Ausgezeichnet mit dem Wilhelm-Raabe-Literaturpreis, nominiert für den Deutschen Buchpreis, SWR Bestenliste
Vor dem Hintergrund einer historischen Katastrophe erzählt der Romancier Gert Loschütz eine große, unter die Haut gehende Geschichte von Liebe und Verrat: Im Dezember 1939 kommt es vor dem Bahnhof von Genthin zum schwersten Zugunglück, das sich jemals auf deutschem Boden ereignet hat. Zwei Züge prallen aufeinander, zahlreiche Menschen sterben. In einem davon sitzt Carla, die schwer verletzt überlebt. Verlobt ist sie mit Richard, einem Juden aus Neuss, aber nicht er ist ihr Begleiter, sondern der Italiener Giuseppe Buonomo, der durch den Aufprall ums Leben kommt. Das Ladenmädchen Lisa vom Kaufhaus Magnus erhält den Auftrag, der Verletzten, die bei dem Unglück alles verloren hat, Kleidung zu bringen. Aber da gibt Carla sich bereits als Frau Buonomo aus. Was versucht sie zu verbergen? Von diesem mysteriösen Vorfall erfährt viele Jahre später Lisas Sohn Thomas Vandersee, dem die Mutter zugleich ihre eigene Liebes- und Unglücksgeschichte erzählt. Kann er Carlas Geheimnis ergründen? Hängt es womöglich mit seiner eigenen Familie zusammen?
Vor dem Hintergrund einer historischen Katastrophe erzählt der Romancier Gert Loschütz eine große, unter die Haut gehende Geschichte von Liebe und Verrat: Im Dezember 1939 kommt es vor dem Bahnhof von Genthin zum schwersten Zugunglück, das sich jemals auf deutschem Boden ereignet hat. Zwei Züge prallen aufeinander, zahlreiche Menschen sterben. In einem davon sitzt Carla, die schwer verletzt überlebt. Verlobt ist sie mit Richard, einem Juden aus Neuss, aber nicht er ist ihr Begleiter, sondern der Italiener Giuseppe Buonomo, der durch den Aufprall ums Leben kommt. Das Ladenmädchen Lisa vom Kaufhaus Magnus erhält den Auftrag, der Verletzten, die bei dem Unglück alles verloren hat, Kleidung zu bringen. Aber da gibt Carla sich bereits als Frau Buonomo aus. Was versucht sie zu verbergen? Von diesem mysteriösen Vorfall erfährt viele Jahre später Lisas Sohn Thomas Vandersee, dem die Mutter zugleich ihre eigene Liebes- und Unglücksgeschichte erzählt. Kann er Carlas Geheimnis ergründen? Hängt es womöglich mit seiner eigenen Familie zusammen?
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Für den Rezensenten Markus Clauer ist Gert Loschütz ein "stiller Virtuose der Erzählkunst". Und dieses Urteil kann der Kritiker nach Loschütz' jüngstem Roman nur bekräftigen: Während ihm der Autor basierend auf einem Zugunglück im Dezember 1939, bei dem 196 Menschen starben, aus dem Leben der überlebenden "Halbjüdin" Carla Finck erzählt, bewundert Clauer einmal mehr Loschütz' Fähigkeit, Fakten und Fiktion, Protokoll und Poesie miteinander zu verbinden. Und mitunter zerreißt dem Kritiker dieser Blick auf ein siebzigjähriges Leben das Herz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.07.2021Die scheinbar unscheinbaren Details
Gert Loschütz macht in seinem Roman "Besichtigung eines Unglücks" aus privatem Leben eine große deutsche Zeitgeschichte
Bereits der erste Satz ist ein doppelter Sabotageakt. "'Nicht deine Zeit.' Das sei doch nicht meine Zeit, sagte Yps, als ich mit der Zusammenschrift schon begonnen hatte, beugte sich aus dem Bett und angelte nach ihrem Pulli, der vom Sessel gerutscht war, setzte sich auf und zog ihn mit einer raschen Bewegung über den Kopf." Einerseits ist es das schreibende Ich, das sich hier für seine "Zusammenschrift" rechtfertigen muss. Und zwar vor der eher pragmatisch veranlagten Geliebten. Andererseits wird der Leser gewarnt: Da stöbert einer auf staubigen Dachböden in den Sachen toter Menschen und macht sie auf diese Weise zu lebenden Romanfiguren!
Wer Gert Loschütz kennt, vor allem, wer seinen zuletzt erschienenen Roman "Ein schönes Paar" gelesen hat, weiß: Kein deutschsprachiger Autor beherrscht den modianohaft melancholischen Ton des Vergangenheitsinspekteurs so gut wie der 1947 in Genthin geborene Schriftsteller. Im Vorgängerroman hatte er das zerfetzte Erinnerungsbild eines Sohnes von der gescheiterten Ehe seiner Eltern so zusammenfügt, dass die politische deutsche Teilung als menschliche Tragödie Kontur gewann. Im neuen Roman muss diese nicht erst den Schleiern der Erinnerung entrissen werden. Sie ist gleich da. Auf den allerersten Seiten schon.
Im sachsen-anhaltinischen Städtchen Genthin hat es 1939, nur wenige Monate nach dem deutschen Überfall auf Polen, ein entsetzliches Zugunglück gegeben. "Zwei Tage vor Heiligabend, zwölf Grad minus, 0 Uhr 53. Die Stadt, die Dörfer in tiefem Schlaf. Kein Mond, keine Sterne, der Himmel bedeckt, ein wenig Schnee. Dann der harte metallische Schlag, Eisen auf Eisen, das Kreischen der sich ineinander bohrenden Wagen, das Knirschen der sich stauchenden Bleche, das Krachen und Splittern zerberstenden Holzes." Am Abend davor hatten zwei Schnellzüge den Potsdamer Bahnhof in Berlin verlassen. Der D 10 in Richtung Köln und der D 180 in Richtung Neunkirchen, im Abstand von einer halben Stunde. Neunzig Minuten vom Ausgangsort entfernt geschieht dann das Ungeheuerliche: Der D 180 prallt im Bahnhof von Genthin bei Höchstgeschwindigkeit auf den D 10. Die Züge schieben sich ineinander, ein Wagen steht kopf. Es ist eines der schwersten Zugunglücke in der Geschichte der deutschen Eisenbahn. Laut diesem Buch sterben dabei fast zweihundert Menschen.
Die Erinnerung an das Unglück von Genthin wird dem nachgeborenen Erzähler regelrecht aufgedrängt durch einen alten Mann, der auf den Autor einer Reisereportage aufmerksam wird. Dessen Nachname sei ihm bekannt vorgekommen, nachdem auch das Städtchen Genthin im Artikel Erwähnung gefunden habe. Er sei mit einer Lisa Vandersee zur Schule gegangen, ob es da einen Zusammenhang gebe. Ja, das sei seine Mutter gewesen, antwortet der Erzähler. Und anstatt sich über diesen Zufall zu freuen, empfindet er die Fragen des Hobby-Stadthistorikers bald als bedrängend: "War es möglich, dachte ich, dass er in mir eine verwandte Seele sah, jemanden, den er durch seine Geschenke dazu verpflichten konnte, dereinst seine Nachfolgerschaft anzutreten?"
Und nun sind bereits die wichtigsten Bausteine da, die Loschütz braucht, um seine Recherche über die Umstände eines realen Unglücks in die für ihn so charakteristische semifiktionale Recherche ins Innere der beteiligten Seelen gleiten zu lassen. Loschütz zoomt wie im berühmten Antonioni-Film "Blow Up" aus einer allgemeinen Szene ins scheinbar unscheinbare Detail. Und dort bleibt sein Blick haften. Es gelingt ihm dabei, auch den Blick des Lesers zu bannen, obwohl über viele Seiten hinweg kaum etwas geschieht. Berichtet wird aus den Polizeiakten der am Unfall beteiligten Lokführer, ihrer Heizer, der Signalarbeiter, Ärzte, Unfallzeugen. Exakte Zeit- und Wetterangaben, die kriegsbedingte Verdunkelungssituation in der Unfallnacht, hyperrealistische Nacherzählungen von Arbeitsabläufen. Und dann ein Bild: "Ich erinnere mich an solche Tage. Die Häuser ducken sich unter der Kälte, ein dünner Rauchfaden steigt aus dem Schornstein. Die Kähne sind weniger am Ufer vertäut als daran fest gefroren. In den Stuben brennt von morgens bis abends Licht, vor den unteren Fensterdritteln hängen Wolldecken gegen den Luftzug. Tagelang steht der Essensgeruch in der Wohnung, nistet sich in den Haaren ein, im Pullover."
Was sehen wir dann durch die Augen des Autors, der ausgehend von Polizeiakten eine Geschichte entfaltet, die ihn - je tiefer er blickt, desto mehr - selbst betrifft? Wir sehen eine junge Frau namens Lisa, die einer anderen jungen Frau namens Carla Kleidungsstücke ins Krankenhaus bringt. Besagte Lisa war 1939 Lehrmädchen im Kaufhaus Magnus gewesen. Carla gibt sich als die Ehefrau eines beim Unfall verunglückten Italieners aus. Das macht sie verdächtig, und so wird die Gestapo in den Fall verwickelt. Verlobt war Carla, deren jüdischer Vater das Land verlassen hatte, mit einem Juden namens Richard Kuiper. Das macht die "Halbjüdin" in der Ideologie der Nazis zur "Volljüdin". Auf Druck der zuständigen NS-Beamten ("Ledermäntel"), verleugnet Carla schließlich ihre Verlobung mit Richard und entgeht dadurch seinem Schicksal der Deportation mit Todesfolge.
Der Erzähler beginnt nun, das Leben und den merkwürdigen Namensschwindel der Carla Finck zu rekonstruieren. Immer stärker rückt dabei seine eigene Mutter in den Fokus. Das Lehrmädchen Lisa, das möglicherweise als Botin Briefe zwischen Richard und Carla überbracht hat? Loschütz arbeitet mit Indizien, die das Zeug haben, eine Sache sowie ihr glattes Gegenteil zu bedeuten: kleine Zettel, Akteneinträge, Ungereimtheiten und Widersprüche der beteiligten Personen. So entsteht eine investigative Atmosphäre: Spannung aus präzise rekonstruierten Atmosphären bei minimalistisch gehaltener Action. Von sanfter Hand geführt, unternimmt der Leser mit dem Erzähler eine Reise von den dunklen Genthiner Kriegsjahren ins ausgebombte Berlin, in dem Lisa mit Söhnchen auf der Couch einer einarmigen Tante lebt. Später kehrt der inzwischen nach Italien ausgewanderte Erzähler immer wieder an die Orte seiner Kindheit zurück. Ins Berlin der Neunzigerjahre vor allem und ins Berlin von heute, wo er in einer eheähnlichen Affäre mit einer Nachbarin seiner kürzlich verstorbenen Mutter lebt.
Der Roman hatte eine frühere Existenzform als Radiohörspiel. Und so ist sein einziger Makel, dass er manchmal den Anschein einer Materialsammlung erweckt. Während "Ein schönes Paar" ein formal perfekter Roman war, zerfällt "Besichtigung eines Unglücks" in seine ungleichen Bestandteile. Dem Stilisten Loschütz gelingt es jedoch, dieses Manko zur Nebensache zu machen. Zum Schluss folgt ein Kapitel namens "Aus den Notizheften". Hier werden alle Handlungsfäden noch einmal zusammengeführt. Am Ende taucht auch eine hochbetagte Carla wieder auf. Sie liegt im Krankenhaus, den Kopf abgewandt, die Haare weißgrau wie Spinnweben, ein Tropf neben dem Bett. In einem Nebensatz findet sich noch einmal die handlungstreibende Poetik: "- so, das später immer wieder nach einem Zeichen durchforschte Bild, aber nichts. Nichts darüber hinaus." KATHARINA TEUTSCH
Gert Loschütz: "Besichtigung eines Unglücks". Roman.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2020. 336 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gert Loschütz macht in seinem Roman "Besichtigung eines Unglücks" aus privatem Leben eine große deutsche Zeitgeschichte
Bereits der erste Satz ist ein doppelter Sabotageakt. "'Nicht deine Zeit.' Das sei doch nicht meine Zeit, sagte Yps, als ich mit der Zusammenschrift schon begonnen hatte, beugte sich aus dem Bett und angelte nach ihrem Pulli, der vom Sessel gerutscht war, setzte sich auf und zog ihn mit einer raschen Bewegung über den Kopf." Einerseits ist es das schreibende Ich, das sich hier für seine "Zusammenschrift" rechtfertigen muss. Und zwar vor der eher pragmatisch veranlagten Geliebten. Andererseits wird der Leser gewarnt: Da stöbert einer auf staubigen Dachböden in den Sachen toter Menschen und macht sie auf diese Weise zu lebenden Romanfiguren!
Wer Gert Loschütz kennt, vor allem, wer seinen zuletzt erschienenen Roman "Ein schönes Paar" gelesen hat, weiß: Kein deutschsprachiger Autor beherrscht den modianohaft melancholischen Ton des Vergangenheitsinspekteurs so gut wie der 1947 in Genthin geborene Schriftsteller. Im Vorgängerroman hatte er das zerfetzte Erinnerungsbild eines Sohnes von der gescheiterten Ehe seiner Eltern so zusammenfügt, dass die politische deutsche Teilung als menschliche Tragödie Kontur gewann. Im neuen Roman muss diese nicht erst den Schleiern der Erinnerung entrissen werden. Sie ist gleich da. Auf den allerersten Seiten schon.
Im sachsen-anhaltinischen Städtchen Genthin hat es 1939, nur wenige Monate nach dem deutschen Überfall auf Polen, ein entsetzliches Zugunglück gegeben. "Zwei Tage vor Heiligabend, zwölf Grad minus, 0 Uhr 53. Die Stadt, die Dörfer in tiefem Schlaf. Kein Mond, keine Sterne, der Himmel bedeckt, ein wenig Schnee. Dann der harte metallische Schlag, Eisen auf Eisen, das Kreischen der sich ineinander bohrenden Wagen, das Knirschen der sich stauchenden Bleche, das Krachen und Splittern zerberstenden Holzes." Am Abend davor hatten zwei Schnellzüge den Potsdamer Bahnhof in Berlin verlassen. Der D 10 in Richtung Köln und der D 180 in Richtung Neunkirchen, im Abstand von einer halben Stunde. Neunzig Minuten vom Ausgangsort entfernt geschieht dann das Ungeheuerliche: Der D 180 prallt im Bahnhof von Genthin bei Höchstgeschwindigkeit auf den D 10. Die Züge schieben sich ineinander, ein Wagen steht kopf. Es ist eines der schwersten Zugunglücke in der Geschichte der deutschen Eisenbahn. Laut diesem Buch sterben dabei fast zweihundert Menschen.
Die Erinnerung an das Unglück von Genthin wird dem nachgeborenen Erzähler regelrecht aufgedrängt durch einen alten Mann, der auf den Autor einer Reisereportage aufmerksam wird. Dessen Nachname sei ihm bekannt vorgekommen, nachdem auch das Städtchen Genthin im Artikel Erwähnung gefunden habe. Er sei mit einer Lisa Vandersee zur Schule gegangen, ob es da einen Zusammenhang gebe. Ja, das sei seine Mutter gewesen, antwortet der Erzähler. Und anstatt sich über diesen Zufall zu freuen, empfindet er die Fragen des Hobby-Stadthistorikers bald als bedrängend: "War es möglich, dachte ich, dass er in mir eine verwandte Seele sah, jemanden, den er durch seine Geschenke dazu verpflichten konnte, dereinst seine Nachfolgerschaft anzutreten?"
Und nun sind bereits die wichtigsten Bausteine da, die Loschütz braucht, um seine Recherche über die Umstände eines realen Unglücks in die für ihn so charakteristische semifiktionale Recherche ins Innere der beteiligten Seelen gleiten zu lassen. Loschütz zoomt wie im berühmten Antonioni-Film "Blow Up" aus einer allgemeinen Szene ins scheinbar unscheinbare Detail. Und dort bleibt sein Blick haften. Es gelingt ihm dabei, auch den Blick des Lesers zu bannen, obwohl über viele Seiten hinweg kaum etwas geschieht. Berichtet wird aus den Polizeiakten der am Unfall beteiligten Lokführer, ihrer Heizer, der Signalarbeiter, Ärzte, Unfallzeugen. Exakte Zeit- und Wetterangaben, die kriegsbedingte Verdunkelungssituation in der Unfallnacht, hyperrealistische Nacherzählungen von Arbeitsabläufen. Und dann ein Bild: "Ich erinnere mich an solche Tage. Die Häuser ducken sich unter der Kälte, ein dünner Rauchfaden steigt aus dem Schornstein. Die Kähne sind weniger am Ufer vertäut als daran fest gefroren. In den Stuben brennt von morgens bis abends Licht, vor den unteren Fensterdritteln hängen Wolldecken gegen den Luftzug. Tagelang steht der Essensgeruch in der Wohnung, nistet sich in den Haaren ein, im Pullover."
Was sehen wir dann durch die Augen des Autors, der ausgehend von Polizeiakten eine Geschichte entfaltet, die ihn - je tiefer er blickt, desto mehr - selbst betrifft? Wir sehen eine junge Frau namens Lisa, die einer anderen jungen Frau namens Carla Kleidungsstücke ins Krankenhaus bringt. Besagte Lisa war 1939 Lehrmädchen im Kaufhaus Magnus gewesen. Carla gibt sich als die Ehefrau eines beim Unfall verunglückten Italieners aus. Das macht sie verdächtig, und so wird die Gestapo in den Fall verwickelt. Verlobt war Carla, deren jüdischer Vater das Land verlassen hatte, mit einem Juden namens Richard Kuiper. Das macht die "Halbjüdin" in der Ideologie der Nazis zur "Volljüdin". Auf Druck der zuständigen NS-Beamten ("Ledermäntel"), verleugnet Carla schließlich ihre Verlobung mit Richard und entgeht dadurch seinem Schicksal der Deportation mit Todesfolge.
Der Erzähler beginnt nun, das Leben und den merkwürdigen Namensschwindel der Carla Finck zu rekonstruieren. Immer stärker rückt dabei seine eigene Mutter in den Fokus. Das Lehrmädchen Lisa, das möglicherweise als Botin Briefe zwischen Richard und Carla überbracht hat? Loschütz arbeitet mit Indizien, die das Zeug haben, eine Sache sowie ihr glattes Gegenteil zu bedeuten: kleine Zettel, Akteneinträge, Ungereimtheiten und Widersprüche der beteiligten Personen. So entsteht eine investigative Atmosphäre: Spannung aus präzise rekonstruierten Atmosphären bei minimalistisch gehaltener Action. Von sanfter Hand geführt, unternimmt der Leser mit dem Erzähler eine Reise von den dunklen Genthiner Kriegsjahren ins ausgebombte Berlin, in dem Lisa mit Söhnchen auf der Couch einer einarmigen Tante lebt. Später kehrt der inzwischen nach Italien ausgewanderte Erzähler immer wieder an die Orte seiner Kindheit zurück. Ins Berlin der Neunzigerjahre vor allem und ins Berlin von heute, wo er in einer eheähnlichen Affäre mit einer Nachbarin seiner kürzlich verstorbenen Mutter lebt.
Der Roman hatte eine frühere Existenzform als Radiohörspiel. Und so ist sein einziger Makel, dass er manchmal den Anschein einer Materialsammlung erweckt. Während "Ein schönes Paar" ein formal perfekter Roman war, zerfällt "Besichtigung eines Unglücks" in seine ungleichen Bestandteile. Dem Stilisten Loschütz gelingt es jedoch, dieses Manko zur Nebensache zu machen. Zum Schluss folgt ein Kapitel namens "Aus den Notizheften". Hier werden alle Handlungsfäden noch einmal zusammengeführt. Am Ende taucht auch eine hochbetagte Carla wieder auf. Sie liegt im Krankenhaus, den Kopf abgewandt, die Haare weißgrau wie Spinnweben, ein Tropf neben dem Bett. In einem Nebensatz findet sich noch einmal die handlungstreibende Poetik: "- so, das später immer wieder nach einem Zeichen durchforschte Bild, aber nichts. Nichts darüber hinaus." KATHARINA TEUTSCH
Gert Loschütz: "Besichtigung eines Unglücks". Roman.
Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2020. 336 S., geb., 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.08.2021Die entscheidenden vier Sekunden
Ein jüdisches Liebespaar lebt bereits in Angst, als das bis heute größte Zugunglück im Personenreiseverkehr es 1939 endgültig trennt.
Gert Loschütz rekonstruiert dieses Schicksal nur aus den Akten. Und es ergreift einen umso mehr
VON HUBERT WINKELS
Gert Loschütz arbeitet leise, langsam, konzentriert. Er konsultiert Akten, forscht nach Dokumenten, liest alte Zeitungsberichte, zitiert aus Dutzenden eigenen Notizbüchern. Und so tut es sein Erzähler Thomas Vandersee. Und wenn ihm keine administrativ beglaubigten Informationen vorliegen, bricht er den Bericht ab, um Überlegungen anzustellen über den möglichen Fortgang der Ereignisse. Er betont die Not des Konjunktivs und macht an ganz anderer Stelle weiter. Das klingt so spröde, wie es ist; auch wenn die verbotene Geliebte des Erzählers, Yps, sich mit ihm über die „Zusammenschrift“ beugt. Yps gehört der erste Satz des Romans: „Nicht deine Zeit.“
Es geht zunächst um ein Ereignis vom 22.12.1939 im Bahnhof der sachsen-anhaltischen Stadt Genthin (in der Gert Loschütz geboren wurde). Gegen ein Uhr in der Nacht rast ein aus Berlin kommender Personenzug in einen anderen, der eine Dreiviertelstunde vorher auch am dortigen Potsdamer Bahnhof losgefahren war. Es ist das bis heute größte Unglück im deutschen Personenzugverkehr. Knapp 200 Tote wurden damals, kurz nach Beginn des Krieges, registriert. Schätzungen gehen von bis zu 400 Todesopfern und 700 Verletzten aus. Doch wer weiß heute noch vom Zugunglück in Genthin?
Über 120 Seiten, mehr als ein Drittel seines Romans, rekonstruiert der Erzähler die Katastrophe von Minute zu Minute, in der Kernzeit des Zusammenstoßes sekundengenau. „Vier Sekunden“ heißt ein Kapitel, das die kleinste Spanne meint, in der das Unglück hätte verhindert werden können. Ganz nüchtern dargelegt einerseits, das Zahlenspiel, aber so manisch wiederholt, dass es die Fassungslosigkeit angesichts des Geschehens spiegelt – die Fassungslosigkeit über den Zufall, der solche Löcher in die Wirklichkeit schlägt, oder über die Wirklichkeit, die aus solchen Löchern besteht, die wir aber nicht sehen wollen.
Man kann sagen, dass der Roman „Besichtigung eines Unglücks“ eine neusachliche Meditation über die Kontingenz der Geschichte, des sozialen Lebens, des Seienden überhaupt ist. Solche entlastenden Begriffe vermeidet Loschütz allerdings streng, zugunsten der kruden Tatsachen, des Schmerzes des Realen. Er bleibt genau bis zur sprachlichen Umständlichkeit, und er lässt eine Imagination lieber in Verwischungen auslaufen, als sie künstlich zu stabilisieren. Eine aktenförmige Annäherung an Ursprung und Folgen der intentionslosen Gewalt.
Im Zentrum kracht und knirscht es, schneidet, schreit und spreizt es sich auf: die ineinander verkeilten Züge. Doch ist das nicht wirklich zu hören im Roman. Loschütz macht dieses Schrillste auf seine reduzierte, ja sture Weise tonlos. Die minutiöse Rekonstruktion macht aus einem grellen Inferno eine Dokumentation in Schwarz-Weiß. Gegen das literarische Bild der verkeilten Züge im Roman ist Caspar David Friedrichs von Ferne verwandtes Gemälde „Eismeer“ illustre Pop-Art. Die Frage nach der Schönheit des Schrecklichen verbietet sich dank dieser Dämpfung von selbst. Eher könnte man sagen, dass die gefühllose Beredtheit der Akten das Unfassbare ex negativo zugänglich mache. Und doch bleibt auch diese archivgestützte Erzählform eine Kompensation für den Sinnentzug, der den Zufall definiert. Die Kunst, auch die sprödeste, dient der Kontingenzbewältigung.
Drei Monate nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geschah das Unglück von Genthin. Auch der Krieg war ein Akteur, mit seinen neuen Fahrplänen, Verdunkelungen, Militärfahrzeugen, dem gesamten psychosozialen Dispositiv der Zeit. Aber natürlich ist das Zugunglück auch eine ganz unspektakulär eingerichtete Allegorie des Kriegsausbruchs. Loschütz tut nichts für diesen Eindruck, aber man kann ihn nicht nicht haben. Dass die historisch-politischen Bedingungen nicht mit reflektiert werden, liegt am Willen, den schieren Sachverhalt ohne erklärende Einbettung zu destillieren. So wird aus dem Konkretesten unversehens das Abstrakte.
Nie weiß der Erzähler mehr als die Figuren. Neben den Eisenbahnern und Kriminalisten ragen zwei Personen aus dem Desaster heraus. Ein eleganter Italiener mit ebensolchem Namen – Buonomo – und eine zierliche junge Frau, die gemeinsam am Potsdamer Bahnhof eingestiegen sind. Sie geben eine Weile Rätsel auf. Buonomo wird schließlich unter den Toten des Zugunglücks ausgemacht, Carla, seine Begleiterin, bleibt eine Weile verschwunden. Sie liegt schwer verletzt und unter falschem Namen im Genthiner Krankenhaus.
Der Erzähler, 1939 noch nicht geboren, stößt in seiner Archivarbeit auf eine Liste mit Kleidungsstücken, die jener Carla vom Genthiner Textilkaufhaus Magnus geliefert wurden, in dem seine Mutter Lehrmädchen war. An dieser Stelle verschiebt sich der Fokus des Romans, springt dann plötzlich, und wir landen in einer scheinbar neuen Erzählung, die von dem verfolgten Juden Richard Kuiper und seiner Verlobten Clara handelt. Beide leben in Neuss und Düsseldorf. Er ist als „Volljude“ rassistisch markiert, Clara, deren Eltern längst nach London geflohen sind, gilt den Nazis als Halbjüdin. Beide leben in Angst, müssen sich verstellen und verstecken und suchen nach Orten der Begegnung. Richard droht zu verzweifeln, will fliehen, Clara ermutigt ihn, sucht ihn mit Liebesbeteuerungen zu stützen.
Woher wissen wir das so genau, wenn Gert Loschütz seinem Erzählen aus den Akten treu bleibt? Wegen möglicher Schadensansprüche der Unfallopfer sammelt die Reichsbahn alle die Reise betreffenden Daten der Zuginsassen. Clara, auf etwas undurchsichtige Weise mit dem eleganten Buonomo in Berlin unterwegs und andererseits Richard ihrer ewigen Liebe versichernd, überlässt ihre Korrespondenz aus dieser Zeit der Bahn, wo sie der Erzähler Jahrzehnte später abruft. Von dort und aus dem Düsseldorfer Stadtarchiv. So setzt er leise, langsam, unauffällig die Verzweiflung des jüdischen Liebespaares zusammen. Nutzt Clara den gutherzigen Buonomo vielleicht als Organisator für ein Visum nach Argentinien, dem Wunschland von Richard? Ist sie wegen ihres Liebsten mit dem Zug und in Berlin unterwegs und darf ihm nicht schreiben? Gert Loschütz bleibt strikt bei der Erzählform der externen Fokalisierung. Er weiß immer weniger als seine Figuren, die erst bei gut der Hälfte des Romans ganze Menschen zu werden beginnen, aus den Papieren auferstehen. Ein befreiendes Leseerlebnis, das den Roman gewissermaßen „normalisiert“. Dennoch ist es ein dünner Rand, der die Personen hält. Sie sind silhouettenartig ausgeschnitten aus dem Stoff des Nichtwissens. Nur füllen wir sie mit unserer Imagination und unseren Wünschen für sie. Das ist zusammen mit dem dramaturgisch extrem retardierten Aufbau des Romans, seiner Berichtsförmigkeit und den Übergängen zwischen den diversen Erzählsphären und Kapiteln ein weiterer gewagter Zug des Erzählers. Dort wo kein Dokument mehr hinreicht, greift eine Art Indizienlogik. Kommt auch die an ihr Ende, wird das Potenzial des Konjunktivs ausgeschöpft. Auch dies ein eher negatives Verfahren, bei dem das Wahrscheinliche der Feind der wunschgetragenen Einbildung ist.
Die dritte (von vier) Sphären des Romans besteht in der Jugendgeschichte des Erzählers Thomas Vandersee aus Genthin. Es spricht einiges dafür, dass es seine Mutter Lisa war, die als Lehrmädchen die Kleider für Clara ins Krankenhaus gebracht hat. Nach dem Krieg werden Mutter und Sohn zu DDR-Bürgern, und da sich die Mutter in einen immer nur „Der Begabte“ genannten Geiger verliebt hat, folgen sie diesem nach West-Berlin, wo das gesichtslose Musikgenie menschlich völlig versagt.
Es folgt eine hochkomplexe Vatersuche oder besser: unfreiwillige Vaterentdeckung des jungen Thomas, die sich so weit entfernt von den Genthiner und Düsseldorfer Geschichten, dass man nicht mehr sicher ist, noch im selben Roman zu sein. Ist es auch irritierend, so hat es doch Methode. Gert Loschütz inszeniert den Zufall in seinen Geschichten gemäß seiner Wirkung in der Wirklichkeit. Den Teilstücken Kohärenz zu verschaffen, erschiene ihm offenbar verlogen.
Fast verrückt wirken die zwei letzten Übergänge: Thomas’ Mutter Lisa hat in einem Notenbuch ein Papier mit dem Namen von Richard Kuipers Düsseldorfer Straße gefunden: Mintrop. Das könnte heißen, dass sie vor vielen Jahrzehnten von der Richard liebenden Carla gebeten worden ist, diesem zu schreiben. Aber warum? Wegen der Auswanderung aus Nazideutschland? Ein Zeichen der Liebe womöglich? Ja, bestimmt! So klein und berührend ist diese Hoffnung, dass es einen an das schwer zu vergessende Ende des Liebesromans „Ein schönes Paar“ von Gert Loschütz erinnert. Die seit Jahren getrennt lebenden Eltern des Erzählers schauen darin über die Dächer einer Kleinstadt hinweg jeden Abend zur selben Zeit dahin, wo der jeweils andere steht und ebenfalls schaut.
Zweifel und Überwältigung hören gar nicht mehr auf, wenn der Erzähler ganz am Ende im Archiv des Düsseldorfer Pflegeheims, in dem Clara Jahrzehnte nach ihrer Geschichte mit Richard Kuiper gestorben ist, entdeckt, dass sie schließlich Frau Öttinger geheißen und noch fünfmal geheiratet hat, jedes Mal einen Mann mit dem Vornamen Richard. In „Besichtigung eines Unglücks“ strapaziert Gert Loschütz den Zufall in der Unordnung des Leben ziemlich arg für die Ordnung des Romans. Man kann auch sagen, er instrumentalisiert ihn, womit er ihn auf raffinierte Weise auslöscht. Für dieses Kunststück braucht er die dokumentarische Methode. Es ist manchmal irritierend, dann wieder überwältigend schrecklich oder schön. So wie bei den fünf Richards. Dieser symbolische Coup, diese unglaublicher Überdetermination soll aus den Akten sein? Also aus dem Leben?
Ja woher denn sonst? Wir prüfen das nicht nach. Wir schlucken einmal schwer, geben die skeptische Reserviertheit auf und lassen uns verführen vom Versuch, die Welt zugleich „aus den Akten“ und „aus dem Zufall“ zu bauen.
Die minutiöse Rekonstruktion
macht aus dem Inferno eine
Dokumentation in Schwarz-Weiß
Kommt die Indizienlogik
an ihr Ende, wird das Potenzial
des Konjunktivs ausgeschöpft
Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks. Roman. Schöffling,
Frankfurt am Main 2021.
334 Seiten, 24 Euro.
Am 22. Dezember 1939 kollidierten zwei Züge am Bahnhof von Genthin. Es gab Hunderte Tote und Verletzte.
Foto: mauritius images / Historic Collection / Alamy
Der Schriftsteller Gert Loschütz, 1946 in
Genthin geboren.
Foto: imago/Gerhard Leber
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein jüdisches Liebespaar lebt bereits in Angst, als das bis heute größte Zugunglück im Personenreiseverkehr es 1939 endgültig trennt.
Gert Loschütz rekonstruiert dieses Schicksal nur aus den Akten. Und es ergreift einen umso mehr
VON HUBERT WINKELS
Gert Loschütz arbeitet leise, langsam, konzentriert. Er konsultiert Akten, forscht nach Dokumenten, liest alte Zeitungsberichte, zitiert aus Dutzenden eigenen Notizbüchern. Und so tut es sein Erzähler Thomas Vandersee. Und wenn ihm keine administrativ beglaubigten Informationen vorliegen, bricht er den Bericht ab, um Überlegungen anzustellen über den möglichen Fortgang der Ereignisse. Er betont die Not des Konjunktivs und macht an ganz anderer Stelle weiter. Das klingt so spröde, wie es ist; auch wenn die verbotene Geliebte des Erzählers, Yps, sich mit ihm über die „Zusammenschrift“ beugt. Yps gehört der erste Satz des Romans: „Nicht deine Zeit.“
Es geht zunächst um ein Ereignis vom 22.12.1939 im Bahnhof der sachsen-anhaltischen Stadt Genthin (in der Gert Loschütz geboren wurde). Gegen ein Uhr in der Nacht rast ein aus Berlin kommender Personenzug in einen anderen, der eine Dreiviertelstunde vorher auch am dortigen Potsdamer Bahnhof losgefahren war. Es ist das bis heute größte Unglück im deutschen Personenzugverkehr. Knapp 200 Tote wurden damals, kurz nach Beginn des Krieges, registriert. Schätzungen gehen von bis zu 400 Todesopfern und 700 Verletzten aus. Doch wer weiß heute noch vom Zugunglück in Genthin?
Über 120 Seiten, mehr als ein Drittel seines Romans, rekonstruiert der Erzähler die Katastrophe von Minute zu Minute, in der Kernzeit des Zusammenstoßes sekundengenau. „Vier Sekunden“ heißt ein Kapitel, das die kleinste Spanne meint, in der das Unglück hätte verhindert werden können. Ganz nüchtern dargelegt einerseits, das Zahlenspiel, aber so manisch wiederholt, dass es die Fassungslosigkeit angesichts des Geschehens spiegelt – die Fassungslosigkeit über den Zufall, der solche Löcher in die Wirklichkeit schlägt, oder über die Wirklichkeit, die aus solchen Löchern besteht, die wir aber nicht sehen wollen.
Man kann sagen, dass der Roman „Besichtigung eines Unglücks“ eine neusachliche Meditation über die Kontingenz der Geschichte, des sozialen Lebens, des Seienden überhaupt ist. Solche entlastenden Begriffe vermeidet Loschütz allerdings streng, zugunsten der kruden Tatsachen, des Schmerzes des Realen. Er bleibt genau bis zur sprachlichen Umständlichkeit, und er lässt eine Imagination lieber in Verwischungen auslaufen, als sie künstlich zu stabilisieren. Eine aktenförmige Annäherung an Ursprung und Folgen der intentionslosen Gewalt.
Im Zentrum kracht und knirscht es, schneidet, schreit und spreizt es sich auf: die ineinander verkeilten Züge. Doch ist das nicht wirklich zu hören im Roman. Loschütz macht dieses Schrillste auf seine reduzierte, ja sture Weise tonlos. Die minutiöse Rekonstruktion macht aus einem grellen Inferno eine Dokumentation in Schwarz-Weiß. Gegen das literarische Bild der verkeilten Züge im Roman ist Caspar David Friedrichs von Ferne verwandtes Gemälde „Eismeer“ illustre Pop-Art. Die Frage nach der Schönheit des Schrecklichen verbietet sich dank dieser Dämpfung von selbst. Eher könnte man sagen, dass die gefühllose Beredtheit der Akten das Unfassbare ex negativo zugänglich mache. Und doch bleibt auch diese archivgestützte Erzählform eine Kompensation für den Sinnentzug, der den Zufall definiert. Die Kunst, auch die sprödeste, dient der Kontingenzbewältigung.
Drei Monate nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs geschah das Unglück von Genthin. Auch der Krieg war ein Akteur, mit seinen neuen Fahrplänen, Verdunkelungen, Militärfahrzeugen, dem gesamten psychosozialen Dispositiv der Zeit. Aber natürlich ist das Zugunglück auch eine ganz unspektakulär eingerichtete Allegorie des Kriegsausbruchs. Loschütz tut nichts für diesen Eindruck, aber man kann ihn nicht nicht haben. Dass die historisch-politischen Bedingungen nicht mit reflektiert werden, liegt am Willen, den schieren Sachverhalt ohne erklärende Einbettung zu destillieren. So wird aus dem Konkretesten unversehens das Abstrakte.
Nie weiß der Erzähler mehr als die Figuren. Neben den Eisenbahnern und Kriminalisten ragen zwei Personen aus dem Desaster heraus. Ein eleganter Italiener mit ebensolchem Namen – Buonomo – und eine zierliche junge Frau, die gemeinsam am Potsdamer Bahnhof eingestiegen sind. Sie geben eine Weile Rätsel auf. Buonomo wird schließlich unter den Toten des Zugunglücks ausgemacht, Carla, seine Begleiterin, bleibt eine Weile verschwunden. Sie liegt schwer verletzt und unter falschem Namen im Genthiner Krankenhaus.
Der Erzähler, 1939 noch nicht geboren, stößt in seiner Archivarbeit auf eine Liste mit Kleidungsstücken, die jener Carla vom Genthiner Textilkaufhaus Magnus geliefert wurden, in dem seine Mutter Lehrmädchen war. An dieser Stelle verschiebt sich der Fokus des Romans, springt dann plötzlich, und wir landen in einer scheinbar neuen Erzählung, die von dem verfolgten Juden Richard Kuiper und seiner Verlobten Clara handelt. Beide leben in Neuss und Düsseldorf. Er ist als „Volljude“ rassistisch markiert, Clara, deren Eltern längst nach London geflohen sind, gilt den Nazis als Halbjüdin. Beide leben in Angst, müssen sich verstellen und verstecken und suchen nach Orten der Begegnung. Richard droht zu verzweifeln, will fliehen, Clara ermutigt ihn, sucht ihn mit Liebesbeteuerungen zu stützen.
Woher wissen wir das so genau, wenn Gert Loschütz seinem Erzählen aus den Akten treu bleibt? Wegen möglicher Schadensansprüche der Unfallopfer sammelt die Reichsbahn alle die Reise betreffenden Daten der Zuginsassen. Clara, auf etwas undurchsichtige Weise mit dem eleganten Buonomo in Berlin unterwegs und andererseits Richard ihrer ewigen Liebe versichernd, überlässt ihre Korrespondenz aus dieser Zeit der Bahn, wo sie der Erzähler Jahrzehnte später abruft. Von dort und aus dem Düsseldorfer Stadtarchiv. So setzt er leise, langsam, unauffällig die Verzweiflung des jüdischen Liebespaares zusammen. Nutzt Clara den gutherzigen Buonomo vielleicht als Organisator für ein Visum nach Argentinien, dem Wunschland von Richard? Ist sie wegen ihres Liebsten mit dem Zug und in Berlin unterwegs und darf ihm nicht schreiben? Gert Loschütz bleibt strikt bei der Erzählform der externen Fokalisierung. Er weiß immer weniger als seine Figuren, die erst bei gut der Hälfte des Romans ganze Menschen zu werden beginnen, aus den Papieren auferstehen. Ein befreiendes Leseerlebnis, das den Roman gewissermaßen „normalisiert“. Dennoch ist es ein dünner Rand, der die Personen hält. Sie sind silhouettenartig ausgeschnitten aus dem Stoff des Nichtwissens. Nur füllen wir sie mit unserer Imagination und unseren Wünschen für sie. Das ist zusammen mit dem dramaturgisch extrem retardierten Aufbau des Romans, seiner Berichtsförmigkeit und den Übergängen zwischen den diversen Erzählsphären und Kapiteln ein weiterer gewagter Zug des Erzählers. Dort wo kein Dokument mehr hinreicht, greift eine Art Indizienlogik. Kommt auch die an ihr Ende, wird das Potenzial des Konjunktivs ausgeschöpft. Auch dies ein eher negatives Verfahren, bei dem das Wahrscheinliche der Feind der wunschgetragenen Einbildung ist.
Die dritte (von vier) Sphären des Romans besteht in der Jugendgeschichte des Erzählers Thomas Vandersee aus Genthin. Es spricht einiges dafür, dass es seine Mutter Lisa war, die als Lehrmädchen die Kleider für Clara ins Krankenhaus gebracht hat. Nach dem Krieg werden Mutter und Sohn zu DDR-Bürgern, und da sich die Mutter in einen immer nur „Der Begabte“ genannten Geiger verliebt hat, folgen sie diesem nach West-Berlin, wo das gesichtslose Musikgenie menschlich völlig versagt.
Es folgt eine hochkomplexe Vatersuche oder besser: unfreiwillige Vaterentdeckung des jungen Thomas, die sich so weit entfernt von den Genthiner und Düsseldorfer Geschichten, dass man nicht mehr sicher ist, noch im selben Roman zu sein. Ist es auch irritierend, so hat es doch Methode. Gert Loschütz inszeniert den Zufall in seinen Geschichten gemäß seiner Wirkung in der Wirklichkeit. Den Teilstücken Kohärenz zu verschaffen, erschiene ihm offenbar verlogen.
Fast verrückt wirken die zwei letzten Übergänge: Thomas’ Mutter Lisa hat in einem Notenbuch ein Papier mit dem Namen von Richard Kuipers Düsseldorfer Straße gefunden: Mintrop. Das könnte heißen, dass sie vor vielen Jahrzehnten von der Richard liebenden Carla gebeten worden ist, diesem zu schreiben. Aber warum? Wegen der Auswanderung aus Nazideutschland? Ein Zeichen der Liebe womöglich? Ja, bestimmt! So klein und berührend ist diese Hoffnung, dass es einen an das schwer zu vergessende Ende des Liebesromans „Ein schönes Paar“ von Gert Loschütz erinnert. Die seit Jahren getrennt lebenden Eltern des Erzählers schauen darin über die Dächer einer Kleinstadt hinweg jeden Abend zur selben Zeit dahin, wo der jeweils andere steht und ebenfalls schaut.
Zweifel und Überwältigung hören gar nicht mehr auf, wenn der Erzähler ganz am Ende im Archiv des Düsseldorfer Pflegeheims, in dem Clara Jahrzehnte nach ihrer Geschichte mit Richard Kuiper gestorben ist, entdeckt, dass sie schließlich Frau Öttinger geheißen und noch fünfmal geheiratet hat, jedes Mal einen Mann mit dem Vornamen Richard. In „Besichtigung eines Unglücks“ strapaziert Gert Loschütz den Zufall in der Unordnung des Leben ziemlich arg für die Ordnung des Romans. Man kann auch sagen, er instrumentalisiert ihn, womit er ihn auf raffinierte Weise auslöscht. Für dieses Kunststück braucht er die dokumentarische Methode. Es ist manchmal irritierend, dann wieder überwältigend schrecklich oder schön. So wie bei den fünf Richards. Dieser symbolische Coup, diese unglaublicher Überdetermination soll aus den Akten sein? Also aus dem Leben?
Ja woher denn sonst? Wir prüfen das nicht nach. Wir schlucken einmal schwer, geben die skeptische Reserviertheit auf und lassen uns verführen vom Versuch, die Welt zugleich „aus den Akten“ und „aus dem Zufall“ zu bauen.
Die minutiöse Rekonstruktion
macht aus dem Inferno eine
Dokumentation in Schwarz-Weiß
Kommt die Indizienlogik
an ihr Ende, wird das Potenzial
des Konjunktivs ausgeschöpft
Gert Loschütz: Besichtigung eines Unglücks. Roman. Schöffling,
Frankfurt am Main 2021.
334 Seiten, 24 Euro.
Am 22. Dezember 1939 kollidierten zwei Züge am Bahnhof von Genthin. Es gab Hunderte Tote und Verletzte.
Foto: mauritius images / Historic Collection / Alamy
Der Schriftsteller Gert Loschütz, 1946 in
Genthin geboren.
Foto: imago/Gerhard Leber
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»Loschütz gelingt in 'Besichtigung eines Unglücks' ein authentisches Bild Deutschlands in den ersten Kriegsmonaten, jene Zeit, die in der Regel nicht an erster Stelle der historischen Berichterstattung steht[...].« Stefan Alkofer, Modelleisenbahner, 02. Mai 2022