Vulkan, hinkender Gott der Schmiedekunst, war der Mann von Venus, der Schönsten. Während die griechische Antike Behinderungen der Hässlichkeit zurechnete und oft als Zeichen moralischer Fragwürdigkeit deutete, die römische Dichtung sie vornehmlich als Gegenstand der Satire sah, setzt in der frühbarocken Lyrik ein paradoxes Vergnügen am behinderten Körper ein: Vulkan und Venus traten in ein neues Verhältnis.Im 19. Jahrhundert, bei Zola, Anthony Trollope und Benito Pérez Galdós, treten behinderte Protagonistinnen als Attraktionsfiguren ins Zentrum der Romane. Im 20. Jahrhundert findet dieses Interesse die Aufmerksamkeit der Psychoanalyse und wird als 'Fetischismus' gedeutet.Über Heimito von Doderer, James Joyce und Arno Schmidt weist Lorenz Jäger auch in die Kunst- und Filmgeschichte, zu Christian Ludwig Attersees 'Prothesen-Alphabet' und Luis Buñuels 'Tristana'. Schlusspunkt seiner Überlegungen bilden die Londoner Paralympics des Jahres 2012.Nicht nur erreichte die Ästhetisierung des Handicaps dort einen bisher unvorstellbaren Gipfel: Entscheidend wurde die Ablösung des Blicks von außen durch die selbstbewusste Inszenierung, die von behinderten Models wie Aimee Mullins vorbereitet worden war und die unsere ästhetischen Vorstellungen maßgeblich verändern wird.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2014LORENZ JÄGER, Redakteur im Feuilleton dieser Zeitung, hat ein kunsttheoretisches Problem entfaltet: Wie ist eine Ästhetik des Handicaps möglich? In der Antike war der hinkende Schmiedegott Vulkan der Gatte der schlechthin schönsten Göttin, der Venus - und das Paar ein Gegenstand des Gelächters. Die barocke Lyrik widmete sich dem Paradox der "schönen Hinkenden", als deren Vater rhetorisch Vulkan angerufen wurde und Venus als ihre Mutter. Vor allem die Dichtung der Franzosen und Italiener brillierte darin, kunstvolle Elogen solcher Figuren zu verfassen. Im neunzehnten Jahrhundert begegnen wir ihnen in den Romanen von Balzac, Zola und Trollope, später auch bei Joyce und Doderer. Heute kommen selbstbewusste behinderte Models auf den Laufsteg: eine Revolution des Blicks, jenseits der Politik. (Lorenz Jäger: "Beschädigte Schönheit". Eine Ästhetik des Handicaps. Zu Klampen Verlag, Springe 2014. 125 S., geb., 16,- [Euro].)
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Lorenz Jäger hat eine schöne "Motivgeschichte des schönen Hinkens" geschrieben, berichtet Oliver Pfohlmann, ein Buch über die künstlerische Besinnung auf die sexuelle Anziehung, die von körperlichen Defekten ausgehen kann. Das ganze wird von Jäger etwas zu zitierfreudig, dafür aber durchaus unterhaltsam aufbereitet, meint der Rezensent. "Ein leichter Silberblick, und voilà, ich bin betört", zitiere Jäger etwa ein Wort Durs Grünbeins, das dieser Descartes in den Mund legte, wie der Rezensent erfährt.
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'Eine Liebeserklärung an die Unvollkommenheit. (.) Ein kenntnisreicher Essay.' Shirin Sojitrawalla in: WDR 3 Mosaik, 29. Dezember 2014