Es ist nun schon hundertvierzig Jahre her, daß der liebe Brehm sein "Illustrirtes Thierleben" vorgelegt hat. Die moderne Verhaltensforschung hat mit seinen anthropomorphen Kurzschlüssen gründlich aufgeräumt. Cord Riechelmann folgt weniger unserm Blick auf die Tiere als dem Blick der Tiere auf ihre Welt. Das ist nicht nur lehrreich, es kann auch äußerst amüsant sein. Aber wir lachen nicht über die Tiere; es wäre uns lieber, könnten die Tiere mit uns und über unsere Beobachtungen lachen.
Als Versuchsgelände dient dem Autor der Berliner Zoo, ein Ambiente, das die Illusion der Unmittelbarkeit von vornherein ausschließt.
Dennoch fallen Riechelmann immer wieder Ähnlichkeiten zwischen dem homo sapiens und anderen Arten auf. So, wenn ein Schwarzer Panther mit seiner Pflegerin ums Zu-Bett-Gehen streitet, oder wenn ihn der Tanz des Kranichs an die Arbeiten von Johann Kresnik erinnert. Den rationalistischen Ton der Ethologie konterkariert Riechelmann durch die Bildsprache der Indianer und die Mythen der australischen Aborigines.
Über hundert Arten passieren in diesem Buch Revue; auch mit weniger bekannten Geschöpfen wie dem Dschelada, dem Komodowaran und dem Rennkuckuck kann der Leser Bekanntschaft schließen. Und die herrlichen kolorierten Stiche aus dem 18. Jahrhundert verleihen, mit ihrer rührenden Präzision, dem Band einen Hauch von historischer Tiefe.
Hinweis: Dieser Artikel kann nur an eine deutsche Lieferadresse ausgeliefert werden.
Als Versuchsgelände dient dem Autor der Berliner Zoo, ein Ambiente, das die Illusion der Unmittelbarkeit von vornherein ausschließt.
Dennoch fallen Riechelmann immer wieder Ähnlichkeiten zwischen dem homo sapiens und anderen Arten auf. So, wenn ein Schwarzer Panther mit seiner Pflegerin ums Zu-Bett-Gehen streitet, oder wenn ihn der Tanz des Kranichs an die Arbeiten von Johann Kresnik erinnert. Den rationalistischen Ton der Ethologie konterkariert Riechelmann durch die Bildsprache der Indianer und die Mythen der australischen Aborigines.
Über hundert Arten passieren in diesem Buch Revue; auch mit weniger bekannten Geschöpfen wie dem Dschelada, dem Komodowaran und dem Rennkuckuck kann der Leser Bekanntschaft schließen. Und die herrlichen kolorierten Stiche aus dem 18. Jahrhundert verleihen, mit ihrer rührenden Präzision, dem Band einen Hauch von historischer Tiefe.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.12.2003Hinter tausend Stäben
Gefleckt nach Leopardenart: Cord Riechelmanns Besuch im Zoo
Wenn auch nur annähernd richtig ist, was Cord Riechelmann zu Beginn seines Buches berichtet - woran im Ernst nicht zu zweifeln ist -, dann können, ja müssen nicht nur die Richtlinien der Kulturpolitik geändert werden, dann muß vielmehr auch das gesamte Rezensionswesen neu geordnet werden, in welchem Kunst und Theater bis dato noch immer eine dominierende Rolle spielen. Man lasse sich also auf der Zunge zergehen, was Cord Riechelmann eingangs seines Buches schreibt. Er schreibt da gleich als zweiten Satz den folgenden Satz: In Deutschland ziehen Zoologische Gärten "mehr Menschen an als Museen, Theater und Sportveranstaltungen". Warum dann also so viel öffentliches Theater um Galerien, Bühnen und Fußballplätze, wenn die Leute doch letztlich alle in den Zoo strömen? Warum liest man allenthalben Kunst-, Theater- und Sportkolumnen, aber nirgendwo eine Zookolumne? Nirgendwo? Cord Riechelmann hatte für die Berliner Seiten dieser Zeitung angefangen, das Genre der Zookolumne vom Alpenmurmeltier bis zum Zwergpinguin zu entfalten: "Ich ging einmal in der Woche in den zentral am gleichnamigen Bahnhof gelegenen Zoo oder - wenn möglich im Wechsel - in den 1954 im ehemaligen Ost-Berlin gegründeten Tierpark Friedrichsfelde." Auf den Beobachtungen dort beruhen etliche Texte des nun in Enzensbergers "Anderer Bibliothek" erschienenen Buches "Bestiarium. Der Zoo als Welt - die Welt als Zoo".
Es sind Beobachtungen, die einerseits die literarische Tradition der Naturgeschichtsschreibung fortsetzen - zwanzig einfühlsame Abbildungen aus der im achtzehnten Jahrhundert publizierten "Histoire naturelle génerale et particulière" des Grafen von Buffon unterstreichen Riechelmanns Anspruch auf die feuilletonistische Nachfolge ebendieser Tradition. Andererseits ist die Zeit bei Riechelmann natürlich nicht stehengeblieben. Nicht die anthropomorphen Kurzschlüsse von Brehms "Illustriertem Thierleben", sondern die Befunde der modernen Verhaltensforschung sind für ihn erkenntnisleitend. Wobei die Verhaltensforschung bei dem Biologen und Philosophen Riechelmann durchaus Federn lassen muß. So heißt es etwa über Konrad Lorenz, dessen Versuche, einen Menschen zu zeichnen, hätten immer nur "Strichmännchen" hervorgebracht. Statt mit Lorenz hält es Riechelmann eher mit Michael Tomasello, dem antireduktionistischen Primatenforscher am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie.
Auf beinahe jeder Seite dieses nach Leopardenart schön gefleckten Buches über Eisbär und Esel, Kojote und Kolkrabe, Schleiereule und Schwarzspitzenhai wird deutlich, worum es Riechelmann geht: nicht um die tausend liebevoll geschilderten Putzigkeiten der Fell- und Federtiere als solche, sondern um ihren Abgleich mit uns Menschen. So wie Arnold Gehlen dem Menschen Kontur zu geben verstand, indem er ihn vom Tier her gesehen als Mängelwesen beschrieb, so läßt auch Riechelmann unseren Blick auf die Tiere zu einem Blick der Tiere auf uns werden. In diesem, nicht im Brehm'schen Sinne gilt: Ein Besuch im Zoo ist ein Besuch bei uns selbst.
Riechelmann weiß: Aus der Natur läßt sich im Zweifel alles ableiten. Gleichwohl wagt er es, das dem Menschen Wesentliche an den Fingern einer Hand abzuzählen. Die fünfgliedrige Hand ist ihm Hinweis auf die Unspezialisiertheit unserer Art schon auf der Ebene der Anatomie. "Ohne spezialisiert sein zu müssen", so zitiert er Joseph Beuys, "sind die Hände vielseitig zu gebrauchen, weil sie embryonal sind. Sie sind nicht zu einseitigem Gebrauch hineingezwungen wie die Greife des Adlers oder die Grabschaufeln des Maulwurfs." So sieht Riechelmann hinter tausend Stäben unsere Welt: "Der Mensch ist nicht von den Bäumen auf die Erde herabgestiegen. Als die Orang-Utans und die Gibbons sich auf das Leben in den Bäumen spezialisierten, waren die Entwicklungslinien von Menschen und Menschenaffen bereits getrennt."
Wo waren wir all die Jahre mit unserem Kopf? Warum fanden wir so lange schon nicht mehr den Weg in den Zoo? Riechelmann hat diesem Ort eine Verheißung eingeschrieben. Sein Buch gehört zu den Büchern, die man gerne selbst geschrieben hätte.
CHRISTIAN GEYER
Cord Riechelmann: "Bestiarium". Der Zoo als Welt - die Welt als Zoo. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2003. 351 S., geb., 27,50 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gefleckt nach Leopardenart: Cord Riechelmanns Besuch im Zoo
Wenn auch nur annähernd richtig ist, was Cord Riechelmann zu Beginn seines Buches berichtet - woran im Ernst nicht zu zweifeln ist -, dann können, ja müssen nicht nur die Richtlinien der Kulturpolitik geändert werden, dann muß vielmehr auch das gesamte Rezensionswesen neu geordnet werden, in welchem Kunst und Theater bis dato noch immer eine dominierende Rolle spielen. Man lasse sich also auf der Zunge zergehen, was Cord Riechelmann eingangs seines Buches schreibt. Er schreibt da gleich als zweiten Satz den folgenden Satz: In Deutschland ziehen Zoologische Gärten "mehr Menschen an als Museen, Theater und Sportveranstaltungen". Warum dann also so viel öffentliches Theater um Galerien, Bühnen und Fußballplätze, wenn die Leute doch letztlich alle in den Zoo strömen? Warum liest man allenthalben Kunst-, Theater- und Sportkolumnen, aber nirgendwo eine Zookolumne? Nirgendwo? Cord Riechelmann hatte für die Berliner Seiten dieser Zeitung angefangen, das Genre der Zookolumne vom Alpenmurmeltier bis zum Zwergpinguin zu entfalten: "Ich ging einmal in der Woche in den zentral am gleichnamigen Bahnhof gelegenen Zoo oder - wenn möglich im Wechsel - in den 1954 im ehemaligen Ost-Berlin gegründeten Tierpark Friedrichsfelde." Auf den Beobachtungen dort beruhen etliche Texte des nun in Enzensbergers "Anderer Bibliothek" erschienenen Buches "Bestiarium. Der Zoo als Welt - die Welt als Zoo".
Es sind Beobachtungen, die einerseits die literarische Tradition der Naturgeschichtsschreibung fortsetzen - zwanzig einfühlsame Abbildungen aus der im achtzehnten Jahrhundert publizierten "Histoire naturelle génerale et particulière" des Grafen von Buffon unterstreichen Riechelmanns Anspruch auf die feuilletonistische Nachfolge ebendieser Tradition. Andererseits ist die Zeit bei Riechelmann natürlich nicht stehengeblieben. Nicht die anthropomorphen Kurzschlüsse von Brehms "Illustriertem Thierleben", sondern die Befunde der modernen Verhaltensforschung sind für ihn erkenntnisleitend. Wobei die Verhaltensforschung bei dem Biologen und Philosophen Riechelmann durchaus Federn lassen muß. So heißt es etwa über Konrad Lorenz, dessen Versuche, einen Menschen zu zeichnen, hätten immer nur "Strichmännchen" hervorgebracht. Statt mit Lorenz hält es Riechelmann eher mit Michael Tomasello, dem antireduktionistischen Primatenforscher am Leipziger Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie.
Auf beinahe jeder Seite dieses nach Leopardenart schön gefleckten Buches über Eisbär und Esel, Kojote und Kolkrabe, Schleiereule und Schwarzspitzenhai wird deutlich, worum es Riechelmann geht: nicht um die tausend liebevoll geschilderten Putzigkeiten der Fell- und Federtiere als solche, sondern um ihren Abgleich mit uns Menschen. So wie Arnold Gehlen dem Menschen Kontur zu geben verstand, indem er ihn vom Tier her gesehen als Mängelwesen beschrieb, so läßt auch Riechelmann unseren Blick auf die Tiere zu einem Blick der Tiere auf uns werden. In diesem, nicht im Brehm'schen Sinne gilt: Ein Besuch im Zoo ist ein Besuch bei uns selbst.
Riechelmann weiß: Aus der Natur läßt sich im Zweifel alles ableiten. Gleichwohl wagt er es, das dem Menschen Wesentliche an den Fingern einer Hand abzuzählen. Die fünfgliedrige Hand ist ihm Hinweis auf die Unspezialisiertheit unserer Art schon auf der Ebene der Anatomie. "Ohne spezialisiert sein zu müssen", so zitiert er Joseph Beuys, "sind die Hände vielseitig zu gebrauchen, weil sie embryonal sind. Sie sind nicht zu einseitigem Gebrauch hineingezwungen wie die Greife des Adlers oder die Grabschaufeln des Maulwurfs." So sieht Riechelmann hinter tausend Stäben unsere Welt: "Der Mensch ist nicht von den Bäumen auf die Erde herabgestiegen. Als die Orang-Utans und die Gibbons sich auf das Leben in den Bäumen spezialisierten, waren die Entwicklungslinien von Menschen und Menschenaffen bereits getrennt."
Wo waren wir all die Jahre mit unserem Kopf? Warum fanden wir so lange schon nicht mehr den Weg in den Zoo? Riechelmann hat diesem Ort eine Verheißung eingeschrieben. Sein Buch gehört zu den Büchern, die man gerne selbst geschrieben hätte.
CHRISTIAN GEYER
Cord Riechelmann: "Bestiarium". Der Zoo als Welt - die Welt als Zoo. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2003. 351 S., geb., 27,50 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Ein paar Umwege über Vorläufer dieses Bestiariums macht der Rezensent (Kürzel upj.) und erwähnt den Dichter Franz Blei, der Benn oder Maupassant zoologisch einordnete, ebenso wie Brehms Tierleben. Das Satirische trete in diesem Buch aber durchaus zurück hinter das Zoologische, oder jedenfalls Faktische. So erfahre man nämlich dass der erste Flachlandgorilla im Berliner Zoo 1877 Frankfurter Würstchen und Berliner Weiße zu sich nahm. Ein wohl exemplarischer Eintrag in ein Buch, dem der Rezensent mit offenkundigem Wohlwollen gegenübersteht und das er resümiert wie folgt: "Ein Buch, das nicht nützlich, aber notwendig ist."
© Perlentaucher Medien GmbH
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