DIE SPANNENDE BIOGRAPHIE EINES DER GRÖSSTEN WERKE DER WELTLITERATUR
Mehr als die Bibel hat Dantes Göttliche Komödie unsere Vorstellung von Hölle und Paradies geprägt. Wie konnte ein Werk italienischer Sprache aus dem 14. Jahrhundert, das schon Zeitgenossen nur mit Hilfe von Kommentaren entschlüsselten, ein globales Kulturgut werden? Wie gelangte etwa Dantes Herrscher der Hölle, Luzifer, in japanische Manga? Die Romanistin Franziska Meier folgt der verschlungenen Geschichte dieses Jahrtausendbuchs, an dessen Ruhm nur Homers Odyssee und Shakespeares Dramen heranreichen.
Wie kommt es, dass ein 700 Jahre altes Buch so vielen Menschen ein Begriff ist, obwohl es nur die wenigsten gelesen haben? Auch Bücher haben ein mitunter langes Leben. Der Erfolg der Göttlichen Komödie allerdings war und ist im höchsten Maße unwahrscheinlich. Dantes Dichtung ist im Grunde unübersetzbar, dennoch liegt die Commedia inzwischen selbst in den entlegensten Sprachen vor. Szenen und Bilder des noch ganz dem mittelalterlichen Weltbild entstammenden Werkes, namentlich der Besuch in der Hölle, wurden immer wieder umgedeutet und so kreativ weitergesponnen, dass vom Original manchmal wenig übrigblieb. Für Europa wurde dieses Jahrtausendbuch zur Blaupause. Und Dichtern aus früheren Kolonien diente das im Exil verfasste Werk als Modell, um über das ihnen zugefügte Leid zu schreiben. Franziska Meier geht den überraschenden Lebensspuren der Commedia nach, die sie um die ganze Welt führen.
Die weltweite Wirkungsgeschichte der Divina Commedia
Dantes Werk prägt unsere Vorstellungen von Paradies und Hölle bis heute
Mehr als die Bibel hat Dantes Göttliche Komödie unsere Vorstellung von Hölle und Paradies geprägt. Wie konnte ein Werk italienischer Sprache aus dem 14. Jahrhundert, das schon Zeitgenossen nur mit Hilfe von Kommentaren entschlüsselten, ein globales Kulturgut werden? Wie gelangte etwa Dantes Herrscher der Hölle, Luzifer, in japanische Manga? Die Romanistin Franziska Meier folgt der verschlungenen Geschichte dieses Jahrtausendbuchs, an dessen Ruhm nur Homers Odyssee und Shakespeares Dramen heranreichen.
Wie kommt es, dass ein 700 Jahre altes Buch so vielen Menschen ein Begriff ist, obwohl es nur die wenigsten gelesen haben? Auch Bücher haben ein mitunter langes Leben. Der Erfolg der Göttlichen Komödie allerdings war und ist im höchsten Maße unwahrscheinlich. Dantes Dichtung ist im Grunde unübersetzbar, dennoch liegt die Commedia inzwischen selbst in den entlegensten Sprachen vor. Szenen und Bilder des noch ganz dem mittelalterlichen Weltbild entstammenden Werkes, namentlich der Besuch in der Hölle, wurden immer wieder umgedeutet und so kreativ weitergesponnen, dass vom Original manchmal wenig übrigblieb. Für Europa wurde dieses Jahrtausendbuch zur Blaupause. Und Dichtern aus früheren Kolonien diente das im Exil verfasste Werk als Modell, um über das ihnen zugefügte Leid zu schreiben. Franziska Meier geht den überraschenden Lebensspuren der Commedia nach, die sie um die ganze Welt führen.
Die weltweite Wirkungsgeschichte der Divina Commedia
Dantes Werk prägt unsere Vorstellungen von Paradies und Hölle bis heute
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Niklas Bender erkennt die ungebrochene Gültigkeit von Dantes "Göttlicher Komödie" in dieser Rezeptionsgeschichte der Romanistin Franziska Meier. In vierzehn Kapiteln nimmt ihn die Autorin mit auf eine flüssig erzählte Reise durch Literatur und Kunst, begonnen in der italienischen Renaissance über die avantgardistische Moderne bis in die Gegenwart. Der Kritiker erfährt von Voltaires Abneigungen gegenüber der Commedia, betrachtet Rodins Bearbeitung des Stoffes, liest mit besonderem Interesse von den Dante-Bezügen in Darstellungen der Konzentrationslager, etwa bei Primo Levi oder Martin Walser und freut sich, dass Meier auch die Dante-Rezeption in Computerspielen und Mangas nicht ausspart. Gern hätte Bender zwar noch ein wenig mehr darüber erfahren, welche Aspekte der Komödie in der Rezeption besonders hervorgehoben wurden. Dennoch empfiehlt er den Band nachdrücklich als Werk von "intellektueller Prägnanz" und "informativer Weitläufigkeit".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 15.07.2021Verse, die wie Pfauen kreischen
Seine Epoche war eine brennende Gegenwart, 700 Jahre nach Dante Alighieris Tod ist sie erklärungsbedürftig.
Wie also soll man ihn lesen? Antworten geben die Dichter, als erster Giovanni Boccaccio
VON GUSTAV SEIBT
Ausgerechnet T. S. Eliot, der imstande war, seine eigenen Gedichte mit gelehrten Fußnoten zu begleiten, riet dazu, Dante ohne Vorwissen zu lesen. Er bestritt eine primäre Unzugänglichkeit, und zu Recht. Eine Jenseitsreise mit wilden Bergschluchten, Folterszenen, Flugobjekten, die am Ende in eine lichtdurchflutete Odyssee im Weltraum mündet, voller kreisender Musik in sich steigernden Kettenreimen; all das vorgetragen in Sprachbildern, die das ganze Register der Poesie ziehen, vom schlichten Vergleich bis zur ausgearbeiteten Allegorie – das hat eine unmittelbare Wucht, die sich auch noch in Übersetzungen mitteilt.
Jorge Luis Borges berichtete, wie er die „Göttliche Komödie“ auf dem Weg zur Arbeit las und wie gut die harte Fügung vieler Verse zum Geratter der Straßenbahn passte: Dante muss man auch laut lesen, mit dem Körper aufnehmen. Wenn man etwas vor der „Commedia“ lesen sollte, dann solche Texte, am besten Ossip Mandelstams „Gespräch über Dante“, das sich nicht mit Theologie und Philosophie aufhält, sondern die Sinne schärft für Dantes Sprachbilder – das „Gespräch“ des russischen Dichters ist eine Vorschule, die das Vergnügen am Text vor vornherein auf seine sinnliche Schönheit lenkt.
Ist man erst einmal drin, beginnt das fragende Staunen früh genug – weniger nach den historischen Einzelheiten, denn dass Dante als Zeitgenosse des frühen 14. Jahrhunderts seine Mitwelt einer umfassenden moralischen Prüfung unterzieht, das ist nicht schwer zu begreifen. Der Leser betritt nicht nur das Jenseits, sondern eine vergangene Epoche, die einmal brennende Gegenwart war. Das ist erläuterungsbedürftig, aber nicht rätselhaft. Kommentare gibt es zuhauf, auch in deutscher Sprache. Als erste Einführung eignet sich Kurt Flaschs „Einladung, Dante zu lesen“, die es als Fischer-Taschenbuch gibt.
Staunenerregend mag dem denkenden Leser jedoch die gesamte Anlage des Großgedichts vorkommen: Da behauptet ein Ich-Erzähler einer vergangenen, historisch präzise bestimmten Gegenwart, er sei selbst Mitwisser der göttlichen Gerechtigkeit, der Zumessung von Strafe und Seligkeit geworden, ja er habe das irdische Paradies und dann den Himmel erreicht bis kurz vor die Anschauung Gottes, bei der die Worte dann vielsagend versagen. Und der Dichter tut das nicht in der gelehrten Sprache der Tradition und der Heiligen Bücher der herrschenden Religion, also dem Lateinischen, sondern in einer jungen Volkssprache, in der seit kaum drei Generationen überhaupt gedichtet wurde – in der Sprache der jungen Städte mit ihren Märkten und Plätzen, ihren Kaufverträgen und den Predigten der Bettelorden, im dichterischen Idiom von populären Liebesliedern.
Was für eine Anmaßung! Überhaupt: Wer war vor Dante in die Unterwelt gekommen und wieder zurückgekehrt? Höchstens zwei oder drei Personen, der Trojaner Aeneas, der aber nur zum Eingang kam, danach Christus und der Apostel Paulus. Hier eine zeitgenössische Nachfolge zu behaupten – zu erfinden? –, das war das Maximum an Kühnheit, das Poesie in der Welt um 1300 sich herausnehmen konnte. Selten, vielleicht nie, hat eine neue Dichtungssprache, denn das ist das Italienisch von Dante, mit einem solchen Anspruch die Szene betreten.
Diesen ursprünglichen Schock wiederherzustellen, das schafft auch der gelehrteste Kommentar nicht. Helfen können jedoch frühe Zeugnisse der Rezeption. Umso erfreulicher ist es, dass nun zum 700. Todestag des Dichters eine neue Übersetzung der bedeutendsten dieser frühen gedanklichen Sortierungen erscheint. Giovanni Boccaccio hat sie geschrieben, Dantes weltlicherer Nachfolger, der Erzähler des
„Decamerone“, vermutlich ein halbes Jahrhundert nach dessen Tod. Das kleine, oft als Biografie („Vita“) rubrizierte Buch bezeichnet sich selbst als „Trattatello in laude di Dante“, als kleine Abhandlung zum Lobpreis – man ist versucht, sie „Essay“ zu nennen.
Eine Biografie enthält sie auch, Lebensumstände, Familienhintergründe, die Geschichte von politischem Streit in Florenz mit nachfolgendem Exil, die langwierige Entstehung von Dantes Werken. Doch ihr Zentrum ist die Rechtfertigung und Begründung von Dantes Vorgehen als Dichter mit kosmologischem, welterschließendem und theologischem Anspruch. Dante leitet die prophetische Funktion der Dichtung aus der Antike ab, der Zeit vor der christlichen Offenbarung. Der Heilige Geist wirkte weissagend schon in Priestern und Dichtern, die von der Regelmäßigkeit der Gestirne auf die Existenz einer ordnenden Gottheit schlossen und diese in Tempeln, Kulten und heiligen Gesängen verehrten.
Der Heilige Geist verkündete also von Anfang an der Nachwelt seine Geheimnisse durch den Mund von Propheten. Ihnen eiferten die Dichter nach, die unter dem Schleier von „Erfindungen“ (fizioni), also in uneigentlicher Rede, „beschrieben, was gewesen ist, was zu ihrer Zeit vorfiel, was sie sich wünschten oder sie sich für die Zukunft vorstellten. Auch wenn heilige Bücher ein anderes Ziel verfolgen als weltliche, sind sie in ihrem Vorgehen gleich“, sagt Boccaccio in der zentralen Passage. „Sacra scrittura“ und „poetica scrittura“ offenbaren gleichermaßen die unter ihnen liegenden Mysterien.
Wie das konkret zu verstehen ist, erklärt Boccaccio sogleich an einem Beispiel. Der Heilige Geist habe mit dem grünen Dornbusch, in dessen Flamme Moses Gott erkannte, auf die Jungfräulichkeit Marias hinweisen wollen, durch die der Herr (Jesus) in die Natur trat. Das beeindruckende Naturbild hat einen heilsgeschichtlichen Hintersinn. Damit wird Dichtung, ihre Metaphorik, ihre Vielsinnigkeit ermächtigt zur Welterschließung, zum Wissen vom Göttlichen.
Die Übersetzung von Moritz Rauchhaus ist gut lesbar, vielleicht unterschätzt sie gelegentlich die terminologische Strenge von Boccaccios Abhandlung. Aber warum in aller Welt gendert sie? Wir könnten als „Schülerinnen und Schüler“ der Heiligen Schrift zur Seligkeit gelangen, sagt der Übersetzer, wo im Original nur „noi ammaestrati“ steht. Warum schrieb Dante in der Volkssprache, fragt Boccaccio, und der Übersetzer sagt, dass er dadurch „seinen Mitbürgern und den anderen Italienierinnen und Italienern dienlich sein wollte“, so als ginge es um eine Rede für den italienischen Staatspräsidenten. Im Original steht aber nur „agli altri italiani“.
Hinter den Fragen nach Adressatenbezug, Schrift- und Lateinkenntnis von Frauen im Mittelalter steht ein Gebirge von Forschung. Nichts ist hier selbstverständlich. Und gerade weil Boccaccio sein Hauptwerk, das „Decamerone“, ausdrücklich an Frauen richtete und dies auch als dessen Eigentümlichkeit inszenierte, verbietet sich die Anpassung des Wortlauts an heutige Usancen an anderer Stelle, zumal in einem Zusammenhang, in dem von der vielsinnigen Hintergründigkeit von Wörtern die Rede ist. Den Schritt vom generischen Maskulinum zur Ausbuchstabierung der Geschlechter tut Boccaccio von Fall zu Fall selbst, da sollte heutiger Übereifer nicht vorpreschen, denn damit würden historisch neugierige Leserinnen bevormundet.
Die Dante-Rezeption, die im nichtitalienischen Europa erst mit der Romantik so recht an Fahrt gewann, zeigt eine Kette von staunenden Überwältigungen, übrigens auch in der Abstoßung, so bei Goethe, dessen kurzer Übersetzungsversuch alles Vorangehende in den Schatten stellt, der Dante im „Faust“ zitierte und der ihn doch nicht mochte. Über Franziska Meiers Darstellung dieser Rezeptionsgeschichte kann man viel Gutes sagen: Sie ist knapp und doch reichhaltig, sie bezieht die Populärkultur (etwa Computerspiele) und außereuropäische Literaturen bis in die Karibik und China ein, sie setzt zu Recht den Schwerpunkt aufs 20. Jahrhundert, in dem Dante zum Stichwortgeber für ein Zeitalter der Angst produktiv wurde. Wer eine zum Weiterlesen anregende Liste sucht, hier ist sie.
Doch der Untertitel „Biographie eines Jahrtausendbuchs“ verspricht das Falsche, denn das Buch bietet gerade keine historisch-genetische Darstellung. Diese müsste sich um die Achse der Romantik um 1800 drehen, als Poesie und Religion historisiert wurden, und damit den Bogen zurück zu der von Boccaccio umrissenen Schwellensituation schlagen. Aber Meiers Buch ist eine lockere Abfolge von Kapiteln, die sich chronologisch oft überschneiden und eher thematisch sortiert sind. Alles Wichtige kommt irgendwie vor, doch es wäre überzeugender, anregender, wenn die Autorin mehr zitieren und weniger paraphrasieren würde. Die unendlich variable Dante-Rezeption wird katalogisiert, aber ihr Glanz kommt nicht zum Funkeln – was hätten hier schon ein paar Zitate aus Borges bewirken können!
Boccaccio lässt sein kleines Buch enden mit einem prophetischen Traum von Dantes Mutter vor dessen Geburt. Da sei ihr anstelle des Kindes auf einmal ein Pfau erschienen. Warum ein Pfau? Das erklärt Boccaccio dann in einer ausführlichen Allegorese, in der auch die hässliche Stimme des Pfaus ihren Platz bekommt. Dieses Pfauenkreischen ist eine Vorwegnahme von Dantes „orribilità“, der Grausamkeit, mit der er die Sünder und ihre Strafen in der Hölle beschreibt. Die Ästhetik des Hässlichen um 1370! Die Göttliche Komödie ist eine Kette von Erleuchtungen, der die Rezeption mit immer neuen Überraschungen antwortet.
In die Unterwelt reisen und in der
jungen Volkssprache davon
erzählen, was für eine Anmaßung
Giovanni Boccaccio:
Büchlein zum Lobe
Dantes. Aus dem
Italienischen von Moritz Rauchhaus. Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2021.
109 Seiten, 12 Euro.
Franziska Meier:
Besuch in der Hölle. Dantes Göttliche
Komödie. Biographie eines Jahrtausendbuchs.
C.H. Beck, München 2021.
214 Seiten, 26,00 Euro.
„Bevor denn eure Spieße mich ergreifen, / tret’ einer vor und höre mich erst an, / und dann beratet, ob ihr mich zerzaust!“, hält Dantes Jenseitsführer Vergil in Canto XXI des „Inferno“ den Teufeln entgegen, die über einem See aus Pech wachen. Darin schmoren bestechliche Beamte.
Foto: imago/Leemage
Früher Dante-Leser Giovanni Bocaccio (1313-1375).
Foto: mauritius / Alamy / BTEU
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Seine Epoche war eine brennende Gegenwart, 700 Jahre nach Dante Alighieris Tod ist sie erklärungsbedürftig.
Wie also soll man ihn lesen? Antworten geben die Dichter, als erster Giovanni Boccaccio
VON GUSTAV SEIBT
Ausgerechnet T. S. Eliot, der imstande war, seine eigenen Gedichte mit gelehrten Fußnoten zu begleiten, riet dazu, Dante ohne Vorwissen zu lesen. Er bestritt eine primäre Unzugänglichkeit, und zu Recht. Eine Jenseitsreise mit wilden Bergschluchten, Folterszenen, Flugobjekten, die am Ende in eine lichtdurchflutete Odyssee im Weltraum mündet, voller kreisender Musik in sich steigernden Kettenreimen; all das vorgetragen in Sprachbildern, die das ganze Register der Poesie ziehen, vom schlichten Vergleich bis zur ausgearbeiteten Allegorie – das hat eine unmittelbare Wucht, die sich auch noch in Übersetzungen mitteilt.
Jorge Luis Borges berichtete, wie er die „Göttliche Komödie“ auf dem Weg zur Arbeit las und wie gut die harte Fügung vieler Verse zum Geratter der Straßenbahn passte: Dante muss man auch laut lesen, mit dem Körper aufnehmen. Wenn man etwas vor der „Commedia“ lesen sollte, dann solche Texte, am besten Ossip Mandelstams „Gespräch über Dante“, das sich nicht mit Theologie und Philosophie aufhält, sondern die Sinne schärft für Dantes Sprachbilder – das „Gespräch“ des russischen Dichters ist eine Vorschule, die das Vergnügen am Text vor vornherein auf seine sinnliche Schönheit lenkt.
Ist man erst einmal drin, beginnt das fragende Staunen früh genug – weniger nach den historischen Einzelheiten, denn dass Dante als Zeitgenosse des frühen 14. Jahrhunderts seine Mitwelt einer umfassenden moralischen Prüfung unterzieht, das ist nicht schwer zu begreifen. Der Leser betritt nicht nur das Jenseits, sondern eine vergangene Epoche, die einmal brennende Gegenwart war. Das ist erläuterungsbedürftig, aber nicht rätselhaft. Kommentare gibt es zuhauf, auch in deutscher Sprache. Als erste Einführung eignet sich Kurt Flaschs „Einladung, Dante zu lesen“, die es als Fischer-Taschenbuch gibt.
Staunenerregend mag dem denkenden Leser jedoch die gesamte Anlage des Großgedichts vorkommen: Da behauptet ein Ich-Erzähler einer vergangenen, historisch präzise bestimmten Gegenwart, er sei selbst Mitwisser der göttlichen Gerechtigkeit, der Zumessung von Strafe und Seligkeit geworden, ja er habe das irdische Paradies und dann den Himmel erreicht bis kurz vor die Anschauung Gottes, bei der die Worte dann vielsagend versagen. Und der Dichter tut das nicht in der gelehrten Sprache der Tradition und der Heiligen Bücher der herrschenden Religion, also dem Lateinischen, sondern in einer jungen Volkssprache, in der seit kaum drei Generationen überhaupt gedichtet wurde – in der Sprache der jungen Städte mit ihren Märkten und Plätzen, ihren Kaufverträgen und den Predigten der Bettelorden, im dichterischen Idiom von populären Liebesliedern.
Was für eine Anmaßung! Überhaupt: Wer war vor Dante in die Unterwelt gekommen und wieder zurückgekehrt? Höchstens zwei oder drei Personen, der Trojaner Aeneas, der aber nur zum Eingang kam, danach Christus und der Apostel Paulus. Hier eine zeitgenössische Nachfolge zu behaupten – zu erfinden? –, das war das Maximum an Kühnheit, das Poesie in der Welt um 1300 sich herausnehmen konnte. Selten, vielleicht nie, hat eine neue Dichtungssprache, denn das ist das Italienisch von Dante, mit einem solchen Anspruch die Szene betreten.
Diesen ursprünglichen Schock wiederherzustellen, das schafft auch der gelehrteste Kommentar nicht. Helfen können jedoch frühe Zeugnisse der Rezeption. Umso erfreulicher ist es, dass nun zum 700. Todestag des Dichters eine neue Übersetzung der bedeutendsten dieser frühen gedanklichen Sortierungen erscheint. Giovanni Boccaccio hat sie geschrieben, Dantes weltlicherer Nachfolger, der Erzähler des
„Decamerone“, vermutlich ein halbes Jahrhundert nach dessen Tod. Das kleine, oft als Biografie („Vita“) rubrizierte Buch bezeichnet sich selbst als „Trattatello in laude di Dante“, als kleine Abhandlung zum Lobpreis – man ist versucht, sie „Essay“ zu nennen.
Eine Biografie enthält sie auch, Lebensumstände, Familienhintergründe, die Geschichte von politischem Streit in Florenz mit nachfolgendem Exil, die langwierige Entstehung von Dantes Werken. Doch ihr Zentrum ist die Rechtfertigung und Begründung von Dantes Vorgehen als Dichter mit kosmologischem, welterschließendem und theologischem Anspruch. Dante leitet die prophetische Funktion der Dichtung aus der Antike ab, der Zeit vor der christlichen Offenbarung. Der Heilige Geist wirkte weissagend schon in Priestern und Dichtern, die von der Regelmäßigkeit der Gestirne auf die Existenz einer ordnenden Gottheit schlossen und diese in Tempeln, Kulten und heiligen Gesängen verehrten.
Der Heilige Geist verkündete also von Anfang an der Nachwelt seine Geheimnisse durch den Mund von Propheten. Ihnen eiferten die Dichter nach, die unter dem Schleier von „Erfindungen“ (fizioni), also in uneigentlicher Rede, „beschrieben, was gewesen ist, was zu ihrer Zeit vorfiel, was sie sich wünschten oder sie sich für die Zukunft vorstellten. Auch wenn heilige Bücher ein anderes Ziel verfolgen als weltliche, sind sie in ihrem Vorgehen gleich“, sagt Boccaccio in der zentralen Passage. „Sacra scrittura“ und „poetica scrittura“ offenbaren gleichermaßen die unter ihnen liegenden Mysterien.
Wie das konkret zu verstehen ist, erklärt Boccaccio sogleich an einem Beispiel. Der Heilige Geist habe mit dem grünen Dornbusch, in dessen Flamme Moses Gott erkannte, auf die Jungfräulichkeit Marias hinweisen wollen, durch die der Herr (Jesus) in die Natur trat. Das beeindruckende Naturbild hat einen heilsgeschichtlichen Hintersinn. Damit wird Dichtung, ihre Metaphorik, ihre Vielsinnigkeit ermächtigt zur Welterschließung, zum Wissen vom Göttlichen.
Die Übersetzung von Moritz Rauchhaus ist gut lesbar, vielleicht unterschätzt sie gelegentlich die terminologische Strenge von Boccaccios Abhandlung. Aber warum in aller Welt gendert sie? Wir könnten als „Schülerinnen und Schüler“ der Heiligen Schrift zur Seligkeit gelangen, sagt der Übersetzer, wo im Original nur „noi ammaestrati“ steht. Warum schrieb Dante in der Volkssprache, fragt Boccaccio, und der Übersetzer sagt, dass er dadurch „seinen Mitbürgern und den anderen Italienierinnen und Italienern dienlich sein wollte“, so als ginge es um eine Rede für den italienischen Staatspräsidenten. Im Original steht aber nur „agli altri italiani“.
Hinter den Fragen nach Adressatenbezug, Schrift- und Lateinkenntnis von Frauen im Mittelalter steht ein Gebirge von Forschung. Nichts ist hier selbstverständlich. Und gerade weil Boccaccio sein Hauptwerk, das „Decamerone“, ausdrücklich an Frauen richtete und dies auch als dessen Eigentümlichkeit inszenierte, verbietet sich die Anpassung des Wortlauts an heutige Usancen an anderer Stelle, zumal in einem Zusammenhang, in dem von der vielsinnigen Hintergründigkeit von Wörtern die Rede ist. Den Schritt vom generischen Maskulinum zur Ausbuchstabierung der Geschlechter tut Boccaccio von Fall zu Fall selbst, da sollte heutiger Übereifer nicht vorpreschen, denn damit würden historisch neugierige Leserinnen bevormundet.
Die Dante-Rezeption, die im nichtitalienischen Europa erst mit der Romantik so recht an Fahrt gewann, zeigt eine Kette von staunenden Überwältigungen, übrigens auch in der Abstoßung, so bei Goethe, dessen kurzer Übersetzungsversuch alles Vorangehende in den Schatten stellt, der Dante im „Faust“ zitierte und der ihn doch nicht mochte. Über Franziska Meiers Darstellung dieser Rezeptionsgeschichte kann man viel Gutes sagen: Sie ist knapp und doch reichhaltig, sie bezieht die Populärkultur (etwa Computerspiele) und außereuropäische Literaturen bis in die Karibik und China ein, sie setzt zu Recht den Schwerpunkt aufs 20. Jahrhundert, in dem Dante zum Stichwortgeber für ein Zeitalter der Angst produktiv wurde. Wer eine zum Weiterlesen anregende Liste sucht, hier ist sie.
Doch der Untertitel „Biographie eines Jahrtausendbuchs“ verspricht das Falsche, denn das Buch bietet gerade keine historisch-genetische Darstellung. Diese müsste sich um die Achse der Romantik um 1800 drehen, als Poesie und Religion historisiert wurden, und damit den Bogen zurück zu der von Boccaccio umrissenen Schwellensituation schlagen. Aber Meiers Buch ist eine lockere Abfolge von Kapiteln, die sich chronologisch oft überschneiden und eher thematisch sortiert sind. Alles Wichtige kommt irgendwie vor, doch es wäre überzeugender, anregender, wenn die Autorin mehr zitieren und weniger paraphrasieren würde. Die unendlich variable Dante-Rezeption wird katalogisiert, aber ihr Glanz kommt nicht zum Funkeln – was hätten hier schon ein paar Zitate aus Borges bewirken können!
Boccaccio lässt sein kleines Buch enden mit einem prophetischen Traum von Dantes Mutter vor dessen Geburt. Da sei ihr anstelle des Kindes auf einmal ein Pfau erschienen. Warum ein Pfau? Das erklärt Boccaccio dann in einer ausführlichen Allegorese, in der auch die hässliche Stimme des Pfaus ihren Platz bekommt. Dieses Pfauenkreischen ist eine Vorwegnahme von Dantes „orribilità“, der Grausamkeit, mit der er die Sünder und ihre Strafen in der Hölle beschreibt. Die Ästhetik des Hässlichen um 1370! Die Göttliche Komödie ist eine Kette von Erleuchtungen, der die Rezeption mit immer neuen Überraschungen antwortet.
In die Unterwelt reisen und in der
jungen Volkssprache davon
erzählen, was für eine Anmaßung
Giovanni Boccaccio:
Büchlein zum Lobe
Dantes. Aus dem
Italienischen von Moritz Rauchhaus. Verlag Das kulturelle Gedächtnis, Berlin 2021.
109 Seiten, 12 Euro.
Franziska Meier:
Besuch in der Hölle. Dantes Göttliche
Komödie. Biographie eines Jahrtausendbuchs.
C.H. Beck, München 2021.
214 Seiten, 26,00 Euro.
„Bevor denn eure Spieße mich ergreifen, / tret’ einer vor und höre mich erst an, / und dann beratet, ob ihr mich zerzaust!“, hält Dantes Jenseitsführer Vergil in Canto XXI des „Inferno“ den Teufeln entgegen, die über einem See aus Pech wachen. Darin schmoren bestechliche Beamte.
Foto: imago/Leemage
Früher Dante-Leser Giovanni Bocaccio (1313-1375).
Foto: mauritius / Alamy / BTEU
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