Im Mittelalter spielten magische Sprüche, Segensformeln und Beschwörungen eine überragende Rolle im Alltagsleben der Menschen. Dies belegt eine Fülle von Bild- und Textzeugnissen. Die wichtigsten und prägnantesten mittelalterlichen Beschwörungen und Heilsegen werden im vorliegenden Buch erstmals aus ärztlicher Sicht dokumentiert und erläutert. Dabei sind sowohl ihre historischen Wurzeln als auch das kulturelle Umfeld ihres einstigen Gebrauchs detailliert dargestellt. Anhand einer der größten privaten Textsammlungen verfolgt der Autor ihre Spuren bis in die Neuzeit. In Überwindung bisheriger Theorien von Magie als archaischer Ordnungssuche oder als Vorstellungen von Obskurität und Aberglaube werden die im Mittelalter geübten verbalen Kriseninterventionen vielfach als psychosomatische Begleitinstrumente von praktischer Notfalltherapie verstanden und modellhaft mit modernen neurobiologischen Forschungsergebnissen verglichen.
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Süddeutsche ZeitungIch beschwöre
euch Elfen und Dämonen
Der Neurologe Wolfgang Ernst klopft mittelalterliche
Segenssprüche auf ihre psychosomatische Wirkung ab
Übrig geblieben ist der Blasiussegen. Er wird in katholischen Regionen einmal im Jahr erteilt, in der Regel am 2. Februar, Maria Lichtmess. Mit der einen Hand hält der Priester dem Empfänger zwei gekreuzte Kerzen vor den Kehlkopf, macht mit der anderen das Kreuzzeichen und betet den Spruch: „Durch Fürsprache des Heiligen Blasius, des Bischofs und Märtyrers, befreie dich Gott von Kehlkrankheit und jedem anderen Übel.“ Das wirkt dann ein Jahr lang. Wenn es wirkt. Hier kommt der Neurologe und Psychiater Wolfgang Ernst mit seinem neuen Buch ins Spiel. Im limbisch-hippocampalen System des Gehirns, sagt Ernst, kann in akuten Fällen allein die Nennung des Namens Blasius positive Effekte zeitigen – bei Menschen, die mit Blasius und seiner Geschichte vertraut sind.
Wer aus einer katholischen Gegend wie Oberbayern stammt und beim freitäglichen Fischessen schon mal Erstickungsanfälle wegen einer Gräte miterlebt hat, wird den Blasiussegen in Ehren halten. Der röchelnde und im Gesicht bereits blau anlaufende Großvater wurde mit Weißbrot vollgestopft und auf den Tisch gelegt. Und während die halbe Familie auf seinen Rücken drosch, um den Fremdkörper in seiner Gurgel zu lockern, erzählte die Großmutter seelenruhig die Geschichte von Blasius, der einen Knaben vor dem Erstickungstod gerettet hatte. Keine Panik, sollte das bedeuten, der Großvater hat ja den Blasiussegen.
Was soll man sagen, der Großvater gewann seinen Kampf gegen die Gräte, er überlebte die Mahlzeit. Dafür gibt es eine rein physikalische Erklärung. Oder aber auch eine neurologische: Der akute Stress einer Notfallsituation fördere die Ausschüttung des Hormons Cortisol, was unter anderem die Suggestibilität erhöhe und die Wirksamkeit der Imaginationen durch Psychotherapie verstärke, schreibt Ernst.
In seiner Praxis ist er als Nervenarzt und Psychotherapeut tätig. Nebenbei beschäftigt sich Ernst mit Medizingeschichte. In seinem lesenswerten Buch „Beschwörungen und Segen“ kombiniert er seine fachärztliche Kenntnis und seine historischen Studien. Er klopft „Angewandte Psychiatrie im Mittelalter“, wie der Untertitel lautet, auf ihre Wirksamkeit ab und legt den Wissensstand der heutigen Neurologie als Maßstab an. Als medizinischer Laie kann man seine Diagnosen schwer überprüfen. Doch plausibel klingen sie allemal. Viel von dem, was Kranke und Verletzte an Sprüchen und Segnungen zu hören bekamen, war demnach therapeutisch sinnvoller, als man zunächst annehmen mag.
Nehmen wir den Fiebersegen mit den Siebenschläfern von Ephesus: Er rührt von der Legende von sieben christlichen Hirten, die auf Geheiß des römischen Kaisers Decius eingemauert wurden, weil sie seine Götter nicht anbeteten. Fast 200 Jahre später bricht ein Landwirt die Höhle auf, um sie als Schafstall zu nutzen. Die Hirten leben noch, sie haben nur geschlafen. Erzählt die Legende.
Im 9. Jahrhundert ist sie bis Nordfrankreich verbreitet, in einem Codex des Regensburger Klosters St. Emmeram wird sie in einen Segensspruch integriert, zur Therapie gegen Fieber und Schüttelfrost. Durch die Fürsprache der Siebenschläfer möge Gott den Gesegneten beschützen, heißt es da. Wie jene solle der Kranke „nach der Kinder Art im Mutterschoß ruhend weder Mühe noch Schmerz oder Tod spüren“. Und so fort. Ähnliche Zeugnisse führt Wolfgang Ernst bis ins 16. Jahrhundert an. Hokuspokus? Mag sein, aber offenbar ein überaus nützlicher. Der Neurologe hält diese Art von Erzähltherapie für tauglich, „einen fieber- und schmerzdämpfenden Ruhezustand zu fördern“.
Gegen Augenleiden, Regelblutungen und zur Schmerzlinderung bei Frakturen gab es ebenso Heilsprüche wie gegen Zahnschmerzen und Epilepsie. Wobei sie bei Epileptikern neurologisch betrachtet wirkungslos blieben, denn im bewusstlosen Zustand verarbeitet das Gehirn keine akustischen Signale. Die Sprüche gegen Schlafstörungen klingen hingegen wie ein Exorzismus: „Ich beschwöre euch Elfen und alle Geschlechter der Dämonen, dass ihr zurückweicht vom Diener Gottes N.“ Zur Wurmvertreibung rekurrierte man auf Hiob aus dem Alten Testament – eine Katastrophengeschichte mit Happy End. Segenssprüche wie diese dienten zumindest als therapiebegleitende Entspannungsmaßnahme.
Ja aber, sagt sich der aufgeklärte Mensch, im Mittelalter waren sie für solchen Zauber noch zugänglich, heute sind wir klüger. Das ist Quatsch. „Die Gehirne unserer mittelalterlichen Vorfahren arbeiteten wie die unseren.“ Und gesunde Gehirne gottgläubiger Menschen, stellt Ernst fest, funktionieren unter den gleichen neuronalen Arbeitsabläufen wie gesunde Gehirne von Atheisten. Weil im Mittelalter die Religion das Leben bestimmte, weil die Menschen zum Beispiel noch alle Siebenschläfer mit Namen aufzählen konnten und die Bibel in- und auswendig kannten, auch wenn sie des Lesens nicht mächtig waren, verfügten sie über ein Sensorium, das säkularen Menschen abhanden gekommen ist. Ein Sensorium, das auf der Kenntnis von Heiligenlegenden basiert und das Voraussetzung ist, um Segenssprüche neuronal zu verarbeiten. Die Mediziner des Mittelalters glaubten an die psychosomatische Wirkung des gesprochenen Wortes. Der Schulmediziner des 21. Jahrhunderts bezeichnet es als „elektrochemisches Potential“.
RUDOLF NEUMAIER
WOLFGANG ERNST: Beschwörungen und Segen. Angewandte Psychotherapie im Mittelalter. Böhlau-Verlag, Köln-Weimar-Wien, 2011. 386 Seiten, 49,90 Euro.
Die Geschichte von Hiob
hat ein glückliches Ende – sie half
bei der Wurmvertreibung
Cristus creuz sei mit mir: Spruch zur Unfallvorsorge aus einer Münchner Handschrift, 15. Jahrhundert. Verlag
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Eine Dienstleistung der DIZ München GmbH
euch Elfen und Dämonen
Der Neurologe Wolfgang Ernst klopft mittelalterliche
Segenssprüche auf ihre psychosomatische Wirkung ab
Übrig geblieben ist der Blasiussegen. Er wird in katholischen Regionen einmal im Jahr erteilt, in der Regel am 2. Februar, Maria Lichtmess. Mit der einen Hand hält der Priester dem Empfänger zwei gekreuzte Kerzen vor den Kehlkopf, macht mit der anderen das Kreuzzeichen und betet den Spruch: „Durch Fürsprache des Heiligen Blasius, des Bischofs und Märtyrers, befreie dich Gott von Kehlkrankheit und jedem anderen Übel.“ Das wirkt dann ein Jahr lang. Wenn es wirkt. Hier kommt der Neurologe und Psychiater Wolfgang Ernst mit seinem neuen Buch ins Spiel. Im limbisch-hippocampalen System des Gehirns, sagt Ernst, kann in akuten Fällen allein die Nennung des Namens Blasius positive Effekte zeitigen – bei Menschen, die mit Blasius und seiner Geschichte vertraut sind.
Wer aus einer katholischen Gegend wie Oberbayern stammt und beim freitäglichen Fischessen schon mal Erstickungsanfälle wegen einer Gräte miterlebt hat, wird den Blasiussegen in Ehren halten. Der röchelnde und im Gesicht bereits blau anlaufende Großvater wurde mit Weißbrot vollgestopft und auf den Tisch gelegt. Und während die halbe Familie auf seinen Rücken drosch, um den Fremdkörper in seiner Gurgel zu lockern, erzählte die Großmutter seelenruhig die Geschichte von Blasius, der einen Knaben vor dem Erstickungstod gerettet hatte. Keine Panik, sollte das bedeuten, der Großvater hat ja den Blasiussegen.
Was soll man sagen, der Großvater gewann seinen Kampf gegen die Gräte, er überlebte die Mahlzeit. Dafür gibt es eine rein physikalische Erklärung. Oder aber auch eine neurologische: Der akute Stress einer Notfallsituation fördere die Ausschüttung des Hormons Cortisol, was unter anderem die Suggestibilität erhöhe und die Wirksamkeit der Imaginationen durch Psychotherapie verstärke, schreibt Ernst.
In seiner Praxis ist er als Nervenarzt und Psychotherapeut tätig. Nebenbei beschäftigt sich Ernst mit Medizingeschichte. In seinem lesenswerten Buch „Beschwörungen und Segen“ kombiniert er seine fachärztliche Kenntnis und seine historischen Studien. Er klopft „Angewandte Psychiatrie im Mittelalter“, wie der Untertitel lautet, auf ihre Wirksamkeit ab und legt den Wissensstand der heutigen Neurologie als Maßstab an. Als medizinischer Laie kann man seine Diagnosen schwer überprüfen. Doch plausibel klingen sie allemal. Viel von dem, was Kranke und Verletzte an Sprüchen und Segnungen zu hören bekamen, war demnach therapeutisch sinnvoller, als man zunächst annehmen mag.
Nehmen wir den Fiebersegen mit den Siebenschläfern von Ephesus: Er rührt von der Legende von sieben christlichen Hirten, die auf Geheiß des römischen Kaisers Decius eingemauert wurden, weil sie seine Götter nicht anbeteten. Fast 200 Jahre später bricht ein Landwirt die Höhle auf, um sie als Schafstall zu nutzen. Die Hirten leben noch, sie haben nur geschlafen. Erzählt die Legende.
Im 9. Jahrhundert ist sie bis Nordfrankreich verbreitet, in einem Codex des Regensburger Klosters St. Emmeram wird sie in einen Segensspruch integriert, zur Therapie gegen Fieber und Schüttelfrost. Durch die Fürsprache der Siebenschläfer möge Gott den Gesegneten beschützen, heißt es da. Wie jene solle der Kranke „nach der Kinder Art im Mutterschoß ruhend weder Mühe noch Schmerz oder Tod spüren“. Und so fort. Ähnliche Zeugnisse führt Wolfgang Ernst bis ins 16. Jahrhundert an. Hokuspokus? Mag sein, aber offenbar ein überaus nützlicher. Der Neurologe hält diese Art von Erzähltherapie für tauglich, „einen fieber- und schmerzdämpfenden Ruhezustand zu fördern“.
Gegen Augenleiden, Regelblutungen und zur Schmerzlinderung bei Frakturen gab es ebenso Heilsprüche wie gegen Zahnschmerzen und Epilepsie. Wobei sie bei Epileptikern neurologisch betrachtet wirkungslos blieben, denn im bewusstlosen Zustand verarbeitet das Gehirn keine akustischen Signale. Die Sprüche gegen Schlafstörungen klingen hingegen wie ein Exorzismus: „Ich beschwöre euch Elfen und alle Geschlechter der Dämonen, dass ihr zurückweicht vom Diener Gottes N.“ Zur Wurmvertreibung rekurrierte man auf Hiob aus dem Alten Testament – eine Katastrophengeschichte mit Happy End. Segenssprüche wie diese dienten zumindest als therapiebegleitende Entspannungsmaßnahme.
Ja aber, sagt sich der aufgeklärte Mensch, im Mittelalter waren sie für solchen Zauber noch zugänglich, heute sind wir klüger. Das ist Quatsch. „Die Gehirne unserer mittelalterlichen Vorfahren arbeiteten wie die unseren.“ Und gesunde Gehirne gottgläubiger Menschen, stellt Ernst fest, funktionieren unter den gleichen neuronalen Arbeitsabläufen wie gesunde Gehirne von Atheisten. Weil im Mittelalter die Religion das Leben bestimmte, weil die Menschen zum Beispiel noch alle Siebenschläfer mit Namen aufzählen konnten und die Bibel in- und auswendig kannten, auch wenn sie des Lesens nicht mächtig waren, verfügten sie über ein Sensorium, das säkularen Menschen abhanden gekommen ist. Ein Sensorium, das auf der Kenntnis von Heiligenlegenden basiert und das Voraussetzung ist, um Segenssprüche neuronal zu verarbeiten. Die Mediziner des Mittelalters glaubten an die psychosomatische Wirkung des gesprochenen Wortes. Der Schulmediziner des 21. Jahrhunderts bezeichnet es als „elektrochemisches Potential“.
RUDOLF NEUMAIER
WOLFGANG ERNST: Beschwörungen und Segen. Angewandte Psychotherapie im Mittelalter. Böhlau-Verlag, Köln-Weimar-Wien, 2011. 386 Seiten, 49,90 Euro.
Die Geschichte von Hiob
hat ein glückliches Ende – sie half
bei der Wurmvertreibung
Cristus creuz sei mit mir: Spruch zur Unfallvorsorge aus einer Münchner Handschrift, 15. Jahrhundert. Verlag
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Wenn's nach Rudolf Neumaier und dem Autor dieses Buches ginge, wären die Segenssprüche manchmal schon einen Versuch wert. Möglich, dass wir doch nicht so abgeklärt säkularisiert sind, wie wir meinen. Dann könnte ein Spruch, eine Beschwörung, ein Segen uns durchaus Leid ersparen, weil unsere Neuronen immer noch genauso feuern, wie anno dunnemals. Oder doch nicht? Was der Nervenarzt und Hobby-Medizinhistoriker Wolfgang Ernst an Segenssprüchen in diesem laut Neumeier lesenswerten Buch versammelt hat, stellt sich für den Rezensenten als doch nicht ganz voraussetzungslos heraus. So nützlich etwas der Blasiussegen einst gewesen sein mochte, die Geschichte dahinter muss man schon kennen, um in den Genuss einer solchen Erzähltherapie zu kommen. Genau hier hapert's jedoch beim säkularen Menschen.
© Perlentaucher Medien GmbH
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