Michel Butors mehrstimmig angelegte 'Beschreibung von San Marco' ist ein literarisches Reenactment des Markusdoms von einzigartiger spiritueller und intellektueller Intensität.»Die Menschenmenge auf dem Markusplatz. Mitten darin schauen Sie ihr zu, hören Sie ihr zu.Sie gehen näher an den Dom heran.Sie betreten den Dom.Sie beginnen die Inschriften zu entziffern,den Text dieses gewaltigen Buchs aus Stein;Sie betrachten seine Illustrationen,erkennen nicht jedes Detail, aber doch genug,um zu begreifen, dass Sie einen ganzen Kosmosvon Geschichten und Gedanken vor sich haben ...«(Michel Butor über sein Buch)In seiner Dombeschreibung erklärt und inszeniert Butor den Kosmos von San Marco, des geheimnisvollen byzantinischen Bauwerks im Herzen von Venedig.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.11.2018Die Phantome des Conférenciers
Vor mehr als fünfzig Jahren erkundete der französische Autor Michel Butor die Bildsprache der Mosaiken im Markusdom von Venedig. Jetzt erscheint sein Buch auf Deutsch.
Von Andreas Kilb
Es gibt wenige Bücher, die nicht mit einem Satz anfangen. Dieses gehört dazu. Es beginnt mit einem "Ah!", und was dann kommt, ist nicht etwa die Erklärung dieses Ausrufs, sondern die Fortsetzung des Gestammels: "La gondola, gondola! - Oh! - Grazie! - . . . Aber ja, das ist er! Ganz sicher, das ist er! Man trifft tatsächlich die ganze Welt hier! Garçon! Garçon! Cameriere! Etwas Eis, bitte!" So sind wir erst einmal nicht im Bilde, bevor wir, durch den Erzähler und durch das Druckbild, das die Schrifttypen geschickt variiert, um die Stimmen, die hier reden, voneinander abzusetzen, dann doch ins Bild gesetzt werden.
Wir sind in Venedig, Anfang der sechziger Jahre. Hier trifft man wahrhaftig die ganze Welt oder wenigstens jenen Teil von ihr, der sich schon damals die Reise in die Lagunenstadt leisten konnte. Der französische Schriftsteller Michel Butor aber ist nicht nach Venedig gekommen, um sich mit den anderen Touristen durch die Gassen mit den Souvenirläden zu drängen und vom Ponte della Paglia auf die Seufzerbrücke zu starren. Er will die Stadt von ihrem Mittelpunkt aus begreifen, von jener kuppelgekrönten Basilika, in der die Knochen des heiligen Markus aufbewahrt werden. Auf der Piazza San Marco angekommen, lässt er sich vom Strom der Besucher mitziehen, die unter den Arkaden flanieren und in den Cafés ihre Reiseführer durchblättern, doch dann richtet er sein Auge auf die Kirche: "Zwischen zwei Taubenflügelschlägen ein Glockentürmchen aus Gold und Blei." Im Näherkommen lässt er das Murmeln der Menge hinter sich, "alle die Sätze in unbekannten oder zu wenig vertrauten Sprachen, die ich unmöglich aufzeichnen konnte"; dann steht er vor der Fassade, und die Arbeit des Sehens beginnt. "Die fünf Portale, die fünf Kuppeln."
Butors "Beschreibung von San Marco" ist kein Reisebuch, kein literarisch veredelter Baedeker und auch keine touristischer Zettelkasten, wie ihn Butors Lehrer Jean-Paul Sartre in seinen postum publizierten Notizen aus Italien angelegt hat. Nein, dieser schmale Band, der nach fünfundfünfzig Jahren erstmals auf Deutsch erscheint, will tatsächlich nichts anderes sein als eine descriptio im klassischen Sinn, eine Aufzählung der Wunder der Basilika des heiligen Markus von vorne nach hinten und von unten nach oben, Kuppel für Kuppel, Galerie für Galerie. Weil Butor aber im zwanzigsten und nicht wie seine humanistischen Vorbilder im fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhundert schreibt, kann er die Außenwelt nicht völlig ausblenden. Deshalb webt er die Wortfetzen, die er nebenbei aufschnappt, die "Wellenkämme", wie er sie nennt, in seine Betrachtungen ein. Sie fluten seinen Text mit Banalitäten, aber auch mit Leben; und manchmal, wenn etwa die Verkündigung der Schwangerschaft der Elisabet, der Mutter Johannes des Täufers, auf den Mosaiken des Baptisteriums in vorbeiwehendes Liebesgeflüster übergeht, antworten sie auch auf das, was er sieht. "Ich liebe dich. - Licht. - Nebel. - Das rote Kleid." So behält das Grundrauschen das letzte Wort.
Als Michel Butor 1963 seine "Beschreibung" veröffentlicht, hat er eine fünfjährige, mit Preisen gekrönte Laufbahn als Romancier und offensichtlich eine Sinnkrise hinter sich. "Stufen", sein vierter, 1960 erschienener Roman, ist sein letzter. Von da an verfasst er Reise- und Bildbeschreibungen, Textcollagen, Gedichte und Essays, immer auf der Suche nach dem "Génie du lieu", wie eins seiner Bücher heißt, dem Genius eines Ortes und eines Werks. Als Butor 2016 stirbt, ist die Gesamtausgabe seiner Schriften gerade fertig. Aber den Nachrufen folgt keine Wiederentdeckung. Zu fremd, zu fern ist inzwischen die Welt des Nouveau Roman, der man Butor wider besseres Wissen zurechnet, zu diffus die Gestalt seines OEuvres. Vielleicht lösen die Meditationen über San Marco ja jetzt eine kleine Butor-Welle aus. Oder wenigstens ein Geflüster.
Denn Butor ist, wie es Hanns-Josef Ortheil in seinem klugen Nachwort formuliert, ein Meister der "literarischen Raumerkundung", er beherrscht die Kunst, Orte und Bilder durch Beschreibung zu entschlüsseln, wie wenige andere. In den Mosaiken des Markusdoms etwa sieht er bis ins kleinste Detail die Geschichte und die Mythen Venedigs gespiegelt - ihren Ursprung aus dem Wasser, ihren realen und symbolischen Sieg über Konstantinopel, dem sie untertan gewesen war, und Aquileia, die ältere, auf römischen Wurzeln gründende Bischofsstadt. "Ist es nicht erstaunlich", fragt Butor, dass vier der fünf Mosaiken über den Portalen der Markuskirche "die Geschichte eines Raubes abbilden?" Ja, das ist es, und das Staunen geht im Inneren weiter, wo der Triumph, der in der Überführung der Markusgebeine aus Alexandria lag, in immer neuen Bildfolgen gefeiert wird, wo die Schöpfungs- und die Noahlegende, die Geschichte Salomes und des Täufers und die Passion Christi immer auch das Hohelied der Lagunenrepublik singen. Gebannt blickt Butor auf den Löwen, der aus den Tieren der Arche heraussticht, weil er das Symbol des Evangelisten Markus ist; und ebenso gebannt registriert er, als er auf dem Dach der Basilika angelangt ist, das "eigentümliche Gehgefühl" auf den Bleiplatten, die sie bedecken, und den Ausblick auf das Häusermeer, "die Wellen, Rücken und Säulen der Plätze".
Das größte Hindernis, das der Neuentdeckung des Autors Michel Butor entgegensteht, ist seine Autorschaft selbst. Wo andere Schriftsteller sich in ihren Werken mehr oder minder unverblümt enthüllen, bringt Butor sich darin zum Verschwinden. Das gilt für seine Romane und auch für dieses Buch. Geduldig listet es die lateinischen Schrifttafeln aller biblischen Propheten und christlichen Tugenden auf, welche die Kuppelwände von San Marco bedecken, aber den, der das alles sieht, sieht man nicht. Nur in einzelnen Formulierungen blitzt eine Subjektivität auf, die mehr ist als die Suada eines gebildeten Conférenciers. Eine davon ist das Wort, mit dem die Erzählung endet: "Goldwassernacht". Ein Wort wie ein Gemälde. Oder der Titel eines Venedigbuchs. Butor hat es nie geschrieben.
Michel Butor: "Beschreibung von San Marco".
Aus dem Französischen von Helmut Moysich. Nachwort von Hanns-Josef Ortheil. Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2018. 160 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Vor mehr als fünfzig Jahren erkundete der französische Autor Michel Butor die Bildsprache der Mosaiken im Markusdom von Venedig. Jetzt erscheint sein Buch auf Deutsch.
Von Andreas Kilb
Es gibt wenige Bücher, die nicht mit einem Satz anfangen. Dieses gehört dazu. Es beginnt mit einem "Ah!", und was dann kommt, ist nicht etwa die Erklärung dieses Ausrufs, sondern die Fortsetzung des Gestammels: "La gondola, gondola! - Oh! - Grazie! - . . . Aber ja, das ist er! Ganz sicher, das ist er! Man trifft tatsächlich die ganze Welt hier! Garçon! Garçon! Cameriere! Etwas Eis, bitte!" So sind wir erst einmal nicht im Bilde, bevor wir, durch den Erzähler und durch das Druckbild, das die Schrifttypen geschickt variiert, um die Stimmen, die hier reden, voneinander abzusetzen, dann doch ins Bild gesetzt werden.
Wir sind in Venedig, Anfang der sechziger Jahre. Hier trifft man wahrhaftig die ganze Welt oder wenigstens jenen Teil von ihr, der sich schon damals die Reise in die Lagunenstadt leisten konnte. Der französische Schriftsteller Michel Butor aber ist nicht nach Venedig gekommen, um sich mit den anderen Touristen durch die Gassen mit den Souvenirläden zu drängen und vom Ponte della Paglia auf die Seufzerbrücke zu starren. Er will die Stadt von ihrem Mittelpunkt aus begreifen, von jener kuppelgekrönten Basilika, in der die Knochen des heiligen Markus aufbewahrt werden. Auf der Piazza San Marco angekommen, lässt er sich vom Strom der Besucher mitziehen, die unter den Arkaden flanieren und in den Cafés ihre Reiseführer durchblättern, doch dann richtet er sein Auge auf die Kirche: "Zwischen zwei Taubenflügelschlägen ein Glockentürmchen aus Gold und Blei." Im Näherkommen lässt er das Murmeln der Menge hinter sich, "alle die Sätze in unbekannten oder zu wenig vertrauten Sprachen, die ich unmöglich aufzeichnen konnte"; dann steht er vor der Fassade, und die Arbeit des Sehens beginnt. "Die fünf Portale, die fünf Kuppeln."
Butors "Beschreibung von San Marco" ist kein Reisebuch, kein literarisch veredelter Baedeker und auch keine touristischer Zettelkasten, wie ihn Butors Lehrer Jean-Paul Sartre in seinen postum publizierten Notizen aus Italien angelegt hat. Nein, dieser schmale Band, der nach fünfundfünfzig Jahren erstmals auf Deutsch erscheint, will tatsächlich nichts anderes sein als eine descriptio im klassischen Sinn, eine Aufzählung der Wunder der Basilika des heiligen Markus von vorne nach hinten und von unten nach oben, Kuppel für Kuppel, Galerie für Galerie. Weil Butor aber im zwanzigsten und nicht wie seine humanistischen Vorbilder im fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhundert schreibt, kann er die Außenwelt nicht völlig ausblenden. Deshalb webt er die Wortfetzen, die er nebenbei aufschnappt, die "Wellenkämme", wie er sie nennt, in seine Betrachtungen ein. Sie fluten seinen Text mit Banalitäten, aber auch mit Leben; und manchmal, wenn etwa die Verkündigung der Schwangerschaft der Elisabet, der Mutter Johannes des Täufers, auf den Mosaiken des Baptisteriums in vorbeiwehendes Liebesgeflüster übergeht, antworten sie auch auf das, was er sieht. "Ich liebe dich. - Licht. - Nebel. - Das rote Kleid." So behält das Grundrauschen das letzte Wort.
Als Michel Butor 1963 seine "Beschreibung" veröffentlicht, hat er eine fünfjährige, mit Preisen gekrönte Laufbahn als Romancier und offensichtlich eine Sinnkrise hinter sich. "Stufen", sein vierter, 1960 erschienener Roman, ist sein letzter. Von da an verfasst er Reise- und Bildbeschreibungen, Textcollagen, Gedichte und Essays, immer auf der Suche nach dem "Génie du lieu", wie eins seiner Bücher heißt, dem Genius eines Ortes und eines Werks. Als Butor 2016 stirbt, ist die Gesamtausgabe seiner Schriften gerade fertig. Aber den Nachrufen folgt keine Wiederentdeckung. Zu fremd, zu fern ist inzwischen die Welt des Nouveau Roman, der man Butor wider besseres Wissen zurechnet, zu diffus die Gestalt seines OEuvres. Vielleicht lösen die Meditationen über San Marco ja jetzt eine kleine Butor-Welle aus. Oder wenigstens ein Geflüster.
Denn Butor ist, wie es Hanns-Josef Ortheil in seinem klugen Nachwort formuliert, ein Meister der "literarischen Raumerkundung", er beherrscht die Kunst, Orte und Bilder durch Beschreibung zu entschlüsseln, wie wenige andere. In den Mosaiken des Markusdoms etwa sieht er bis ins kleinste Detail die Geschichte und die Mythen Venedigs gespiegelt - ihren Ursprung aus dem Wasser, ihren realen und symbolischen Sieg über Konstantinopel, dem sie untertan gewesen war, und Aquileia, die ältere, auf römischen Wurzeln gründende Bischofsstadt. "Ist es nicht erstaunlich", fragt Butor, dass vier der fünf Mosaiken über den Portalen der Markuskirche "die Geschichte eines Raubes abbilden?" Ja, das ist es, und das Staunen geht im Inneren weiter, wo der Triumph, der in der Überführung der Markusgebeine aus Alexandria lag, in immer neuen Bildfolgen gefeiert wird, wo die Schöpfungs- und die Noahlegende, die Geschichte Salomes und des Täufers und die Passion Christi immer auch das Hohelied der Lagunenrepublik singen. Gebannt blickt Butor auf den Löwen, der aus den Tieren der Arche heraussticht, weil er das Symbol des Evangelisten Markus ist; und ebenso gebannt registriert er, als er auf dem Dach der Basilika angelangt ist, das "eigentümliche Gehgefühl" auf den Bleiplatten, die sie bedecken, und den Ausblick auf das Häusermeer, "die Wellen, Rücken und Säulen der Plätze".
Das größte Hindernis, das der Neuentdeckung des Autors Michel Butor entgegensteht, ist seine Autorschaft selbst. Wo andere Schriftsteller sich in ihren Werken mehr oder minder unverblümt enthüllen, bringt Butor sich darin zum Verschwinden. Das gilt für seine Romane und auch für dieses Buch. Geduldig listet es die lateinischen Schrifttafeln aller biblischen Propheten und christlichen Tugenden auf, welche die Kuppelwände von San Marco bedecken, aber den, der das alles sieht, sieht man nicht. Nur in einzelnen Formulierungen blitzt eine Subjektivität auf, die mehr ist als die Suada eines gebildeten Conférenciers. Eine davon ist das Wort, mit dem die Erzählung endet: "Goldwassernacht". Ein Wort wie ein Gemälde. Oder der Titel eines Venedigbuchs. Butor hat es nie geschrieben.
Michel Butor: "Beschreibung von San Marco".
Aus dem Französischen von Helmut Moysich. Nachwort von Hanns-Josef Ortheil. Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2018. 160 S., geb., 20,- [Euro].
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