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Fünf Jahrzehnte lang lebten auf dem Territorium Ostdeutschlands durchschnittlich eine halbe Million sowjetische Soldaten und Zivilbeschäftigte Haus an Haus mit der einheimischen Bevölkerung. Silke Satjukow schildert erstmals die Geschichte der Besatzung vom Einmarsch der Roten Armee 1945 bis zum Abzug 1994.In der unmittelbaren Nachkriegszeit reklamierten die russischen Besatzer nicht nur die politische Macht für sich, sondern handelten aus dem Bewusstsein, über alles frei verfügen zu können. Diese Haltung führte vor Ort zu unregierbaren Zuständen. Deshalb setzte bereits 1947 eine räumliche…mehr

Produktbeschreibung
Fünf Jahrzehnte lang lebten auf dem Territorium Ostdeutschlands durchschnittlich eine halbe Million sowjetische Soldaten und Zivilbeschäftigte Haus an Haus mit der einheimischen Bevölkerung. Silke Satjukow schildert erstmals die Geschichte der Besatzung vom Einmarsch der Roten Armee 1945 bis zum Abzug 1994.In der unmittelbaren Nachkriegszeit reklamierten die russischen Besatzer nicht nur die politische Macht für sich, sondern handelten aus dem Bewusstsein, über alles frei verfügen zu können. Diese Haltung führte vor Ort zu unregierbaren Zuständen. Deshalb setzte bereits 1947 eine räumliche Entflechtung ein: Der Rückzug der Streitkräfte hinter grüne Bretterzäune. Fortan gab es abgezirkelte Areale, ganze 'Russenstädtchen', die erste verlässliche Grenzen zwischen Besatzern und Besetzten markierten. Sie wurden zur Voraussetzung für das langfristige Nebeneinander vor Ort, aus welchem sich zuweilen sogar ein Miteinander entwickelte. Von politischen Manifestationen über gemeinsame Alltagserfahrungen bis hin zu persönlichen Freundschaften und Liebesbeziehungen präsentiert die Autorin ein detailliertes Bild dieses deutsch-sowjetischen Neben- und Miteinanders.
Autorenporträt
Silke Satjukow ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 23.07.2008

Fremde Freunde
Das Verhältnis der sowjetischen Soldaten zur Bevölkerung in der DDR: Sieger des Krieges als Verlierer im Alltag

"Über die Russen und über uns" - so lautete der Titel eines spektakulären Artikels von Rudolf Herrnstadt, dem Chefredakteur des Neuen Deutschland, vom 18. November 1948. Spektakulär, weil der in der sowjetischen Besatzungszeitung Tägliche Rundschau nachgedruckte Text sich nicht nur in Floskeln erschöpfte, sondern "heiße Eisen" zumindest vorsichtig ansprach und knapp einen Monat später zum Anlass einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung mit großer Resonanz im Haus der Kultur der Sowjetunion in Berlin wurde. Es war eine der lebhaftesten und offensten Debatten dieses Zuschnitts - und auch eine der letzten bis zum Ende der DDR 1989. Sie galt einem Thema, das die deutsche Bevölkerung umtrieb, über das aber hinfort nicht mehr öffentlich gesprochen werden durfte: das Verhalten der Roten Armee beim Einmarsch in Deutschland 1945.

Was der Artikel bewirken sollte, konnte er nicht erreichen: die traumatischen Erfahrungen vergessen zu lassen und das Verhältnis der DDR-Bevölkerung zu ihren Besatzern, die nun als "Freunde" galten, zu verbessern. Die Berlin-Blockade tat ein Übriges. Umfassender aufgearbeitet werden konnte dieses Thema erst nach 1990. Silke Satjukow hat dazu jetzt einen wichtigen Beitrag geleistet. Sie beabsichtigt keine "Gesamtdarstellung", bietet aber ein höchst interessantes Mosaik mit sehr vielen neuen Facetten für den gesamten Zeitraum vom Einmarsch bis zum Abzug sowjetischer Truppen. Es vermittelt ein manchmal ungewohntes Bild, das zwischen Besetzern, Besatzern, ungeliebten Nachbarn und Freunden changiert, aber deshalb sehr aufschlussreiche Einblicke gibt in die verqueren Beziehungen zwischen den Siegern des Krieges, die sich oft als Verlierer im Alltag fühlten.

Der große Gewinn der Darstellung liegt im Perspektivenwechsel. Der bisher dominierende politikhistorische Blick wird sozial- und kulturhistorisch ergänzt und differenziert. Die Studie sensibilisiert für Zwischentöne in einem politisch und emotional außerordentlich belasteten Themenkomplex. Rund eine halbe Million sowjetische Soldaten und Zivilbeschäftigte lebten in der Zeit vom Einmarsch 1945 bis zum Truppenabzug 1994 im östlichen Teil Deutschlands. Zwar waren den parteioffiziellen Versuchen, die "erfundene Freundschaft" (Jan C. Behrends) beim Volk zu etablieren, kaum Erfolge beschieden. Aber im Alltag waren die Besatzer und "Freunde" stets präsent, die Bevölkerung hatte sich daher nolens volens auf sie einzustellen und mit ihnen umzugehen. Diesen vielfältigen Formen der Interaktion gilt Frau Satjukows primäres Interesse. Sie entfaltet ein breites Panorama von alltäglichen und außeralltäglichen Beziehungen und Verhaltensweisen, die trotz einiger Konstanten im Lauf der Jahrzehnte deutlichen Veränderungen unterlagen.

Die ersten Jahre der Besetzung mit einer chaotischen Präsenz "der Russen" sind vergleichsweise gut bekannt. Entsprechend einem "archaischen" Verständnis der Sieger von ihrer Rolle war alles frei verfügbar, und die Besiegten waren rechtlos. Das führte vor Ort oft zu unhaltbaren Zuständen. Das Jahr 1947 charakterisiert die Autorin daher als "Perestrojka", weil hier die Entflechtung und konsequente Trennung der sowjetischen Truppen von der einheimischen Bevölkerung, der Rückzug in abgezäunte Stadtviertel, Kasernen oder in die "Russenstädtchen" begann, der fortan das Gesamtbild prägte. Das Stationierungsabkommen von 1957 kodifizierte formal den rechtlichen und politischen Status der Truppen in der DDR. Aus der Normierung von Grenzen und Sphären leitet Satjukow Ansätze einer "sozialpsychologischen Normalisierung des Miteinanders" ab, die im Sinne "eines von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort differierenden und dennoch vertrauten Umgangs" im zweiten Teil des Buches genauer untersucht werden.

Die Lektüre vermittelt, auch wenn die Auswahl und unkonventionelle Stoffgliederung nicht überall überzeugt, eine eindrucksvolle Fülle neuer oder fast unbekannter Aspekte. Lebensgeschichtliche Interviews veranschaulichen in vielen Passagen die Aktenbefunde. Militärhistoriker werden erstaunliche Details finden, etwa zu den Besatzungskosten oder den von der Roten Armee genutzten Liegenschaften, über deren Umfang die SED-Spitze nie einen auch nur halbwegs präzisen Überblick gewinnen konnte, weil ihr die Daten einfach verweigert wurden. Auch die Verteilung der wichtigsten Standorte der "Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland" (GSSD) mit dem Sitz des Oberkommandos in Wünsdorf (wo nach dem Truppenabzug eine "Bücherstadt" geschaffen wurde) wird genauer vorgestellt. Besonders interessant ist der exemplarisch vergleichende Blick auf drei in Lage und Größenordnung völlig unterschiedliche Standorte: Weimar, wo sich das Militärareal mitten in der Stadt befand, der Großraum Dresden mit zahlreichen Truppenübungs- und Flugplätzen und das Dorf Nohra (in Thüringen), wo 500 Bauern mit zirka 5000 Sowjetsoldaten leben mussten und die Garnison den Rhythmus des Alltagslebens prägte.

Das Kapitel "Alltag in der Kaserne" fächert Befehlsstrukturen und Sozialprofil der Truppen auf, verweist auf den gravierenden Einschnitt, den der Afghanistan-Krieg für das Ansehen der Armee bedeutete, und erlaubt Einblicke in das streng reglementierte Leben hinter den Kasernenmauern, das nicht zuletzt von propagandistischen Medienbildern und der Wachsamkeit der Geheimdienste bestimmt war. Zu dieser Realität gehörte als ein besonders trübes Kapitel die Kameradenschinderei (Dedowschtschina), die als üble Form der Machtausübung der "Alten" über die "Jungen" unter den Wehrpflichtigen weit über auch anderswo gängige militärische Verhaltensweisen hinausging.

Der ausführlichste Teil gilt den überwiegend unfreiwilligen Nachbarschaftsbeziehungen, den Netzwerken des Tauschhandels, der "brüderlichen Hilfe" beim Arbeitseinsatz, den Formen des massiven Umweltfrevels, der Kriminalität und den Schwierigkeiten ihrer Ahndung, aber auch den eher seltenen Liebesverhältnissen sowie den ambivalenten Erinnerungen deutscher Kinder an ihr Verhältnis zu den Soldaten der Roten Armee. Der in vieler Hinsicht "andere Blick" führt keineswegs zu einer Verharmlosung der Besatzungsrealität. So betont Frau Satjukows Fazit, dass sich die Besatzer trotz Stationierungsabkommen weiter in einem quasi gesetzesfreien Raum bewegten: "Was Sicherheit und Ordnung bedeutete, unterlag der Definitionsmacht der Offiziere und Mannschaften der Einheiten. Und diese handelten nach hergebrachten Dispositionen, gemäß den Usancen in der Sowjetunion."

Bei der Analyse dieser komplexen Mischung von Grenzziehungen, Annäherungen und Distanz greift Silke Satjukow auf sozialpsychologische Erklärungsversuche zurück und betont die Prägekraft der auf beiden Seiten konträren "inneren Bilder". Dennoch können als Antwort auf die Frage "Was bleibt?" nur Vermutungen angestellt werden, weil "die Machthaber in Moskau und Ost-Berlin die wirklichen Gedanken und Gefühle der einander fremden Freunde" zu keinem Zeitpunkt genauer dokumentiert haben. In der Erinnerung aber ist für die Soldaten das Leben in der DDR und für die Bevölkerung die Präsenz russischer Truppen im Alltag ein bis heute wichtiger Bestandteil der jeweils eigenen Vergangenheit geblieben.

CHRISTOPH KLESSMANN

Silke Satjukow: Besatzer. "Die Russen" in Deutschland 1945-1994. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag, Göttingen 2008. 405 S., 34,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Mit Interesse hat Christoph Klessmann dieses Buch über die russischen Besatzer in der DDR gelesen. Wichtig erscheint ihm das Buch, weil die Autorin den gewohnten politikhistorischen Blick sozial- und kulturhistorisch erweitert und Zwischentöne hörbar macht. Klessmann erkennt das Hauptinteresse der Autorin bei den Formen der Interaktion (Tauschhandel, Liebschaften) und ihren zeitlich bedingten Veränderungen. Aber auch Standortunterschiede sieht der Rezensent auf neue Aspekte hin untersucht. Aktenbefunde und Interviews, erklärt Klessmann, ergänzen einander. Er erfährt Neues von jenseits der Kasernenmauern, über Befehlsstrukturen und Truppenprofile und das "trübe" Kapitel der Kameradenschinderei. Indiz dafür, dass die Autorin keine "Verharmlosung der Besatzungsrealität" im Sinn hat.

© Perlentaucher Medien GmbH