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Schönste und vergessene Gedichte, herausgegeben von Wulf Kirsten, der inmitten kopfloser Geschäftigkeit das Refugium der Poesie behauptet.

Produktbeschreibung
Schönste und vergessene Gedichte, herausgegeben von Wulf Kirsten, der inmitten kopfloser Geschäftigkeit das Refugium der Poesie behauptet.
Autorenporträt
Wulf Kirsten wurde 1934 in Klipphausen bei Meißen geboren und lebt heute in Weimar. Für sein literarisches Schaffen wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. 2006 mit dem Joseph-Breitbach-Preis. Im Ammann Verlag erschienen seine Gedichtbände Stimmenschotter, Wettersturz und erdlebenbilder, die Essaysammlungen Textur und Brückengang und der Erzählband Die Prinzessinnen im Krautgarten.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 26.07.2010

Eine Arche für die Verschollenen
In Wulf Kirstens vielstimmiger Lyrik-Anthologie ist Dichtung nicht zeitloser Rückstand der Geschichte, sondern Zeitzeugin der Epoche
Es ist nicht ohne Reiz, sich den vorangestellten Genitiv („Das Leben ist der Güter höchstes nicht“, Schiller) als Hauptfigur in einem Gedicht von Christian Morgenstern vorzustellen. Er würde sich darin den Spaß erlauben, seinen abgewetzten Schillerkragen allerlei Schiller-Verächtern umzubinden, zum Beispiel Friedrich Nietzsche. Und prompt würde Nietzsche just in den Zeilen, in denen seine Gedichte an den Himmel stoßen, dem vorangestellten Genitiv seine Reverenz erweisen: „Zu nah ist mir der Wolken Sitz – / ich warte auf den ersten Blitz.“ Oder, im Tanzlied „An den Mistral“: „ . . . der du ohne Schiff und Ruder / als der Freiheit freister Bruder / über wilde Meere springst“.
Nietzsche ist eine der beiden Portalfiguren, die der Dichter Wulf Kirsten an den Beginn seiner großen Anthologie zur deutschen Lyrik zwischen 1880 und 1945 gestellt hat. Und ohne Zweifel wird hier ein neuer Ton angeschlagen. Aber das Instrument ist die in der klassischen Literatur der Deutschen gebildete Sprache, daran erinnert das Echo des vorangestellten Genetivs. Die andere Portalfigur ist Detlev von Liliencron, der als Rezitator mit seinen Gedichten durch die Vortragssäle zog und hier vor allem in den reimlosen Versen des Gedichts „Auf einem Bahnhof“ (1890) den Blick auf die technisch-industrielle Moderne freigibt, in der die ästhetische Moderne als ihr Ausdruck und Widerpart groß wurde: „Der neue Mond schob wie ein Komma sich / just zwischen zwei bepackte Güterwagen.“
Das Komma ist gut gesehen, es lässt den alten Begleiter, den bewährten Gedankenfreund der deutschen Poesie, den Mond, auf die Welt der Büros und Kanzleien scheinen, und kontrastiert seinen Lauf mit der verwaltungsgestützten Beschleunigung des modernen Lebenstempos: „Ein Bahnbeamter mit knallroter Mütze / schoß mir vorbei mit Eilgutformularen.“ Man muss, hat man die beiden Portalfiguren passiert, ein wenig innehalten und zurücktreten, um das Riesengebäude dieser Anthologie ins Auge zu fassen, ehe man es betritt.
Der Herausgeber Wulf Kirsten, er wurde 1934 bei Meißen geboren und lebt heute in Weimar, hat es, wie er im Nachwort kurz andeutet, über Jahrzehnte hinweg errichtet. 1981 war seine in Zusammenarbeit mit Konrad Paul entstandene dreibändige Anthologie „Deutschsprachige Erzählungen 1900 bis 1945“ im Aufbau Verlag erschienen, und er machte sich an das geplante zweibändige lyrische Pendant. Als die Vorarbeiten schon sehr weit gediehen waren, fiel 1989 die Mauer, dann ging die DDR unter und der Aufbau Verlag legte das Projekt auf Eis. Kirsten fand nach einiger Zeit beim Ammann Verlag in Zürich Zuflucht. Dessen laufendes Programm ist sein letztes, und in diesem Abschiedsprogramm ist Kirstens Anthologie ein Schwergewicht, das bleiben wird.  
Und zwar gerade deshalb, weil sie sich resolut der Vorstellung verweigert, eine Anthologie müsse ein „Schatzkästlein“ sein oder ein „ewiger Vorrat der Poesie“, der streng destillierte, zeitlose Rückstand der Geschichte. Wulf Kirsten macht schon durch die Zäsuren, die er setzt, klar, welcher Grundidee sein Unternehmen folgt. Er beginnt um 1880, als das Deutsche Reich zum Aufbruch ins zwanzigste Jahrhundert rüstete, und er endet mit dem Jahr 1945. Die Grundidee aber ist: die Gedichte als Zeitzeugen der Epoche der Weltkriege und der Judenvernichtung auftreten zu lassen.
Wäre der Untertitel „von Nietzsche bis Celan“ literaturgeschichtlich gemeint, so müssten hier Gedichte bis zum Todesjahr Celans, 1970, versammelt sein. Aber den Schlusspunkt setzt Celans 1945 entstandene „Todesfuge“, und fast demonstrativ verzichtet Kirsten darauf, ihr Günter Eichs wenig später verfasste „Inventur“ gegenüberzusetzen. So gibt es in dieser Anthologie keine Nachkriegszeit, und Günter Eich wie Peter Huchel und Franz Fühmann, Bertolt Brecht und Johannes R. Becher wie Gottfried Benn, Hermann Hesse wie Wilhelm Lehmann oder Werner Bergengruen sind nur mit Gedichten vertreten, die sie vor 1945 geschrieben haben.
Von ihren späteren Werken abgetrennt, rücken sie in ein Epochenpanorama ein, in dem zahlreiche „poetae minores“ und halb verschollene Verfasser abgebrochener Werke an der Seite der kanonischen Autoren stehen. So begegnet hier unweit von Stefan George und Rainer Maria Rilke der Buchbinder, Maler und Bibliothekar Gustav Renner, dessen Gedicht „Im Park“ an Vorstadtstraßen, Mietskasernen und Stadtbahntrasse vorbeiführt, ehe es in die Kunstwelt des Parks eintritt. Und der Weg von Bismarcks Welt in den Wilhelminismus ist von politischen Gedichten auf die Pariser Commune oder den Bastillesturm und Satiren wie Ludwig Thomas freche „Wuotansenkel“ gesäumt.
„Die Straßen komme ich entlang geweht“ – der Vers von Ernst Blass könnte als Motto über der Entdeckung der Großstadt stehen. Oder „Die Autos blühn im Dufte von Benzin“ (Ossip Kalenter). Doch bleibt auch in der stadtnahen Bohème, etwa bei Peter Hille, der vorangestellte Genitiv, stabil und im Expressionismus steht der „Formzertrümmerung“ und den Stakkato-Gedichten August Stramms eine ganze Phalanx von Sonetten gegenüber.
Dass in dieser weitläufigen Anthologie fast 1000 Gedichte von über 360 Dichtern ihren Platz finden, hat gewiss auch mit der Sammelleidenschaft Wulf Kirstens zu tun. Es ist aber zugleich eine Konsequenz der Grundidee, die Gedichte als Zeitzeugen zu versammeln. Dazu gehört, dass wie proletarisch-revolutionäre Autoren auch solche vertreten sind, die sich mit dem Nationalsozialismus einließen wie Josef Weinheber. Der sorgfältig erarbeitetet bio-bibliographische Anhang hat eine Schlüsselrolle inne. Er vermerkt, wo möglich, die Erstdrucke und macht so das Netz der Zeitschriften und Verlage deutlich. Er lässt zudem erkennen, wie viele Autoren der expressionistischen Generation im Ersten Weltkrieg gefallen sind, welche Biographien – von Erich Arendt bis Karl Wolfskehl – ins Exil führten, welche in einem Vernichtungslager endeten wie bei Jakob van Hoddis und Gertrud Kolmar oder den – kaum bekannten – Arthur Silbergleit, Arno Nadel und Fritz Löhner.
So vielstimmig wie hier ist für die Nachgeborenen die deutsche Dichtung dieser Epoche noch nie versammelt worden. Der einem Gedicht Oskar Loerkes entnomme Titel „Beständig ist das leicht Verletzliche“ akzentuiert den Arche-Charakter der Anthologie. Mit Gewinn nimmt sie auch Gedichte von Autoren auf, die wie Franz Hessel, Irmgard Keun oder der Gelehrte Gerschom Scholem eher für ihre Prosa bekannt sind. Leicht unterrepräsentiert ist, trotz Christian Morgenstern, Ringelnatz und Klabund, Kurt Schwitters und Hans Arp das luftig sprachspielerische, komische Gedicht. Doch kann zum Glück Hans Arps „Opus Null 1-4“ alleine ganzen Tonnen von O Mensch-Pathos die Waage halten.
LOTHAR MÜLLER
WULF KIRSTEN (Hrsg.): „Beständig ist das leicht Verletzliche“. Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan. Ammann Verlag, Zürich 2010. 1120 Seiten, 79,95 Euro.    
„Die Autos blühn im Dufte von
Benzin“ – und die deutschen
Dichter entdecken die Großstadt
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Mit großem, auf einer ganzen Zeitungsseite ausgebreiteten Lob bedenkt Rezensent Peter Hamm diese Anthologie deutschsprachiger Lyrik, die Wulf Kirsten zusammengestellt hat. Das Werk zeichnet sich für ihn aus durch "leidenschaftliche Eigenwilligkeit, genaue Kenntnis und wenig Lücken". Der Rezensent versteht Kirsten als "Diener der Dichter", der eine enorme Vielfalt an Stimmen präsentiere und damit einen frischen Blick auf die Lyrikepoche von 1880 bis 1945 ermögliche. Der fast 1000 Gedichte von 363 Dichtern umfassende Band enthält in seinen Augen zwar nicht ausschließlich Glanzlichter der Lyrik. Aber die opulente Fülle der Anthologie ergibt durchaus Sinn, so Hamm, denn Kirstens Intention sei es gewesen, einen "poetischen Spiegel der Zeitgeschichte" zu schaffen. Hamm hebt den besonderen Stellenwert hervor, den Kirsten der Naturlyrik und der proletarischen Dichtung einräumt. Deutlich wird für ihn auch, wie wenig aus dem Expressionismus heute noch bestehen kann. Etwas schwierig scheint Hamm, dass Kirsten bei Dichtern wie Benn, Brecht, Huchel, Eich, Fried und anderen auf deren stärkste Gedichte verzichtete, weil sie erst nach 1945 erschienen sind. Nichtsdestoweniger würdigt er den Band als "außergewöhnliche" Anthologie, die sich auch deshalb so "aufregend" lese, "weil in ihr so viele verschiedene Idiome vernehmbar sind".

© Perlentaucher Medien GmbH…mehr