzehnt nach beinahe unaufhaltsamem Verfall mächtig fortgeschritten ist und Pirna ein reges kulturelles Leben entfaltet. So ist es einem Verein für Stadtgeschichte zu danken, dem "Canaletto Forum Pirna e.V.", daß dieses Buch - zum Preis von 64 Mark - an die Öffentlichkeit gelangt ist. Schmidt selbst hat das Layout entworfen, in der Druckerei gestanden, die Druckqualität überwacht - ganz der alte "Generaldirektor".

Bleibt nur ein Wunsch offen: Der Autor des "Canaletto in Pirna" möge nun das Desiderat "Adolph Menzel in Dresden" vorantreiben, ein Thema, das schon 1985 Gegenstand seiner Dankrede bei der Verleihung der Ehrenpromotion war. Sachsen wartet.

ANTON THORMÜLLER

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr