Wie in Bernstein eingeschlossen, liegen die Tage der Kindheit hinter den Helden dieser Geschichten. Sie wissen, dass diese Zeit für immer vorbei ist und können trotzdem nicht aufhören, in ihr zu leben. Sie haben ihre Illusionen verloren, aber Hoffnungen, die nie vergehen. Sehnsucht durchweht das zarte Gespinst dieser wunderbar lakonischen Prosa, gewoben aus Erinnerung, Wehmut, Zärtlichkeit.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.03.2004Mit etwas Glück kann die Seele den Leib ertragen
Das Insekt im Bernstein: Maxim Billers Erzählungen von einer jüdischen Kindheit in Prag / Von Friedmar Apel
Die Trennung von Lebenswelt und Text, einst eine höchst produktive Errungenschaft der bürgerlichen Literatur, stand immer wieder einmal in Zweifel. Spätestens seit Baudelaire und Flaubert wurde sie auch vor Gericht verhandelt. Maxim Billers Äußerung zum Prozeß gegen seinen Roman "Esra" war in dieser Hinsicht ein heikler Balanceakt. Einerseits wollte oder mußte er in jener Tradition der Moderne behaupten, daß seine Personen rein fiktiv sind, andererseits wollte er die Verbindung von Literatur und Lebenswelt, damit zu den Handelnden und Leidenden der Geschichte, nicht preisgeben: "Der Schriftsteller erzählt Geschichten vom Leben - nicht gegen das Leben -, und darum ist Literatur immer nur eins: die Hymne auf die große menschliche Tragikomödie und nicht ein Kommentar zu ihr."
Das Gericht und manche Kritiker wollten Biller das nicht recht glauben, und natürlich ist nicht auszuschließen, daß sich auch in "Bernsteintage" die eine oder andere reale Person wiedererkennt. Auch Maxim Biller selbst kann jeder, der unbedingt will, in dem Band finden, denn er handelt auch von einem jüdischen Kind, das 1960 in Prag geboren wurde und 1970 nach Deutschland kam. Wer das versucht, gerät freilich schnell in ein erzählerisches Kabinett, in dem sich Wahrheit und Lüge, Geschichten und historische Ereignisse virtuell unendlich spiegeln. Denn in den sechs neuen Geschichten wird zwar vom Leben erzählt, aber zugleich von Geschichten. Von solchen, die sich vielleicht so abgespielt haben, aber auch von welchen, die einer gerade erfunden oder im Kino gesehen hat. Von Drehbüchern, die nie zu einem Film wurden, oder von einem Film, der verlorengegangen und von dem nur ein abstraktes Hörensagen übriggeblieben ist: "Eine Frau und ein Mann, Rache und Verrat, Holocaust und Gegenwart, das war der ständig wiederkehrende Refrain, den Marek während seiner Suche zu hören bekam, an mehr erinnerte sich keiner."
So handeln die Erzählungen von der Erinnerung und ihrer Unzuverlässigkeit, vor allem aber von Geschichten, durch die und in denen Menschen sich und die anderen verstehen oder mißverstehen. Sie handeln von Geschichten, die reifen und sich verändern wie die Menschen, die Vergangenes je enthüllen und verbergen zugleich. Erinnerungen und Geschichten haben ihren Eigensinn und ihre eigene Zeit. "Über das alles hatte David erst Jahre später nachgedacht und geschrieben, und weil er zur Einseitigkeit neigte, ging er sehr vorsichtig mit seinen Erinnerungen um. Es konnte ja sein, dachte er, daß er vor lauter Wut mal wieder vollkommen übertrieb. Seine tschechische Kindheit war von seinem Gedächtnis so fest umschlossen wie ein winziger Käfer von einem Bernsteinblock - er selbst war der Käfer, aber er war auch derjenige, der ihn von außen betrachtete, und das verzerrte vielleicht seinen Blick."
Die erzählerische Erkundung einer jüdischen Kindheit in Prag eröffnet und beschließt den Band. Die Titelgeschichte spielt in den Wochen vor dem 20. und 21. August 1968, als sowjetische Truppen die Demokratisierung unter Dubcek beendeten. Es ist die Geschichte einer damals nicht geschriebenen Geschichte, erst jetzt und an einem anderen Ort, so scheint es, konnte sie geschrieben werden. So ist es mit den Geschichten, wie der Rabbi Baruch von der Wahrheit sagte - sie gehen von einem Ort zum anderen. Auf ihrem Weg kann sich Verrat in Selbsthaß verwandeln, Selbsthaß in eine Heldentat, Überdruß in Glück, Angst in einen schönen Traum. Und immer wieder erscheint die Wahrheit als Lüge und umgekehrt. In "Wenn der Kater kommt" reist Marek in das Prag seiner Kindheit, um den letzten Film seines Vaters zu suchen, aber er findet nicht die Artefakte der Vergangenheit, sondern Geschichten und momentane Bilder, die sein Leben ausmachen und kein anderes.
Billers Erzählungen führen gleichwohl immer erneut zu Momenten, in denen sich etwas zu erschließen scheint, das die Personen bis dahin mit großer Sorgfalt vor anderen und auch sich selbst verborgen haben. Mancher aber verliert gerade über die besten Jahre seines Lebens kein Wort, manche Geschichte wird um so weniger geschrieben, je mehr nach ihr verlangt wird. Da stellt sich dann erst nach einem halben Jahrhundert heraus, wer 1933 eines der merkwürdigsten Fußballspiele, die je angepfiffen wurden, gewonnen hat. Und erst durch die Korrektur einer Lüge wird Onkel Schimschon aus Hasorea für den Erzähler kenntlich. Ein falscher Liebermann an der Wand erzählt mehr über ein jüdisches Schicksal im schrecklichen zwanzigsten Jahrhundert, als ein echter es vermocht hätte.
Auch der Judenteufel in der Geschichte, die David für seinen deutschen Freund Bodo erfindet, hatte gelogen, als er mit dem deutschen Offizier um dessen Seele spielte. In Wahrheit wollte er sein Herz und sein Leben. Bodo hat seine jüdischen Freunde nun verstanden, aber der Leser erfährt nicht, worin das Verstehen besteht. Henry Halperin, Sohn eines jüdischen Gangsters, der Juden um ihre Wiedergutmachungsgelder betrogen hat, schreibt ein Drehbuch, "für das er offenbar eins zu eins die Geschichte seiner Familie verwendet hatte". Der Erzähler will das nicht lesen, und der Film kommt, vermutlich zu Glück, nicht zustande.
Der Käfer ist aus dem Bernstein nicht zu lösen, ohne zu zerstören, was den verlockenden Glanz und das ruinöse Elend der menschlichen Erinnerungsfähigkeit ausmacht. Biller erzählt von dem "verdammten Gefühl im Bauch", das Erinnerungen auslösen, vom Schönen und vom Unerträglichen, das fortgetragen wird von einem Ort zum anderen, als von "ganz normalem Leben". Wie schon der Rabbi Schmelke lehrte, könnte die Seele den Leib durchaus ertragen. Was je fehlt, ist "nur ein bißchen Glück". In dem Film, den Marek gedreht hätte, wäre am Ende ein Gewitter über Prag niedergegangen, "der Stadt, in der er von seiner Vergangenheit eingeholt wird und von einer Gefahr in die andere schlittert". Er aber hätte den Reißverschluß seiner Jacke hochgezogen und wäre weitergegangen, denn die Seele lehrt fortwährend, aber ihre Lehre wiederholt sich nie.
Maxim Biller zeigt sich in seinen wunderbaren neuen Geschichten als Erinnerungsartist, der alle Register anrührenden und unterhaltsamen Erzählens beherrscht bis hin zum melancholischen Weichzeichner, einem leichten Dunst von Kitsch über den Bildern. Immer deutlicher zeigt sich dabei ein hintersinniger Humor nach Art der chassidischen Geschichten. Auf heilige Zeiten aber wartet dieser Erzähler nicht, glauben soll der Leser nur den Geschichten, auch und gerade, wenn sie erlogen sind. Wer Maxim Biller nach "Bernsteintage" nicht glaubt, daß es ihm um dieses traurige und komische Leben und dessen Rettung in der Kunst zu tun ist, der glaubt vielleicht gar nicht mehr an die Literatur.
Maxim Biller: "Bernsteintage". Sechs neue Geschichten. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004. 206. S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Das Insekt im Bernstein: Maxim Billers Erzählungen von einer jüdischen Kindheit in Prag / Von Friedmar Apel
Die Trennung von Lebenswelt und Text, einst eine höchst produktive Errungenschaft der bürgerlichen Literatur, stand immer wieder einmal in Zweifel. Spätestens seit Baudelaire und Flaubert wurde sie auch vor Gericht verhandelt. Maxim Billers Äußerung zum Prozeß gegen seinen Roman "Esra" war in dieser Hinsicht ein heikler Balanceakt. Einerseits wollte oder mußte er in jener Tradition der Moderne behaupten, daß seine Personen rein fiktiv sind, andererseits wollte er die Verbindung von Literatur und Lebenswelt, damit zu den Handelnden und Leidenden der Geschichte, nicht preisgeben: "Der Schriftsteller erzählt Geschichten vom Leben - nicht gegen das Leben -, und darum ist Literatur immer nur eins: die Hymne auf die große menschliche Tragikomödie und nicht ein Kommentar zu ihr."
Das Gericht und manche Kritiker wollten Biller das nicht recht glauben, und natürlich ist nicht auszuschließen, daß sich auch in "Bernsteintage" die eine oder andere reale Person wiedererkennt. Auch Maxim Biller selbst kann jeder, der unbedingt will, in dem Band finden, denn er handelt auch von einem jüdischen Kind, das 1960 in Prag geboren wurde und 1970 nach Deutschland kam. Wer das versucht, gerät freilich schnell in ein erzählerisches Kabinett, in dem sich Wahrheit und Lüge, Geschichten und historische Ereignisse virtuell unendlich spiegeln. Denn in den sechs neuen Geschichten wird zwar vom Leben erzählt, aber zugleich von Geschichten. Von solchen, die sich vielleicht so abgespielt haben, aber auch von welchen, die einer gerade erfunden oder im Kino gesehen hat. Von Drehbüchern, die nie zu einem Film wurden, oder von einem Film, der verlorengegangen und von dem nur ein abstraktes Hörensagen übriggeblieben ist: "Eine Frau und ein Mann, Rache und Verrat, Holocaust und Gegenwart, das war der ständig wiederkehrende Refrain, den Marek während seiner Suche zu hören bekam, an mehr erinnerte sich keiner."
So handeln die Erzählungen von der Erinnerung und ihrer Unzuverlässigkeit, vor allem aber von Geschichten, durch die und in denen Menschen sich und die anderen verstehen oder mißverstehen. Sie handeln von Geschichten, die reifen und sich verändern wie die Menschen, die Vergangenes je enthüllen und verbergen zugleich. Erinnerungen und Geschichten haben ihren Eigensinn und ihre eigene Zeit. "Über das alles hatte David erst Jahre später nachgedacht und geschrieben, und weil er zur Einseitigkeit neigte, ging er sehr vorsichtig mit seinen Erinnerungen um. Es konnte ja sein, dachte er, daß er vor lauter Wut mal wieder vollkommen übertrieb. Seine tschechische Kindheit war von seinem Gedächtnis so fest umschlossen wie ein winziger Käfer von einem Bernsteinblock - er selbst war der Käfer, aber er war auch derjenige, der ihn von außen betrachtete, und das verzerrte vielleicht seinen Blick."
Die erzählerische Erkundung einer jüdischen Kindheit in Prag eröffnet und beschließt den Band. Die Titelgeschichte spielt in den Wochen vor dem 20. und 21. August 1968, als sowjetische Truppen die Demokratisierung unter Dubcek beendeten. Es ist die Geschichte einer damals nicht geschriebenen Geschichte, erst jetzt und an einem anderen Ort, so scheint es, konnte sie geschrieben werden. So ist es mit den Geschichten, wie der Rabbi Baruch von der Wahrheit sagte - sie gehen von einem Ort zum anderen. Auf ihrem Weg kann sich Verrat in Selbsthaß verwandeln, Selbsthaß in eine Heldentat, Überdruß in Glück, Angst in einen schönen Traum. Und immer wieder erscheint die Wahrheit als Lüge und umgekehrt. In "Wenn der Kater kommt" reist Marek in das Prag seiner Kindheit, um den letzten Film seines Vaters zu suchen, aber er findet nicht die Artefakte der Vergangenheit, sondern Geschichten und momentane Bilder, die sein Leben ausmachen und kein anderes.
Billers Erzählungen führen gleichwohl immer erneut zu Momenten, in denen sich etwas zu erschließen scheint, das die Personen bis dahin mit großer Sorgfalt vor anderen und auch sich selbst verborgen haben. Mancher aber verliert gerade über die besten Jahre seines Lebens kein Wort, manche Geschichte wird um so weniger geschrieben, je mehr nach ihr verlangt wird. Da stellt sich dann erst nach einem halben Jahrhundert heraus, wer 1933 eines der merkwürdigsten Fußballspiele, die je angepfiffen wurden, gewonnen hat. Und erst durch die Korrektur einer Lüge wird Onkel Schimschon aus Hasorea für den Erzähler kenntlich. Ein falscher Liebermann an der Wand erzählt mehr über ein jüdisches Schicksal im schrecklichen zwanzigsten Jahrhundert, als ein echter es vermocht hätte.
Auch der Judenteufel in der Geschichte, die David für seinen deutschen Freund Bodo erfindet, hatte gelogen, als er mit dem deutschen Offizier um dessen Seele spielte. In Wahrheit wollte er sein Herz und sein Leben. Bodo hat seine jüdischen Freunde nun verstanden, aber der Leser erfährt nicht, worin das Verstehen besteht. Henry Halperin, Sohn eines jüdischen Gangsters, der Juden um ihre Wiedergutmachungsgelder betrogen hat, schreibt ein Drehbuch, "für das er offenbar eins zu eins die Geschichte seiner Familie verwendet hatte". Der Erzähler will das nicht lesen, und der Film kommt, vermutlich zu Glück, nicht zustande.
Der Käfer ist aus dem Bernstein nicht zu lösen, ohne zu zerstören, was den verlockenden Glanz und das ruinöse Elend der menschlichen Erinnerungsfähigkeit ausmacht. Biller erzählt von dem "verdammten Gefühl im Bauch", das Erinnerungen auslösen, vom Schönen und vom Unerträglichen, das fortgetragen wird von einem Ort zum anderen, als von "ganz normalem Leben". Wie schon der Rabbi Schmelke lehrte, könnte die Seele den Leib durchaus ertragen. Was je fehlt, ist "nur ein bißchen Glück". In dem Film, den Marek gedreht hätte, wäre am Ende ein Gewitter über Prag niedergegangen, "der Stadt, in der er von seiner Vergangenheit eingeholt wird und von einer Gefahr in die andere schlittert". Er aber hätte den Reißverschluß seiner Jacke hochgezogen und wäre weitergegangen, denn die Seele lehrt fortwährend, aber ihre Lehre wiederholt sich nie.
Maxim Biller zeigt sich in seinen wunderbaren neuen Geschichten als Erinnerungsartist, der alle Register anrührenden und unterhaltsamen Erzählens beherrscht bis hin zum melancholischen Weichzeichner, einem leichten Dunst von Kitsch über den Bildern. Immer deutlicher zeigt sich dabei ein hintersinniger Humor nach Art der chassidischen Geschichten. Auf heilige Zeiten aber wartet dieser Erzähler nicht, glauben soll der Leser nur den Geschichten, auch und gerade, wenn sie erlogen sind. Wer Maxim Biller nach "Bernsteintage" nicht glaubt, daß es ihm um dieses traurige und komische Leben und dessen Rettung in der Kunst zu tun ist, der glaubt vielleicht gar nicht mehr an die Literatur.
Maxim Biller: "Bernsteintage". Sechs neue Geschichten. Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2004. 206. S., geb., 16,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Als Erinnerungsartist bezeichnet Friedmar Apel den Schriftsteller Maxim Biller, dessen Erzählungen über seine Prager Kindheit er schlicht "wunderbar" findet. Sie handeln seinen Informationen zufolge von einem jüdischen Kind, das 1960 in Prag geboren wird und 1970 nach Deutschland kommt. Es geht aber auch um die Unzuverlässigkeit der Erinnerung. Immer deutlicher zeigt sich dem Rezensenten Maxim Billers hintersinniger Humor "nach Art der chassidischen Geschichten". Manchmal scheint Kitsch auf, meist aber zeigt sich ihm in den Erzählungen einfach dies traurige und komische Leben.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Maxim Billers zeigt sich in seinen wunderbaren neuen Geschichten als Erinnerungsartist, der alle Register anrührenden und unterhaltsamen Erzählens beherrscht.« Friedmar Apel FAZ